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3. Max
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ls Max erwachte, dämmerte es erst, doch heute war nicht die Zeit, lange zu schlafen. Er schlug die warme Decke zurück, in die er sich sonst gerne noch ein paar Minuten einkuschelte, und sprang aus dem Bett. Heute war der Tag! In Rekordzeit war er gewaschen und angezogen und rannte die Treppe hinunter in die Küche, wo seine Mutter bereits die Zutaten für den ersten Kuchen bereitstellte.
»Max, herrje, bist du aber früh wach heute.«
»Heute kommt er nach Hause!«, jauchzte Max und drängelte sich an ihr vorbei zur Spüle, wo er auf die Arbeitsplatte kletterte, damit er aus dem Fenster zur Garageneinfahrt sehen konnte.
»Wie oft hab’ ich dir schon gesagt, du sollst nicht auf die Arbeitsplatte klettern«, schalt seine Mutter und hob ihn wieder herunter. »Es ist noch viel zu früh, er kommt frühestens in einer Stunde.«
»Aber vielleicht ist er extra früher losgefahren und beeilt sich ganz dolle, weil er uns so vermisst hat.« Max stellte sich auf die Zehenspitzen, doch alles, was er erkennen konnte, waren der wolkenlose Himmel und die Sonne, die über die ersten Dächer lugte. Ein einsames Flugzeug zog einen weißen Streifen hinter sich her. »Vielleicht fliegt er ja auch.«
»Ja, ganz bestimmt, weil ihm über Nacht Flügel gewachsen sind.« Seine Mutter schüttete Cornflakes in eine Schüssel, goss Milch darüber und drückte ihm die Schüssel in die Hand. »Geh, setz dich erst mal an den Tisch und frühstücke.«
»’tschuldigung. Ich freu mich doch so. Du nicht?«
Seine Mutter schob ihn zum Tisch, wandte sich wieder ihrem Backwerk zu und blieb ihm eine Antwort schuldig.
Eine Stunde später, als die Sonne alle Dächer erklommen hatte und einen wunderbaren Tag verhieß, schellte es an der Tür und die Dunkelheit brach über Max und seine Mutter herein und hielt Einzug in ihr Inneres.
Eine Woche später saß Max auf seinem Spielteppich und betrachtete die beiden Autos in seiner Hand: ein roter Ferrari und ein gelber Golf. Von dem Ferrari hatte sein Vater immer gesagt, dass er eines Tages einen besitzen würde, und dann würde er ihn, Max, mitnehmen auf eine Reise, bei der sie Überlichtgeschwindigkeit erreichen würden. Bis ans Ende der Welt könnten sie fahren und noch viel weiter. Sein Vater hatte dabei immer gezwinkert und gelacht und die Fröhlichkeit hatte sich ganz warm und glucksend in Max ausgebreitet.
Jetzt allerdings war die Fröhlichkeit fort, verdrängt von einem nagenden, bohrenden Schmerz, der sein Inneres aushöhlte und stetig wuchs. Wer braucht da noch Ferraris?
Max holte aus und warf den Ferrari zornig fort, doch leider öffnete sich im selben Moment die Zimmertür und seine Mutter wollte ins Zimmer kommen. Das Auto traf sie an der Stirn, rutschte über ihre Nase und fiel auf ihren Fuß. Sie hielt inne und sah ihn nur an, ihr Blick offenbarte ähnlichen Schmerz, doch gleichzeitig auch Wut und Unverständnis. Und wieder einmal fragte Max sich, ob seine Mutter sich nicht heimlich wünschte, dass er statt seines Vaters gestorben wäre.
»‘tschuldigung«, murmelte er. Er schaffte es nicht, seine Mutter anzusehen, und senkte den Kopf. Er spürte Tränen in seinen Augen, die ständig auf eine Gelegenheit lauerten zu fließen, und versuchte, diese fortzublinzeln. Nicht schon wieder heulen.
Seine Mutter klammerte sich an den Türgriff und trat gegen das Auto, achtete nicht darauf, wohin es flog – vermutlich freute sie sich insgeheim, dass es nun Max‘ Stirn traf – und verließ das Zimmer wieder, noch ehe sie vollständig eingetreten war. Die Tür fiel laut ins Schloss und Max schluchzte. Das Auto hatte ihn am Auge getroffen und die Tränen ließen sich nun nicht mehr zurückhalten oder fortblinzeln. Doch viel schlimmer war dieser Schmerz, der ein weiteres Stück in seinem Inneren auffraß. Früher einmal wäre Max zu seinem Vater gelaufen, hätte sich in den Arm nehmen lassen und über einen lustigen Spruch gelacht. Sein Vater hatte ihn immer zum Lachen gebracht. Immer. Früher. Wieder einmal wünschte Max sich weit fort. Bis ans Ende der Welt. Und noch viel weiter.
»Ich kann das nicht mehr. Heute hat er mir ein Auto an den Kopf geworfen«, schrie Ellen ins Telefon. Gleichzeitig versuchte sie, sich einen Kaffee einzuschütten, doch die Hälfte der Flüssigkeit landete auf der Arbeitsplatte.
»Ich bin sicher, er hat das nicht mit Absicht gemacht«, versuchte Nora, Ellens Schwester, zu beschwichtigen. Solche Anrufe bekam sie mehrmals am Tag, seit ihr Schwager verunglückt war. Sie seufzte leise.
»Doch«, beharrte Ellen. Sie versuchte, die Kaffeepfütze mit einem Küchentuch aufzuwischen und schubste dabei die Tasse in die Spüle. »Ich kann einfach nicht mehr.« Sie warf das Küchentuch hinterher und hätte beinahe auch das Telefon folgen lassen. »Ich habe meinen Mann verloren«, schluchzte sie.
»Ja, das weiß ich.« Nora kannte das Temperament ihrer Schwester und sprach betont ruhig. »Aber Max hat auch jemanden verloren. Seinen Vater. Er braucht dich jetzt mehr denn je.«
»Ich kann das nicht.« Ellen schüttelte den Kopf. »Er hasst mich. Er hat seinen Vater immer lieber gehabt als mich.«
»Trotzdem hat er dich lieb. Ihr müsst zusammenhalten, Ellen, nur so könnt ihr gemeinsam euren Schmerz überwinden.«
»Kannst du kommen? Ich brauche dich.« Ellen starrte aus dem Fenster.
»Wenn ich Feierabend habe, komme ich kurz vorbei. Aber ich habe nicht viel Zeit heute, Leon hat ein Spiel.« Nora machte eine kurze Pause, während der sie vermutlich auf ihre Uhr sah. »In einer halben Stunde kann ich hier weg, aber ich bleibe höchstens eine Stunde.«
Ellen verzog das Gesicht. Was konnte an einem Spiel schon so wichtig sein? »Wie du meinst.«
Nora atmete tief durch. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Geh zu ihm und nimm ihn in den Arm. Er braucht das jetzt. Ihr beide braucht das.«
»Ja, bis später dann.« Ellen beendete das Gespräch und warf das Telefon auf den Tisch.
Sie verließ die Küche und machte einen Schritt in Richtung Max‘ Zimmer. Nimm ihn in den Arm. Sie machte einen weiteren Schritt, lauschte, doch aus dem Zimmer drang kein Laut. Ihr beide braucht das. Doch sie schüttelte den Kopf. Ich kann nicht. Sie wandte sich ab und ging zurück in die Küche, wo sie sich auf die Eckbank setzte und wartete.
Tante Nora war seit Stunden wieder gegangen und Max vermisste ihre Umarmungen. Bei ihr hatte er wenigstens ein bisschen das Gefühl, sie könnte den Schmerz zumindest zum Schweigen bringen. Kaum, dass sie fort war, hatte er sich wortlos in sein Zimmer begeben und ins Bett gelegt, die Augen fest zugekniffen, denn er wollte das Mobile nicht sehen, das über ihm hing und das er zusammen mit seinem Vater gebastelt hatte. Autos. Mittendrin ein roter Ferrari. Er drehte sich auf die Seite, mit dem Rücken zur Zimmertür. Hier gab es nichts zu sehen, nur ein Stück leere weiße Wand. Leer. Wie in seinem Inneren.
Irgendwann war er eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte er auf, weil er dringend zur Toilette musste. Er hatte vom letzten Urlaub geträumt, als sie Ferien auf dem Bauernhof gemacht hatten. Ganz nah beim Ferienhaus gab es einen Bach, in dem er die meiste Zeit verbracht hatte, Dämme bauend und wieder einreißend, Wasserkraftwerke planend und Flussumleitungen grabend. Und auf einer kleinen Terrasse hatten seine Eltern gesessen, Kaffee getrunken und sich an den Händen gehalten. Und sie hatten gelacht, laut und fröhlich. Das Lachen der beiden Menschen, die er über alles liebte, war ihm so deutlich in Erinnerung geblieben, dass er vermeinte, es auch außerhalb seines Traumes zu hören.
Er blinzelte, sah das Mondlicht Krater auf seiner Decke erschaffen und vernahm das dunkle Lachen aus dem Korridor.
Papa!
Er sprang aus dem Bett und tappte barfuß in den Flur.
Stille.
Er zögerte, wusste nicht, ob er nach rechts oder links gehen sollte, zum Wohnzimmer oder zum Schlafzimmer, denn das Lachen war nicht mehr zu hören, so sehr er auch in die Dunkelheit lauschte. Dunkelheit. Und es war mitten in der Nacht. Was wohl sollte sein Vater um diese Zeit noch im Wohnzimmer? Also wandte Max sich nach links, zum Schlafzimmer.
Das Licht der Straßenlaterne beleuchtete seine Mutter auf ihrer Seite des Bettes, das Deckbett des Vaters fest umschlungen, während sie ihr eigenes auf den Fußboden geworfen hatte.
Immer noch Stille. Kein Lachen.
Max trat leise näher, lauschte auf die ruhigen Atemzüge seiner Mutter und sah ihr verweintes Gesicht. Hier war mit Sicherheit weder Raum noch Zeit für Gelächter.
Er überlegte, sich zu Mama zu legen, sich an sie zu kuscheln, ihre Wärme zu spüren, den Duft ihrer Haare zu riechen, sich weniger einsam zu fühlen. Im Schlaf konnte sie ihn nicht wegstoßen. Doch als spürte sie seine Gedanken, drehte sie sich plötzlich um, wandte sich von ihm ab und kehrte ihm den Rücken zu. Selbst im Schlaf.
Max biss sich auf die Lippen und drehte sich um, weg vom Bett, wollte wieder gehen, doch sein Blick streifte den großen Spiegel des Kleiderschranks und jäh verspürte er wohlige Freude in seinem Inneren, denn dort auf dem Bett im Spiegel saß Papa, sein Papa, lachte fröhlich und breitete die Arme aus. »Komm her, mein Schatz, komm und wir fahren bis ans Ende der Welt«, rief er.
»Und noch viel weiter!«, jauchzte Max und rannte in den Spiegel.
»Max?« Seine Mutter richtete sich verschlafen auf, rieb sich die Augen und sah sich um. »Max, wenn du hier bist - geh wieder ins Bett«, murmelte sie und drehte sich auf die andere Seite. Der Spiegel zu ihren Füßen zeigte lediglich die Einsamkeit, die nun noch größer und schlimmer geworden war.