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3.

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Am Einsatzort wurden die Ermittler bereits erwartet. Ein silberfarbener Minibus mit Grazer Kfz-Kennzeichen und ein Streifenwagen standen vor dem Polizei-Absperrband, das die Brandruine vor gleichwohl unerlaubten wie gefährlichen Zutritten absicherte.

Der Boden war an dieser Stelle spiegelglatt, stellte Sandra fest, als sie den Wagen abbremste. Anscheinend hatte die Feuerwehr mit Streusalz gespart.

Bergmann erstarrte mit schreckgeweiteten Augen, während Sandra den rutschenden Wagen abfing und rechtzeitig vor dem Flatterband zu stehen kam. »Meine Nerven«, beschwerte er sich und blies Luft aus.

»Geh bitte …« Sandra war in den Bergen aufgewachsen, hatte dort ihren Führerschein gemacht und kam entsprechend gut mit winterlichen Straßenverhältnissen zurecht. Im Gegensatz zu Bergmann, der ein hundsmiserabler Autofahrer war und es tunlichst vermied, sich hinters Steuer zu setzen. Lieber ließ er sich von ihr herumkutschieren. Noch dazu war sein Orientierungssinn unterentwickelt. Seine Ortskenntnisse in der Steiermark sowieso.

Im Licht der Autoscheinwerfer erkannte Sandra, dass das gemauerte Erdgeschoß dem Feuer einigermaßen standgehalten hatte. Das Dach und die ortsüblichen Holzelemente des Hauses wie die Fassade, Veranden, Balkone und das Obergeschoß waren ein Raub der Flammen geworden. Ebenso der angrenzende Schuppen. Oder war das eine Garage gewesen? So genau ließ sich das im Dunkeln nicht feststellen.

Unwillkürlich kam Sandra die Brandleiche im Vulkanland in den Sinn. Der Anblick des verkohlten Körpers mit den abgespreizten Armen und den angewinkelten Beinen hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Fechterstellung nannten die Mediziner diese Haltung, die durch die hitzebedingte Schrumpfung der Muskeln und Sehnen zustande kam. Die Oberhaut platzte auf, was den typischen Eindruck von Schnittverletzungen bei Brandopfern hinterließ. Wurde der Dampfdruck im Schädelinneren zu hoch, barst die Schädeldecke. Sandra spürte Übelkeit aufkommen. Wenngleich ihr ein ähnlich grausiger Anblick diesmal erspart bleiben würde. Die Brandleiche war längst nach Graz überstellt worden, wo sie am Montag, gleich in der Früh, obduziert werden sollte. Der Leichenöffnung in der Gerichtsmedizin wollte Bergmann beiwohnen, wofür sie ihm insgeheim sehr dankbar war. Sie öffnete ihren Sicherheitsgurt, schloss die Augen und atmete einige Male tief durch, während der Chefinspektor im Handschuhfach nach der Taschenlampe kramte. Die leuchtete weiter als die Handy-App.

Als Sandra wieder aufblickte, sah sie zwei uniformierte Kollegen, eine Frau und einen Mann, die geschickt auf die Brandruine zuschlitterten. Das andere Paar in Zivilkleidung, das sie vom LKA in Graz kannte, folgte ihnen weitaus vorsichtiger.

Dem Wagen entstiegen, setzte Sandra ihre Haube auf und zog den Reißverschluss ihres Anoraks bis zum Kinn hoch. In der Nähe des »Steirischen Meers«, wie der Grundlsee als größter See der Steiermark auch genannt wurde, fühlten sich die minus neun Grad Celsius, die das Außenthermometer zuletzt angezeigt hatte, noch kälter an. Sie ließ ihre Hände in die Handschuhe gleiten und wickelte den Wollschal mehrfach um ihren Hals.

Bergmann rutschte aus, konnte sich aber wieder fangen. Der Kraftausdruck, der seinem Mund entwich, bildete eine Atemwolke vor seinem Gesicht, die sich rasch auflöste.

Selbst schuld, dachte Sandra. Warum zog er keine Winterschuhe an? Kein vernünftiger Mensch trug zu dieser Jahreszeit Sneakers. Schon gar nicht in den Bergen. Dafür Haube und Handschuhe. Sein dünner Baumwollschal eignete sich bestenfalls für den Herbst oder fürs Frühjahr. Seine Jacke zählte bestimmt auch nicht zu den allerwärms­ten.

»Aufpassen!«, rief ihnen die Landpolizistin zu. »Haltet’s euch weiter links, damit’s net herfallt’s!«

»Ich falle nicht her, sondern höchstens hin«, schnauzte Bergmann zurück. Als ob die abweichenden Ausdrücke der Wiener und Steirer einen Unterschied gemacht hätten. Lag er erst einmal auf dem Boden, war das Ergebnis dasselbe.

Sandra konzentrierte sich wieder auf sich selbst. Wie damals in Oberlamm stieg ihr beißender Brandgeruch in die Nase, der sich auf ihre Zunge legte. Erneut kamen die Bilder der verkohlten Brandleiche hoch. Prompt drehte sich ihr der Magen um. Gleichzeitig versuchte sie, nicht auszurutschen und den brandigen Geschmack hinunterzuwürgen.

Bergmann, der ihr folgte, schafft es ebenfalls, nicht her- beziehungsweise hinzufallen.

»Griaß enk!« Die Inspektionskommandantin aus Bad Aussee stellte ihren rangniedrigeren Kollegen und sich selbst vor.

Sandra nannte im Gegenzug ihren und Bergmanns Namen.

Der Chefinspektor wandte sich direkt an den Experten des LKA. »Wir haben es also mit Brandstiftung zu tun?« Sein Blick folgte dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, der über Schutt und Asche tanzte.

»Das Feuer wurde zweifelsfrei vorsätzlich gelegt«, bestätigte der Kriminaltechniker und zauberte einen Plan des Hauses hervor, den er aufgefaltet der Kollegin in die Hände drückte, um ihn hernach mit seiner Taschenlampe zu beleuchten. »Der Spürhund hat an mehreren Stellen angeschlagen. Im Erdgeschoß, hier und da.« Sein Finger zeigte auf die Punkte, an denen Brandbeschleuniger eingesetzt worden war. »Auch im Obergeschoß konnten wir zwei Brandherde ausmachen.« Die Taschenlampe senkte sich wieder. »Jedenfalls wusste der Brandstifter, wie man es anstellt, dass die Flammen möglichst rasch das gesamte Haus erfassen.«

»Und mit dem Haus auch die Frau«, sagte Bergmann. »Hat der Hund auch bei der Leiche angeschlagen?«

»Er war erst heute Nachmittag am Tatort, nachdem die Leiche bereits in die Gerichtsmedizin überstellt wurde.«

»Dann werden wir dort klären müssen, ob die Leiche mit dem Brandbeschleuniger in Kontakt gekommen ist. Die Vermutung, dass hier jemand versucht hat, die Spuren einer Gewalttat durch Brandzehrung zu beseitigen, liegt jedenfalls nahe.«

Der Brandexperte stimmte dem Chefinspektor zu. »Das ist ihm auch gelungen. Außer dem Brandbeschleuniger konnten wir keine tatrelevanten Spuren im Haus sicherstellen«, sagte er. »Unter Umständen liefert uns die chemische Analyse einen Hinweis. Es dauert allerdings einige Tage oder sogar Wochen, bis uns das Laborergebnis vorliegt.«

»Die Obduktion wird zumindest klären, ob die Frau gelebt hat, als das Feuer ausgebrochen ist«, sagte Bergmann. »Oder ob ihre Leiche verbrannt wurde. Damit wären wir dann schon etwas schlauer.« Er trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten, was ihm auf Dauer kaum gelingen würde.

Sandra machte momentan weniger die Kälte als ihre Übelkeit zu schaffen.

»Wie gesagt, der Täter ist planvoll vorgegangen«, fuhr der Brandexperte fort. »Brandbeschleuniger und Zündquellen waren optimal positioniert. Die Fensterscheiben in den Veranden müssen zuerst geborsten sein. Durch den Sauerstoff, der in der Folge in das Haus gesogen wurde, hatten die Flammen leichtes Spiel. Das Feuer konnte sich zügig über die Dachbalken und Sparren ausbreiten, bis das Dach einstürzte.

Auch die Garage und das darin abgestellte Fahrzeug wurden erfasst. Wir haben einen ausgebrannten Kastenwagen sichergestellt und nach Graz abgeschleppt, um ihn dort nach Spuren zu untersuchen. Es handelt sich dabei um ein französisches beziehungsweise italienisches Modell aus demselben Autokonzern.«

»Wie lange hat es vom Entzünden des Feuers bis zum Eintreffen der Feuerwehr ungefähr gedauert?«, erkundigte sich Bergmann.

»Schwer zu sagen. Ich schätze, zwischen ein und zwei Stunden. Kommt auf das Baumaterial des Hauses und die Einrichtung an.«

»Und wo wurde die Leiche aufgefunden?«, wollte Bergmann wissen.

»In ihrem Bett. Oder was davon noch übrig war, nachdem es verbrannte. Wir haben Metallstücke sichergestellt, bei denen es sich um die Reste von Taschenfedern handeln dürfte, wie sie in Matratzen verwendet werden. Einige haben sich regelrecht in die Leiche eingebrannt.«

»Wo war denn das Schlafzimmer?«, hakte Bergmann nach.

»Im Obergeschoß.« Der Kollege zeigte auf die entsprechende Stelle am Grundrissplan. »Laut Hausbesitzerin haben sich dort drei weitere Schlafzimmer und zwei Bäder befunden.«

»Laut Hausbesitzerin?«, wunderte sich Bergmann. »Die ist doch verbrannt, dachte ich.« Er wandte sich erstmals an die Landpolizisten.

»Oane von zwoa«, erklärte der Uniformierte.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Bergmann den älteren kleineren Mann von oben herab an. »Wie meinen?«

»Eine von zwei«, übersetzte seine etwas jüngere ranghöhere Kollegin, die ihn auch mit ihrer Körpergröße überragte. »Es haben zwei Schwestern in dem Haus gewohnt. Lex Lilli und Lex Luise.«

»Unter uns Dosign hoaßen s’ Liesl und Loisl«, erläuterte der Polizist.

»Und welche von beiden ist verstorben?«

»Die Loisl.«

»Luise Lex. Lilli Lex war nicht daheim, als es gebrannt hat«, erläuterte die Kollegin.

»Aha, die Dame hat demnach woanders genächtigt?«, fragte Bergmann.

»Nein, sie war in der Arbeit, als ich sie von dem Brand verständigt hab’«, berichtete die Landpolizistin weiter.

»Und wer hat den Brand gemeldet?«

»Der Gaiswinkler Werner von der Sonnseit’n.« Der Polizist streckte seinen Arm aus, um über die Brandruine und den Grundlsee hinweg zu den Lichtern in der Ferne zu zeigen. »Er schöpft in der Bäckerei in Aussee.«

Laut Lubensky war der Brand zu nachtschlafender Zeit gegen viertel vier über den Notruf gemeldet worden, rief sich Sandra in Erinnerung. Bäcker standen wohl auch samstags früh auf. Aber was hatte die überlebende Schwester mitten in der Nacht zu tun gehabt? War sie Frühaufsteherin, arbeitete in der Nachtschicht oder litt sie unter Schlafstörungen, überlegte sie.

»Was arbeitet die Dame denn nachts?«, sprach Bergmann ihre nicht gestellte Frage aus.

»Schneiderin«, antwortete der Landpolizist.

»Den Lex-Schwestern gehört die G’wandschneiderei in Aussee«, sagte seine Kollegin.

»Eine Schneiderwerkstatt?«, fragte Sandra nach.

»Und ein Trachtengeschäft.« Die Polizistin schien sich über ihre Frage zu wundern, als wäre die G’wandschneiderei über die Grenzen des Ausseerlandes hinweg weltberühmt.

»Die eine Chefin hat also geschlafen oder war bereits tot, als der Brand ausgebrochen ist, während die andere nachts in der Schneiderei gearbeitet hat«, fasste Bergmann zusammen.

Die Provinzpolizistin bestätigte das.

»Hat es in letzter Zeit Fälle von Brandstiftung bei euch oder auch in der näheren Umgebung gegeben?«, erkundigte sich Bergmann als Nächstes. Seine Hände waren tief in den Jackentaschen vergraben. Aus einer ragte zudem seine Taschenlampe.

»Die letzten Brandfälle hat’s gehäuft in Bad Mitterndorf gegeben«, erwiderte die Polizistin. »Im Frühjahr ist dort ein Hof samt Wohnhaus, Stallgebäude und Garagen ebenfalls in den frühen Morgenstunden abgebrannt. Am Grundlsee wüsste ich nicht.«

Der Kollege gab ihr recht.

»Konnte der Brandstifter von Bad Mitterndorf ausgeforscht werden?«

»Er verbüßt zurzeit eine Haftstrafe.«

»Und wie sieht es mit anderen Brandstiftern beziehungsweise Pyromanen aus? Wurde vielleicht kürzlich jemand aus der Haft entlassen?«

Den Landpolizisten war kein weiterer Fall aus der jüngeren Vergangenheit bekannt.

Bergmann zog seine Hand samt der Taschenlampe aus der Jackentasche, um damit die Umgebung auszuleuchten. Außer ein paar kahlen Büschen und Bäumen war nichts zu erkennen. »Hätte der Brand nicht schon früher entdeckt werden müssen?«, überlegte er laut, den Blick auf die Lichter am gegenüberliegenden Ufer gerichtet. »So eine gewaltige Feuersbrunst fällt doch auf. Überhaupt in der Dunkelheit.«

»Sollte man meinen«, stimmte ihm der Brandexperte zu.

»Jo mei, am Land gehen die Leute früher liegen«, meinte der Polizist.

»Weder diese Ecke des Grundlsees noch das Ufer direkt gegenüber sind stark besiedelt«, ergänzte seine Kollegin.

Sandra blickte in der Dunkelheit um sich. So abgeschieden dieser Ort auch lag, dass der Feuerschein in der Nacht nicht schon früher jemandem aufgefallen war, verwunderte auch sie. Vereinzelte Spätheimkehrer gab es doch immer. Noch dazu, wo gerade Weihnachtsferien waren. Oder Frühaufsteher beziehungsweise Leute, die nicht schlafen konnten. Möglicherweise hatte den Leuten die Silvesternacht so sehr zugesetzt, dass sie die folgende Nacht verschliefen. Bis auf den Bäcker, der aufstehen musste.

»Hier sagen sich vermutlich nicht einmal Fuchs und Hase Gute Nacht.« Bergmann sah sich ebenfalls um.

Die beiden Uniformierten warfen einander Blicke zu.

Wieder zwei Kollegen in der Provinz, bei dem sich der Chefinspektor als arroganter LKA-Ermittler aus der Landeshauptstadt unbeliebt machte, dachte Sandra.

Damit nicht genug, setzte er noch eins drauf. »Es heißt doch: ›Im Salzkammergut kann man gut lustig sein‹«, bezog er sich auf das bekannte Lied, das er vermutlich aus dem Film Im weißen Rössl kannte. Die gleichnamige Operette von Ralph Benatzky hatte er wohl kaum gesehen, vermutete Sandra. Zumindest nicht freiwillig. So gut kannte sie den Chefinspektor allemal.

Die beiden Landpolizisten ersparten sich eine Antwort. Aus ihren Gesichtern ließ sich dennoch einiges ablesen. Nur nichts Gutes. Wenngleich die Ausseer an Kummer mit Fremden gewöhnt waren. Ob es sich nun um Touristen oder Zweitwohnsitzer handelte, von denen die meisten aus Wien stammten.

»Wenn du es lustig haben möchtest, musst du im Fasching wiederkommen«, meinte Sandra versöhnlich. »Der Ausseer Fasching ist sogar als immaterielles Kulturerbe ins Österreichische UNESCO-Verzeichnis eingetragen.« Dass in der fünften Jahreszeit drei Tage lang Ausnahmezustand im Ausseerland herrschte, war weit über die Grenzen der Region bekannt. Dann zogen die Maschkera – die Maskierten – durch die Straßen: die Trommelweiber in ihren Frauenmasken und weißen Gewändern, die farbenfroh glitzernden Flinserl und die Fetzen schwingenden Pless, die von den Kindern mit Schneebällen beworfen wurden, um den Winter symbolisch zu vertreiben. Allerorts wurde nach altem Brauchtum ausgelassen gefeiert.

»Bis zum Fasching wollte ich eigentlich nicht hierbleiben«, entgegnete Bergmann. »Eine Nacht sollte uns fürs Erste reichen.«

Allein für sein anzügliches Grinsen wäre ihm Sandra am liebsten an die Gurgel gesprungen. Vor den Kollegen schluckte sie ihre Antwort jedoch hinunter.

»Entschuldige, Sascha«, meldete sich der Brandexperte zu Wort. »Brauchst du uns hier noch? Wir würden sonst nach Graz aufbrechen.«

»Fahrt ruhig. Wir sehen uns beim Team-Meeting am Montag«, entließ er die Kollegen.

»Um welche Uhrzeit?«

»Miriam schickt den Termin rechtzeitig aus«, versprach Bergmann. »Ich hoffe zumindest, dass wir nur eine Nacht hier verbringen müssen.«

Das hoffte Sandra auch. Wenngleich noch nicht abzusehen war, wohin die Ermittlungen in den nächsten Stunden führen würden.

»Habt ihr ein Zimmer für uns organisiert?«, erkundigte sich der Chefinspektor bei den Landpolizisten.

»Zwei Zimmer«, zischte Sandra.

»Wir haben eine Ferienwohnung mit zwei Schlafzimmern für euch reserviert«, antwortete die Kollegin. »Was anderes war nimmer zu bekommen. Sind ja noch Ferien.«

Sandra bedankte sich einigermaßen erleichtert. Solange es eine Schlafzimmertür gab, die sie von Bergmann trennte, war ihr alles recht.

»Die Wohnung ist etwa fünf Minuten von hier entfernt und recht gemütlich«, versicherte ihr die Kollegin. »Es gibt sogar eine Sauna im Badezimmer, in der ihr euch aufwärmen könnts.«

Die Miene des Chefinspektors hellte sich augenblicklich auf.

Höchstwahrscheinlich dachte er an die Therme Loipersdorf, wo sie sich einmal unbeabsichtigt in der Sauna begegnet waren. Bergmann hatte ihr seinen Familienschmuck dermaßen breitbeinig präsentiert, dass Sandra dieses Bild bestimmt nie wieder aus ihrem Kopf bekommen würde. Auch jetzt wich sie seinem Blick aus und nahm den Wohnungsschlüssel entgegen, den ihr die Polizistin überreichte.

»Die Adresse und die Apartmentnummer stehen auf dem Schlüsselanhänger.«

Wie praktisch, dachte Sandra und steckte den Schlüssel ein. Wenn er in die falschen Hände geriet, wusste der potenzielle Einbrecher wenigstens gleich, wohin er fahren musste, um die Gästewohnung zu plündern.

»Ihr müsst’s nur dem Wegweiser zum Biobauernhof …«, setzte die Polizistin zu einer Erklärung an, als Bergmann ihr ins Wort fiel.

»Wie bitte?« Das Grinsen war ihm schlagartig vergangen. »Ein Bauernhof?«, fragte er entsetzt.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

Jetzt grinste Sandra in sich hinein. Mit Bauernhöfen hatte der Chefinspektor wahrlich nichts am Hut, wusste sie. Erst recht nicht, wenn dort Tiere gehalten wurden, die auch nach Tieren rochen. Schon einmal hatten sie in einer bäuerlichen Notunterkunft übernachten müssen, als sie während der Alpinen Ski-WM in Schladming in einem Mordfall ermittelt hatten und in der restlos ausgebuchten WM-Stadt kein Quartier mehr aufzutreiben gewesen war. Zwar herrschte in den Weihnachtsferien auch im Ausseerland Hochbetrieb, jedoch waren die Gästezahlen nicht mit jenen von Schladming zu vergleichen, das Wintersportler und Skifans in Massen anzog. Vor allem zum Nightrace, wenn bis zu 45.000 Zuschauer den Nachtslalom auf der Planai live verfolgten.

»Ich übernachte ganz bestimmt nicht auf einem Bauernhof«, stellte Bergmann klar.

»Aber wieso?«, fragte die Polizistin irritiert. »Ihr müsst’s am Biohof doch nur vorbeifahren. Und gleich nach der nächsten Kurve rechts zum Apartmenthaus abbiegen«, erläuterte sie.

»Ach so …« Bergmann blies erleichtert Luft aus, die erneut vor seinem Gesicht verdampfte. »Dann ist es ja gut.«

»Nimmer lang«, meldete sich der Landpolizist zu Wort.

Bergmann sah ihn fragend an.

»Das Apartmenthaus und das gesamte Grundstück dahinter wurden an eine Immobiliengesellschaft verkauft«, erklärte die Kollegin. »Anfang Februar wird das Haus abgerissen. Es soll dort ein luxuriöses Feriendorf mit 30 Chalets im Ausseerstil errichtet werden, das bis hierher zum Lex-Grundstück reicht.«

»Schad’ um die Gegend«, meinte der Kollege.

»Wieso schade? Wäre es nicht wünschenswert, wenn hier etwas mehr Leben einkehrt?«, fragte Bergmann. »Gegen höhere Tourismuseinnahmen habt ihr doch bestimmt auch nichts einzuwenden?«

»Wir Ausseer bleiben aber lieber unter uns«, erklärte ihm der Provinzpolizist, was wahrlich kein Geheimnis war. Da er auf zahlende Gäste nicht angewiesen war, sondern auf ein sicheres Einkommen aus Steuergeldern vertrauen durfte, traf das auf ihn wohl ganz besonders zu.

Prompt fiel Sandra der Brief wieder ein, den die Bürgermeister der Ausseerland-Gemeinden während des ersten Corona-Lockdowns an die Landesregierung geschrieben hatten, um ein Betretungsverbot für Zweitwohnungsbesitzer zu erwirken, obwohl ein solches in Österreich nicht vorgesehen war. Ausgerechnet vor der Osterwoche hatte dieses Ansinnen gehörig Staub aufgewirbelt und der Region keine Sympathien beschert.

»Nicht, dass ihr glaubt’s, wir sind fremdenfeindlich«, sprang die Polizistin in die Bresche.

»Großkopferte Weana Bazi und Zwoaheimische, die net ›griaß di‹, ›pfiat di‹, ›Danke‹ und ›Bitte‹ sog’n kennan, gibt’s bei uns scho’ gnua.«

Das traf in allen Punkten auf den Chefinspektor zu.

»Zweiheimische?«, wiederholte er.

»Zweitwohnsitzer, die nur wenige Wochen im Jahr in ihren Häusern und Wohnungen leben«, erklärte ihm die Polizistin. »Die meisten kommen aus Wien.«

»Wir leben und wir sterben von denen«, meinte der Kollege.

»In der Gemeinde Grundlsee dürfen schon lange keine Zweitwohnsitze mehr errichtet oder verkauft werden«, erklärte die Polizistin. »Deswegen schmeißen sich die Immobilienentwickler zunehmend auf Tourismusprojekte.«

»Und die Gemeinde unterstützt sie«, erklärte der Landpolizist wenig begeistert.

Seine Kollegin warf ihm einen mahnenden Blick zu.

»Bleiben wir doch bei diesem Haus hier.« Bergmann wies auf die Brandruine. »Sind die Lex-Schwestern Einheimische?«

Der Polizist verneinte.

»Die Villa hat ihr Ururgroßvater um die Jahrhundertwende errichten lassen. Damals durften Zweitwohnsitze noch gebaut werden«, erklärte die Kollegin. »Der alte Herr Lex war Fabrikant in Wien. Seine Familie hat die Ferien immer am See verbracht. Lilli und Luise Lex sind schon die fünfte Generation von Zweiheimischen. Aber die erste, die ihren Hauptwohnsitz hierher verlegt hat, seitdem sie in Aussee arbeiten«, erklärte sie.

»Wenn sie ausschließlich hier wohnen und arbeiten, dann sind sie doch einheimisch«, meinte Bergmann spitzfindig.

Die Uniformierten warfen einander Blicke zu. Der Ermittler aus der Stadt hatte nicht die leiseste Ahnung von der Mentalität der Ausseer. Selbst in der fünften Generation zählte man hier noch zu den Zwoaheimischen oder zu den Zuagroasten. Selbst wenn man Miteigentümer der Salinen war und halb Altaussee sein Eigen nennen durfte. Oder hier geboren war und Jahrzehnte später als Oscar-Preisträger, hochgelobter Schriftsteller oder erfolgreicher Unternehmer die dereinst verlassene Heimat besuchte beziehungsweise den Rest seiner Tage hier verbrachte. Bestenfalls wurde man als Heimischer akzeptiert, von den Einheimischen jedoch höflich auf Distanz gehalten oder schlichtweg ignoriert. An den Stammtischen durften nur Einheimische Platz nehmen. Ab und zu auch ganz besonders privilegierte Heimische, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Das geschah jedenfalls unabhängig von Stand, Prominenz, Einfluss oder Geld. Wenn es denn überhaupt jemals geschah. Bei den Lex-Schwestern verhielt es sich vermutlich nicht anders. Umso bemerkenswerter fand Sandra, dass sich die beiden ausgerechnet in der Trachtenhauptstadt Bad Aussee an das traditionelle G’wand he­ran­wagten, was beinahe einem Sakrileg gleichkam.

»Hatte Luise Lex Streit mit irgendjemandem?«, fragte der Chefinspektor weiter. »Vielleicht mit einem Mitbewerber, Angestellten oder Geschäftspartner? Oder auch mit einem eifersüchtigen Partner respektive Ex-Partner?«

»In Aussee gibt’s schon einige Neidhammeln, die die Lex-Schwestern am liebsten zum Teufel jagen täten«, bestätigte die Landpolizistin, was Sandra vermutet hatte. »Habt’s ihr noch nie was von Lilli & Luise gehört?«, fragte sie die Ermittler aus Graz, als würden diese hinterm Mond leben. Was aus ihrer Sicht zutreffen mochte. Für sie war diese Region der Nabel der Welt. Tatsächlich war Bad Aussee der geografische Mittelpunkt von Österreich. Dennoch lag das Steirische Salzkammergut ziemlich abgeschieden, weshalb sich die eigentümliche Mentalität der Ausseer entwickeln hatte können. Auch der Salzabbau, der die Bevölkerung über die Jahrhunderte hinweg ernährt und ihr eine gewisse Unabhängigkeit beschert hatte, prägte den Charakter der Leute.

»Die Lex-Schwestern sind eh andauernd in der Zeitung und im Fernsehen«, erklärte die Polizistin weiter.

Sandra musste dennoch passen. Klatsch und Tratsch zählten ebenso wenig zu ihrem Metier wie Mode. Dazu konsultierte sie meistens ihre Freundin, die eine Boutique in der Grazer Altstadt führte. Ganz bestimmt kannte An­drea Lilli & Luise.

Die heimischen Trachtenproduzenten waren allesamt nicht erfreut gewesen, als die zwei Wienerinnen die alteingesessene Trachtenmanufaktur übernahmen, erfuhren sie von der Polizistin. Noch dazu, wo sich die Lex-Schwestern kaum den traditionellen Schnitten, Stoffen und Mustern unterwarfen. Ihre Trachtenmode trug eine eigene Handschrift, die vor allem bei den Gästen des Ausseerlandes und außerhalb der Region sehr gut ankam, plauderte die Polizistin aus dem Nähkästchen. Dass der große Erfolg der Schwestern Neider auf den Plan rief, die sie zum Teufel wünschten, lag nahe. Aber hasste jemand sie so sehr, dass er eine von ihnen getötet hatte?

»Kannst du mir eine vollständige Liste der Trachtenbetriebe im Salzkammergut zukommen lassen?«, fragte Sandra.

Die Landpolizistin versprach ihr diese für den nächsten Tag.

Sandra bedankte sich. »Und wie sieht es mit dem Privatleben der Verstorbenen aus?«, fragte sie weiter. »War Luise Lex liiert?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Die Uniformierte sah ihren Kollegen an.

Ihr Kollege zuckte mit den Achseln.

»Gibt es Kinder?«, fragte Sandra.

»Zum Glück nicht.«

»Zum Glück?«, fragte Bergmann.

»Die Kinder wären jetzt ohne Mutter.«

»Und Lilli Lex hat auch keine Kinder?«

Die Polizisten schüttelten ihre Köpfe.

»Die Lilli war vielleicht ein halbes Jahr verheiratet. Mit dem Sulzbacher Otto, einem Geschäftsmann aus Wien«, erzählte sie.

»Auch ein Zweiheimischer?«, fragte Bergmann.

Die Landpolizistin verneinte. »Der Otto war immer nur sporadisch da. Er hat was mit dem geplanten Chalet-Dorf zu tun. Was genau, weiß ich nicht. Du?« Sie warf ihrem Kollegen einen fragenden Blick zu.

Der verneinte.

»Fragt’s am besten die Lilli, die weiß bestimmt mehr.«

»Waren die Lex-Schwestern auch in dieses Feriendorf-Projekt involviert?« Sandra kreuzte die Arme, um ihre klammen Hände am Körper zu wärmen.

»Die beiden wollten das Feriendorf in ihrer Nachbarschaft verhindern.«

»Und wie war das Verhältnis der Schwestern untereinander?«

Die Polizistin zuckte mit den Achseln. »Was ich weiß, waren sie unzertrennlich. Wie man sich das bei Zwillingsschwestern eben vorstellt.«

»Ach, die beiden waren Zwillinge?«, hakte Sandra nach.

»Hab’ ich das noch nicht erwähnt?«

Sandra verneinte. »Eineiige Zwillinge?«

»Kann sein. Sie haben sich schon recht ähnlich geschaut. Aber nicht zum Verwechseln. Die Lilli hat kürzere blonde Haare, die Luise längere braune gehabt.«

Falls sie es mit einem gezielten Mordanschlag zu tun hatten, war demnach auszuschließen, dass die Zwillingsschwestern verwechselt worden waren. Aber vielleicht hätten ja auch beide beseitigt werden sollen, und die eine hatte ihr Leben nur ihrer Abwesenheit zu verdanken. »Wo hält sich Lilli Lex zurzeit auf?«, erkundigte sich Sandra.

»In ihrer Wohnung in der G’wandschneiderei.«

»Gewohnt hat sie aber hier mit ihrer Schwester?« Sandra wies mit dem Daumen über ihre Schulter zur Brandruine.

Die Provinzpolizistin bestätigte die Frage und nannte ihr die Geschäftsadresse in Aussee.

»In Bad Aussee?«, vergewisserte sich Sandra.

»Aussee is immer Bad Aussee«, bestätigte der Landpolizist. »Altaussee hoaßt bei uns Olt’nausee«, erklärte er im Dialekt.

»Die Lilli ist ziemlich fertig mit den Nerven. Wir haben ihr jemanden vom KIT vorbeigeschickt, der sie psychologisch betreut. Vielleicht solltet’s lieber bis morgen mit der Befragung warten«, meinte die Polizistin.

»Das lass unsere Sorge sein.« Bergmann bohrte seine Hände tiefer in die Jackentaschen.

Zitterte er vor Kälte, oder täuschte sich Sandra? »Sollte Frau Lex heute nicht mehr vernehmungsfähig sein, versuchen wir es morgen«, sagte sie. »Ansonsten werden wir sie in den nächsten Tagen nach Graz vorladen.«

»Gibt es noch etwas, was wir wissen sollten?«, fragte Bergmann ungeduldig.

»Ich weiß nicht, ob es relevant ist«, zauderte die Polizistin.

»Wenn es relevant ist, werden wir es überprüfen. Also raus mit der Sprache«, forderte Bergmann sie zum Reden auf.

Er schepperte vor Kälte, stellte Sandra fest.

»Die Lilli soll ein Pantscherl mit dem Köberl Fabian haben«, gab die Polizistin zögerlich preis.

»Mi’m Fabian? Dem Fischer vom Grundlsee?«, entrüstete sich ihr Kollege. »Der ist doch viel zu jung für sie.«

Wie die anderen überhörte Sandra das Vorurteil, zog einen Handschuh aus und zückte ihr Handy. »Wo wohnt Herr Köberl?«

Der Polizist nannte ihr eine Adresse im Dorf Gößl, die Sandra in ihr Handy sprach. Zwar wusste sie nicht, was der junge Mann mit dem Tod der Schwester seiner Geliebten zu tun haben sollte, aber irgendwo mussten sie mit den Ermittlungen ansetzen. Warum also nicht bei dem Fischer, der ihr vielleicht ein paar frische Fische verkaufen würde, wenn sie schon einmal am Grundlsee war. Der Gedanke an gebratenen Saibling ließ sie den brandigen Geschmack in ihrem Mund kurzfristig vergessen. Für das kompakte, gleichwohl zarte Fleisch der Fische aus den Salzkammergutseen ließ sie jeden Meeresfisch stehen.

Die LKA-Ermittler verabschiedeten sich von den Landpolizisten. Ebenso vorsichtig, wie sie hergekommen waren, rutschten sie zum Dienstwagen zurück.

»Was hältst du davon, wenn wir zuerst unser Gepäck in die Wohnung bringen und anständig einheizen?«, wandte sich Sandra an Bergmann. Ferienwohnungen wurden häufig auf Sparflamme beheizt, wenn sie gerade nicht bewohnt waren, wusste sie aus leidvoller Erfahrung. »Anschließend könnten wir nach Bad Aussee weiterfahren, um Lilli Lex zu befragen«, schlug sie vor. »Vorausgesetzt, sie ist vernehmungsfähig. Und danach gehen wir Abendessen.«

Bergmann zeigte sich einverstanden. »Jetzt sperr schon auf, Sandra! Ich frier mir noch den Hintern ab.«

»Das wundert mich nicht.« Sandra öffnete den Skoda mit dem Funkschlüssel.

Kaum lief der Motor, drückte Bergmann den Knopf, der seine Sitzheizung aktivierte.

Sandra schaltete ihre ebenfalls ein, ehe sie den Schlüssel für die Ferienwohnung aus der Jackentasche holte. »Hast du kein wärmeres Gewand mit? Wir sind hier in den Bergen.«

»Scheiß Berge«, schimpfte Bergmann. »Und hör auf, mich zu bemuttern.«

»Nichts liegt mir ferner als das. Aber jammere mich nicht an, wenn du dir eine Erkältung einfängst.«

Bergmann griff zu seinem Gurt. »Ich fang mir schon nichts ein. Ich werde heute nämlich noch in die Sauna gehen. Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?«

Sandra ignorierte sein Angebot. »Kannst du die Adresse bitte ins Navi eingeben?« Sie überreichte Bergmann den Schlüssel der Ferienwohnung und fuhr los.

Steirertanz

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