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Die Waldelfe

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Die Fleischtheke im Supermarkt ist für mich oft ein Quell der Freude. Manchmal komme ich mir vor wie bei einem Theaterbesuch, wobei hier natürlich nur Einakter aufgeführt werden.

Neulich stand eine Dame neben mir, die ganz in maigrünen Filz gehüllt war. Ein knielanges maigrünes Röckchen, verziert mit einer Stickerei, dazu eine passende maigrüne Jacke mit Filzrüschen. Die langen grauen Haare zierte ein Hütchen à la Robin Hood, natürlich ebenfalls in, na? Maigrün, natürlich. Nur die geringelten Kniestrümpfe, die waren lila. Gut, kann man tragen, wenn man zum Beispiel eine Waldelfe ist.

Es war erstaunlicherweise ziemlich leer, als ich an die Theke trat, denn wir schrieben den 23. Dezember. Ich hatte mit mehr Andrang gerechnet. Dennoch, bis ich mein Fleisch für das Weihnachtsfest in den Händen hielt, das dauerte …

Vor der Theke: die Waldelfe.

Dahinter: ein Metzger und eine Auszubildende.

Der Metzger legt gerade, als ich an die Theke trete, ein dunkelrotes, gut abgehangenes Stück Fleisch auf die Waage. Die zeigt 675 g und den Preis an: EUR 33,68. Ich vermute, dass es sich dabei um ein Filetstück z.B. vom Hirsch oder Reh handelt. Ich vermute ferner, dass die Dame in Maigrün schon etwas länger das Verkaufspersonal beschäftigt, denn auf der Arbeitsplatte liegt bereits eine geöffnete Papiertüte, die geduldig der Aufnahme des weihnachtlichen Festtagsbratens harrt.

Die Waldelfe (wird blass, als sie auf die digitale Anzeige der Waage schaut): „Können Sie mir sagen, um wie viel Prozent das Stück einläuft, wenn ich es brate?“

Der Metzger: „Dafür sind einige Faktoren ausschlaggebend. Wie heiß braten Sie das Fleisch denn an? Welche Garmethode verwenden Sie? Stechen Sie zwischendurch mit einer Gabel hinein? Also, so genau kann man das nicht sagen, aber etwas wird das Fleischstück mit Sicherheit schrumpfen.“

Die Waldelfe (schon ein wenig verzweifelt): „Aber es muss doch Richtwerte geben …“

Ich überlege derweil, ob die EU tatsächlich Normen zur maximalen Schrumpelung von Hirschfilet herausgegeben hat, z.B. eine „Wild- und Wildgeflügel-Einschrumpf-Verordnung“. Zuzutrauen wäre es ihr schon.

Der Metzger (sehr freundlich): „Nein, Richtwerte gibt es dafür nicht. Das ist bei jedem Fleischstück anders.“

Die Waldelfe: „Haben Sie noch ein anderes Stück Fleisch, vielleicht etwas kleiner?“


Sie zeigt mit Daumen und Zeigefinger ungefähr eine Spanne von 15 cm an.

Der Metzger schickt, ohne mit der Wimper zu zucken, die Auszubildende nach hinten. Die rückt zügig mit einem neuen, kleineren Filetstück an und legt dieses auf die Waage: 350 g zu 17,47 EUR.

Die Waldelfe (bemüht, die Fassung zu wahren): „Und um wie viel Prozent schrumpft dieses Stück denn? Wissen Sie, ich brate es für sechs Personen.“

Mittlerweile hat sich hinter mir eine Schlange von ungeduldig wartenden Kunden gebildet. Um das festzustellen, brauche ich mich noch nicht einmal umzudrehen, denn ich spüre einen Einkaufswagen in meinem Kreuz. Ungeachtet dessen rattern meine kleinen grauen Zellen.

350 g für sechs Personen, das sind noch nicht mal 60 g pro Person. Eine Portion Filetsteak sollte schon mindestens 160 g auf die Waage bringen. Oder macht sie vielleicht Carpaccio daraus? Nein, Carpaccio ist roh und die Waldschnepfe wollte das Fleisch ja braten. Warum kauft sie nicht einfach gemischtes Hackfleisch und bastelt daraus einen „faked bunny“, also einen Falschen Hasen? Der wäre bedeutend billiger und ich käme endlich an die Reihe.

Der Metzger (immer noch sehr freundlich und geduldig): „Wie gesagt, das kann man vorher nicht berechnen. Aber ein wenig kleiner wird es schon werden.“

Er hält das Stück Fleisch abwartend in der Hand und wartet auf das Okay der Waldschnepfe. Die wiederum scheint die Blicke der anderen Kunden zu spüren, die auf sie gerichtet sind. Noch so ein paar blöde Fragen, so scheinen sie zu sagen, und du wirst diesen Laden mit einem Schrumpfkopf verlassen.

Die Waldschnepfe (schon ein wenig ungeduldig): „Aber als Fleischer müssten Sie doch genau wissen, um wie viel Prozent so ein Filetstück an Gewicht verliert, wenn man es brät!“

Der Metzger (hebt bedauernd die Schultern): „Nein, tut mir leid.“

Die Dame in Grün seufzt auf, beugt leicht den Oberkörper nach vorne und blickt auf die Hand des Metzgers. Man spürt, sie hadert mit sich und dem Fleisch. Ich vermute, sie hat ihre Gäste zum „Hirschfilet á la Waldschnepfe“ eingeladen und überlegt, wie sie das ohne größere Investitionskosten über die Bühne bringen kann. Oder sie plant ein „Amuse Gueule vom Hirschfilet an maigrünem Salat“. Dann gibt es wahrscheinlich Pellkartoffeln mit Quark zum Hauptgang und Arme Ritter als Nachtisch.

Hinter mir machen einige Kunden ihrem Unmut Luft. Und auch ich trete von einem Fuß auf den anderen. Dann, plötzlich, fällt die Entscheidung:

Die Waldschnepfe: „Ich nehme das Stück. Die meisten Leute sind ja heute sowieso Vegetarier!“

Man sieht dem Metzger die Erleichterung an. Ganz fix wiegt er das Fleisch, packt es ein und klebt ein Etikett auf das Päckchen.

Fast unhörbar nuschelt er: „Sonst noch etwas?“

Ich drehe mich um. Die Schlange der wartenden Einkaufswagen reicht fast bis zum Ausgang.

Die Waldschnepfe: „Ich überlege gerade …“

Der Mob wird lauter, man zischt Unflätiges, Fäuste recken sich gen Himmel. Die Dame in Maigrün lässt das völlig kalt.

Dann, endlich, hat die Waldschnepfe sich entschieden: „Nein, das war´s.“

Sie zieht weiter zur Käsetheke.

Hinter mir ertönt ein „Halleluja“, das „Halleluja“ von Händel, wildfremde Menschen liegen sich vor Erleichterung in den Armen.

Und ich sehe zu, dass ich schnell, aber ganz schnell, meinen Krustenbraten einsacke, bevor die Stimmung wieder kippt …

Zeus kauft ein

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