Читать книгу Steirertanz - Claudia Rossbacher - Страница 7
Prolog
ОглавлениеFreitag, 8. Jänner
Wien
Kaum hatte das Taxi das Burgtor passiert, geriet der Verkehr ins Stocken. Und wieder addierte das Taxameter 20 Cent zum Fahrpreis hinzu. Angespannt blickte sie auf ihr Handy. Der VIP-Empfang am Steirerball in der Hofburg würde ohne sie beginnen müssen. Für den Einzug der Ehrengäste war sie allemal früh genug dran.
Aus dem Radio schmetterte Falco Vienna Calling. Wie lange war es eigentlich her, dass das Idol ihrer Mutter tödlich verunglückt war? Beinahe ein Vierteljahrhundert, rechnete sie zurück. Zum Zeitpunkt seines Verkehrsunfalls in der Dominikanischen Republik war sie keine zehn Jahre alt gewesen. Nichtsdestotrotz erinnerte sie sich noch sehr gut an die Todesnachricht. Denn von da an war nichts mehr wie zuvor gewesen.
Ihre Mutter weinte tagelang, als wäre ein guter Freund von ihr gegangen, und konnte sich kaum beruhigen. Seither fuhr sie nur mehr ungern mit dem Auto, litt auf Überlandstrecken unter Panikattacken. Nach und nach kamen immer weitere Phobien hinzu. Psychopharmaka, Suizidversuche, psychiatrische Klinik.
Der Vater ignorierte den labilen Zustand seiner Ehefrau, die er einfach nicht verstehen konnte. Oder wollte. Lieber genoss er sein Leben, vergnügte sich mit anderen Frauen, während sich die eigene fast zu Tode fürchtete, bis sie schließlich gemeinsam ums Leben kamen. Ausgerechnet bei einem Verkehrsunfall wie zehn Jahre zuvor der große österreichische Popstar.
Auf der Fahrt von Wien ins Steirische Salzkammergut geriet der Vater im Tanzenbergtunnel auf die Gegenfahrbahn, krachte frontal in einen Lkw. Sekundenschlaf, nahmen die Sachverständigen an. Wegen Sanierungsarbeiten war nur eine Tunnelröhre befahrbar gewesen. Der Lkw-Fahrer kam mit einem Schock davon. Die beiden Pkw-Insassen verstarben noch an der Unfallstelle. An jenem verregneten Juliabend warteten die 20-jährigen Töchter vergeblich auf ihre Eltern.
Und jetzt war eine von ihnen gestorben. Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Schwester tot war.
Der finstere Blick des jungen Taxifahrers begegnete ihr im Rückspiegel. Dunkle, funkelnde Augen. Schwarze buschige Brauen. Große, krumme arabische Nase. Dichter Vollbart. Ob er einer dieser radikalen Islamisten war, die nur darauf warteten, im Namen Allahs unschuldige Menschen zu ermorden? Je mehr, desto besser? Wie jener Attentäter, der am Abend vor dem zweiten Corona-Lockdown wahllos in der Wiener Innenstadt um sich geschossen und dabei mehrere Personen verletzt und getötet hatte. Beim Anblick des Taxlers drohte die Fantasie mit ihr durchzugehen. Sie wandte sich ab, sang im Geist den Refrain mit Falco mit. »Oh-oh, Vienna Calling …«
Der schmerzhafte Gedanke an die verstorbene Schwester ließ sich nicht so einfach abschütteln. Länger als zwei Wochen waren sie noch nie voneinander getrennt gewesen.
Lilli und Luise.
Luise und Lilli.
Die Lex-Zwillinge.
Ein Herz und eine Seele.
Ohne ihre zweite Hälfte fühlte sie sich verloren, mutterseelenallein auf dieser Welt. Wie sollte sie bloß ohne sie weiterleben? Ihre beste Freundin, ihre großherzige Schwester, die ihr Leben für sie gegeben hätte?
Sie durfte jetzt nicht an sie denken. Schon gar nicht an ihren gewaltsamen Tod. Die Trauer lastete zentnerschwer auf der Brust, raubte ihr die Luft zum Atmen. Die Angst kroch über ihren Rücken bis in den Nacken hinauf, krallte sich dort fest, ließ sie zittern.
Ob sie noch eine Beruhigungspille schlucken sollte? Lieber nicht. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, sich ablenken, um ihre Gefühle, so gut es ging, zu verdrängen. Sie schaute aus dem Fenster, konzentrierte sich auf die Fußgänger, die an der Blechkolonne vorbeihuschten. Die meisten paarweise oder in Grüppchen. Alle in Tracht unter ihren dicken Jacken und Wintermänteln. Bestimmt würden sie schneller an ihr Ziel gelangen als die Fahrgäste, die in den Taxis und Limousinen ausharrten.
Ob sie aussteigen und ebenfalls zu Fuß gehen sollte? Nein, das war stillos, entschied sie sich dagegen. Eine Lilli Lex fuhr vor, nahm den Haupteingang, stellte sich der Öffentlichkeit. Gerade jetzt. Nach allem, was passiert war. Außerdem blies da draußen dieser grässliche Wind, der beinahe ständig um die Häuser ihrer Geburtsstadt wehte.
Die Winter in Wien fand sie schrecklich. Von November bis Februar lag meist Hochnebel über der Stadt, der alles in schäbiges Grau tauchte. Die Sonne zeigte sich nur selten, was über kurz oder lang aufs Gemüt drückte. Wenn es schneite, verkam der Schnee binnen kürzester Zeit zu dreckigem Gatsch. Kaum war es wärmer, sorgte der Rollsplitt für staubige Straßen, Autos und Fensterscheiben. Bis weit in das Frühjahr hinein.
Die schwülen Sommer in der Stadt waren kaum besser. Wer es sich leisten konnte, verbrachte die Ferien in den Bergen oder an den Seen. Die Sommerfrische hatte in Österreich Tradition. Selbst der Kaiser hatte sich seinerzeit lieber im Salzkammergut als in der Hofburg aufgehalten. Sein Hofstaat, Adelige, Künstler, Literaten und wohlhabende Industrielle folgten ihm. Auch ihr Ururgroßvater hatte eine Villa am Grundlsee gebaut, damit die Familie fortan ihre Ferien dort verbringen konnte. Wann immer es die Arbeit des Zuckerlfabrikanten aus Wien zuließ, schaute er selbst für einige Tage in der Lex-Villa vorbei.
Jetzt lag das altehrwürdige Haus in Schutt und Asche, die Leiche ihrer Schwester im Kühlfach der Grazer Gerichtsmedizin. Die Tränen schnürten ihr den Hals zu. Der Kloß ließ sich kaum hinunterschlucken. Sie durfte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt. Vielleicht später.