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Kapitel 1: Ein neuer Anfang
ОглавлениеChristoph durchquerte das Foyer de la Danse, in dem die Ballerinen eifrig ihre Figuren übten. Die Vorbereitungen für die Saisoneröffnung an der Opera Garnier liefen auf Hochtouren. Direktor Poligny hatte darauf bestanden, den Vertrag zu unterzeichnen noch bevor er und sein Geschäftspartner Debienne ihre Amtszeit aufkündigten.
»Ein Countertenor, wie?« fragte Debienne, indem er Christophs Resümee überflog.
»Dieser Tage müssen wir nehmen, wen wir kriegen können, mein Lieber. Dank eines gewissen Vorfalls haben wir arge Verluste in der Besetzung erlitten. Und bedenke nur die anstehende Idomeneo-Aufführung. Es finden sich schon Rollen. Da können wir ganz auf Monsieur Gabriel vertrauen. Bei ihm hat der Junge während des Vorsingens anscheinend für großes Aufsehen gesorgt.«
Christoph gefiel es nicht, dass die Direktoren in seiner Anwesenheit redeten, als sei er nicht da. Dennoch freute er sich auf die neue Saison. Trotz guter Referenzen und einem Abschluss an der Akademie der Künste Schwedens blieb ein Countertenor eine Ausnahmeerscheinung. Ausgerechnet an der Opera Garnier genommen zu werden, war daher ein unerwartetes Glück, auf das er gern mit jemandem angestoßen hätte. Außer der Logenschließerin Giry, die ihm den Weg ins Direktionsbüro gewiesen hatte, kannte er bisher jedoch niemanden. Wenn wenigstens sein Vater diesen Erfolg noch erlebt hätte, es hätte ihn stolz gemacht. Doch der alte Daaé ruhte auf dem Friedhof von Perros Guirec, wie er es sich gewünscht hatte: An der Seite seiner Frau.
Christoph nahm den Vertrag entgegen und ließ sich seine neue Garderobe zeigen. Madame Giry, die vor dem Büro auf ihn gewartet hatte, führte ihn die Korridore entlang durch die verschlungenen Gänge der Oper. Offenbar war sie neben ihrer Tätigkeit als Logenschließerin auch die gute Seele des Hauses.
»Da wären wir, mein Junge.« Sie schloss auf und überreichte ihm den Schlüssel. »Es ist besser, abzuschließen bevor du die Garderobe verlässt. Man weiß nie, wer hier umgeht. Das Personal ist natürlich von jedem Verdacht ausgenommen, aber in letzter Zeit gab es kleinere Zwischenfälle.«
»Welche Zwischenfälle?«, hakte Christoph nach.
Vage hob Madame Giry die Schultern. »Ein Fass Tinte, das aus dem Direktionsbüro verschwand; eine vermisste Puderquaste oder ein Taschentuch. Und außerdem … Manche sagen, sie haben einen Geist gesehen, der in einem Frack durch die Menge geht.«
Bei dieser letzten Bemerkung hob Christoph die Brauen. Zwar hatte er davon gehört, dass Aberglauben unter Theaterleuten verbreitet ist, doch dies war das ausgehende neunzehnte Jahrhundert. Der Glaube an Geister erschien ihm unzeitgemäß.
»Ich werde es bedenken«, sagte er dennoch und steckte den Schlüssel in die Brusttasche seines Hemdes. Wobei ein Geist sich kaum von Türschlössern aufhalten ließe, setzte er gedanklich hinzu.
»Dann herzlich willkommen, Christoph Daaé. Wenn du irgendetwas brauchst, wende dich jederzeit an mich. Unsere Ballettratten hast du ja schon gesehen, im Foyer de la Danse. Meine kleine Meg ist seit kurzem Prima Ballerina. Die Primadonna des Hauses wirst du auch bald kennenlernen. Vor der nimm dich besser in Acht.«
Die Warnung ließ Christoph erneut die Brauen heben. Zuerst ein Geist, nun eine Primadonna. Aber als er in Madame Girys gutmütiges Gesicht sah, zerstreuten sich seine Bedenken und er dankte ihr nochmals für ihren freundlichen Empfang.
»Ich muss wieder an die Arbeit, mein Junge. Du findest mich im Foyer, wenn du etwas brauchst.« Beim Hinausgehen raschelte ihr brauner Taftrock. Christoph starrte noch einen Moment lang auf die Tür, dann schaute er sich in dem Zimmer um.
Die Garderobe lag in einem Dämmerlicht, das von einer Petroleumlampe auf dem Frisiertisch herrührte. Fenster gab es keine. Eine zweite kleinere Petroleumlampe befand sich auf dem Tisch vor der Chaise Longue, nahe der Tür. Christoph setzte sich vor die Kommode und betrachtete sich im Spiegel. Auf dem Frisiertisch lümmelten einige Utensilien, ein Kamm, Haarnadeln und sogar frische Taschentücher. Als Christoph eine der Schubladen öffnete, fand er darin ein Fässchen Tinte, eine Schreibfeder und einen Bogen Briefpapier. Er inspizierte auch den Kleiderschrank. Bis auf ein paar Kleiderbügel stand er leer. Christoph atmete tief den Geruch von altem Holz und Staub ein. Aber da war noch etwas anderes, das er nicht genau zuzuordnen vermochte. War es eine Art Parfum oder eine andere Substanz? Der Geruch war zu flüchtig.
Christoph schloss Schranktüren und Schubladen, und trat wieder auf den Flur hinaus. Wie von Madame Giry empfohlen, schloss er hinter sich ab. In den Korridoren und auf der Treppe eilten verschiedene Leute an ihm vorbei: Bühnenbildner, Techniker, ein paar Ballettratten, wie Madame Giry sie genannt hatte. Sie tuschelten und kicherten.
»Das war sicher das Phantom«, wisperte eine von ihnen bedeutungsvoll. Er ließ die vier Mädchen vorbei und schritt anschließend die Treppe zum Großen Foyer hinunter. Ab und an nickte ihm jemand zu, doch die meisten gingen unbehelligt ihrer Arbeit nach. Das Phantom, überlegte Christoph, schien nur die jungen Gemüter zu beunruhigen. Dabei erinnerte er sich an die Geistergeschichten, die sein Vater ihm einst erzählt hatte. Legenden aus dem hohen Norden hatten ihn als Kind fasziniert und seine Phantasie beflügelt. Doch nun schien es ihm, als seien diese Dinge in einem früheren Leben passiert.
***
Nach dem Ende der Proben kehrte Christoph in seine Garderobe zurück. Beim Eintreten bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Was genau es war, konnte er jedoch nicht sagen. Der Geruch schien ein anderer - reifer, wenn man es so nennen wollte. Die Möbel standen noch, wie er sie verlassen hatte; abgesehen von einer einzelnen Rose auf dem Chiffonier, die dort lag als habe man sie beiläufig platziert.
»Ich bin mir sicher, den Raum abgeschlossen zu haben«, murmelte er vor sich hin, halb im Zweifel, halb erschrocken darüber, wie einfach es war, in seine Privatsphäre einzudringen.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.
»Christoph, mein lieber Junge, ein Besucher erwartet dich im Foyer de la Danse.« Logenschließerin Girys Stimme hatte diesen mütterlichen Ton, den sie bei allen Ballettmädchen und ihm unter allen Neulingen anschlug. Vielleicht, weil er unter allen Sängern der Oper eine Ausnahme darstellte.
»Eine Minute, Madame. Ich kleide mich an und treffe ihn unten.«
»Ich werde ihm ausrichten, auf dich zu warten.«
»Danke.« Er griff nach der Rose und roch daran. Ihr süßlicher Duft erinnerte ihn an die aufkommende Frühlingszeit. Zugleich war es der Beginn seines ersten Jahres an der Opera Garnier. Die Direktion war freizügig genug gewesen, ihn für zwei Spielzeiten im Voraus zu verpflichten, ungeachtet ihrer Abdankung. Andererseits hatte Christoph bisher keine Gelegenheit gehabt, die neue Direktion kennenzulernen. Es hieß, sie stellten sich auf der Eröffnungsgala in einigen Tagen erstmals vor.
Während er sich umzog überlegte Christoph, um wen es sich bei dem Besucher handelte. Er war neu in Paris, daher war es unwahrscheinlich, dass jemand von seinem Engagement an der Oper wusste. Außerhalb der Oper hatte er keinerlei Freunde. Dazu mangelte es ihm schlicht an Zeit.
Im Foyer de la Danse drängten sich die Menschen, Ballettmädchen mit ihren Bewunderern, Abonnenten, Bühnenarbeiter sowie der künstlerische Leiter Gabriel. Christoph hielt nach Madame Giry Ausschau und fand sie im Gespräch mit der Primaballerina. Die kleine Meg erblickte ihn zuerst und neigte zum Gruß den Kopf, wobei sie ihre Mutter auf Christoph aufmerksam machte.
»Da bist du. Der Vicomte wartet dort drüben auf dich.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Gastes.
»Der Vicomte?« Christoph folgte ihr mit den Augen und sah einen einzelnen Mann scheinbar verloren in einer Ecke stehen. Aus irgendeinem Grund erschienen ihm die Züge des Mannes vertraut. Es dauerte einige Sekunden, ehe Christoph seinen alten Freund wiedererkannte.
»Raoul«, rief er ihm zu. »Du bist es wirklich.«
»Christoph!« Raoul gab sich nicht mit einem Handschlag zufrieden, sondern schloss Christoph überschwänglich in die Arme. »Ich hörte die Neuigkeiten von Tante Cecil, dass du jetzt in Paris bist. Es ist schön, dich zu sehen.«
Woher wusste Tante Cecil von seinem Aufenthalt? Andererseits hätte jedem, der das Programm für die neue Saison aufmerksam studierte, Christophs Name darauf begegnen können.
»Ich wusste nichts von deiner Anwesenheit«, erwiderte Christoph schließlich. »Wie geht es dir?« Ihm fiel nichts anderes ein, das er hätte sagen können. Seit ihrer letzten Begegnung waren sechs Jahre verstrichen; damals hatte Christophs Mutter noch gelebt.
Als Christoph dem anderen vom Tod der Eltern erzählte, bekundete Raoul sein Beileid.
Ob Raoul ihm die Rose geschenkt hatte? Christoph fühlte sich zu verlegen als dass er danach gefragt hätte. Wie hätte der Vicomte auch in die Garderobe eindringen sollen?
»Wirst du zur Gala in ein paar Tagen kommen? Ich hoffe sehr, dich dort zu sehen.«
»Sicher, mein Freund. Und ich bringe eine gemeinsame Freundin mit. Du wirst überrascht sein.«
Einen Moment lang schaute Christoph verdutzt. »Wer ist es?«
»Erinnerst du dich an die kleine Daphne?«
»Sie müsste mittlerweile 16 sein.«
»Letzten Sommer ist sie 17 geworden. Meine liebe Cousine ist ganz wild darauf, dich zu sehen. Deine elfengleiche Stimme hat sie bis heute bezaubert.«
Christoph nickte und versuchte, seine Erinnerungen an Daphne wachzurufen. Manchen Sommer hatte sie mit ihm und Raoul in Perros verbracht, bevor ihre Mutter mit ihr nach Paris zurückgekehrt war. Allerdings erinnerte sich Christoph kaum an sie.
»Nun, dann wird auch sie sich hoffentlich auf die Saisoneröffnung freuen«, sagte er endlich. »Wenn du mich jetzt entschuldigst? Ich gehe schon vor.«
Raoul schien überrascht von dem plötzlichen Abschied und der Hand, die Christoph ihm reichte. Unversehens nahm er den alten Freund in die Arme; eine Geste, die Christoph erneut überrumpelte.
Als sie auseinander gingen, fühlte Christoph sich von einem Paar unsichtbarer Augen verfolgt. Indes schaute ihm niemand der Umstehenden nach. Selbst Madame Giry widmete ihre ungeteilte Aufmerksamkeit den Ballettmädchen, die ihre Pirouetten drehten.
***
Die Gala füllte das Haus bis auf den letzten Platz. Alle waren gekommen, um der scheidenden Direktion ihren Respekt zu zollen, und gleichzeitig neugierig auf deren Nachfolger. Die vier Herren sahen wohlwollend von ihrer Loge aus in den Saal und spendeten angemessen Beifall.
Kleine Schweißperlen liefen über Christophs Stirn, als er von der Bühne trat. An ihm vorbei eilte die Carlotta, deren Arie aus Faust den Höhepunkt des Abends darstellte. Christoph bewunderte ihren klaren Sopran, auch wenn ihre Persönlichkeit ihn eher Abstand halten ließ. Madame Giry hatte ihn gewarnt vor den Launen der Diva. Daher zog er sich zurück in das Foyer de la Danse und von dort in seine Garderobe.
Sein Herz klopfte und eine angenehme Wärme glühte in seinen Wangen; so fühlte es sich also an, vor Publikum auf der Bühne der Pariser Oper zu singen. Nicht zu vergleichen mit den kleinen Auftritten während seiner Zeit an der Akademie. Lächelnd schloss Christoph die Tür zur Garderobe auf und entzündete die Petroleumlampe. Sobald ihr Licht den Raum erhellte, hielt er inne und sah auf die Kommode: Jemand hatte ihm einen Strauß weißer Rosen hingestellt, versehen mit einer Karte, auf der zu lesen war: »Bravo, Christoph«. Kein Gruß. Kein Name.
Christoph starrte unverwandt auf die Rosen, als es an seiner Tür klopfte. Erschrocken wandte er den Kopf und rief ein irritiertes »Ja?« in Richtung des Klopfens. Die Tür schwang auf und ohne Umschweife trat eine junge Frau herein, die Christoph überschwänglich um den Hals fiel. Hinter ihr stahl sich Raoul in den Raum, der beschämt lächelte.
»Raoul, Fräulein Daphne!« Christoph atmete auf und wagte zugleich nicht, sich zu rühren. Erst, als Daphne von ihm abließ, entspannte er sich.
»Guten Abend. Ich hoffe, wir stören nicht«, sagte Raoul, dessen Blick nahezu zeitgleich auf den Blumenstrauß fiel. »Wie ich sehe, hattest du bereits Besuch.«
»Eifersüchtig?« neckte ihn Daphne, die noch immer dicht bei Christoph stand.
»Wie hast du ...«, hob er an, doch sie wehrte ab: »Die Blumen sind nicht von mir. Ich war die ganze Zeit bei Raoul und Maman. Aber sie sind wunderschön.« Daphne betrachtete einen Moment lang die Rosen und wechselte dann das Thema: »Ich konnte es nicht erwarten dich wiederzusehen, deshalb habe ich Raoul gebeten, mich zu begleiten. Du leistest uns doch Gesellschaft, nicht wahr? Ohne dich ist die Gala schrecklich langweilig.«
Christoph lächelte. »Vielen Dank. Ich wollte eben noch meinen Frack anlegen und euch danach empfangen. Wie hat euch das Programm gefallen?«
»Oh, Maman war begeistert und mich hat dein Gesang tief berührt. Es war fast wie früher, weißt du noch?«
»Ich habe es nicht vergessen.«
»Dann gehen wir besser schon einmal vor«, mischte Raoul sich ein, dem die Situation sichtlich unangenehm war. Offenbar hatte er nur widerwillig Daphnes Bitte nachgegeben, Christoph in dessen Garderobe aufzusuchen.
»Na schön«, entgegnete Daphne, indem sie sich bei ihrem Cousin unterhakte. »Lass uns nicht zu lange warten.«
Christoph verabschiedete sie unter dem Versprechen, so bald wie möglich zu folgen. Als er wieder allein war, begann er damit, seine Schminke zu entfernen. Ab und an warf er einen Blick auf die Rosen zu seiner Rechten, noch immer darüber grübelnd, wer sie ihm hingestellt hatte. Vielleicht erlaubte sich einer der Angestellten einen Streich. Oder das Phantom, dachte er mit einem Schmunzeln. Er erinnerte sich an die Begegnung mit den Ballettmädchen, die mit einer Mischung aus Belustigung und Entsetzen darüber getuschelt hatten. Es schien, als reihte sich sein Blumenstrauß ein in die Vorfälle, von denen Madame Giry gesprochen hatte.
Als er sein Kostüm abgelegt und gegen einen schwarzen Frack getauscht hatte, war Christoph plötzlich, als drang eine leise Melodie durch den Spiegel ins Zimmer. Während er die Ärmel seines Hemdes richtete, lauschte er aufmerksam. Die Melodie kam näher, umgab ihn wie ein Windhauch und beflügelte seine Sinne. Die Stimme klang überirdisch, weder männlich noch weiblich, wie der Gesang von Geistern. Woher kam dieser Gesang? Und weshalb kam die Melodie ihm so vertraut vor?
Christoph trat auf den Spiegel zu, beugte sich vor zu dem Glas, das auf einmal unter seiner Berührung nachgab. Er machte einen Schritt nach vorn und noch einen und befand sich plötzlich inmitten von Dunkelheit. Der Gesang umgab ihn noch immer, wurde klarer und zog ihn weiter in seinen Bann. Wie in Trance ging Christoph voran, bis ihn unerwartet eine Hand ergriff und führte. Hinter ihm schloss sich die Spiegeltür.
Das flackernde Licht einer Laterne brach sich an den Steinmauern zu beiden Seiten des Korridors, den Christoph und die Stimme hinabstiegen. Stufe um Stufe führte der Weg in die Tiefe, ohne dass ein Ende abzusehen war. Ab und an machten sie eine Biegung, querten lange Gänge, doch insgesamt führte der Weg abwärts. Schließlich gelangten sie an einen unterirdischen See. Die Stimme verstummte und im selben Moment zerbrach der Bann, der Christoph hatte alles andere vergessen lassen. Erst jetzt bekam er Gelegenheit, seinen Entführer genauer zu betrachten: Ein Mann, gehüllt in einen weiten Umhang, das Gesicht hinter einer schwarzen Maske verborgen. Obwohl sie annähernd gleichgroß waren, erschien Christoph die hagere Gestalt bedrohlich. Sobald der andere jedoch zu sprechen begann, verflüchtigte sich der Eindruck.
Am Ufer des Sees lag ein Boot im zwielichtigen Schein dutzender Kerzen, die an mehrarmigen Kerzenhaltern in den Wänden befestigt waren.
»Wo sind wir hier?« fragte Christoph und blickte zwischen See und dem Fremden hin und her.
»Bitte steig ein«, bat der andere und deutete mit einem Arm in Richtung des Boots. Seine Stimme klang sanft und beharrlich zugleich.
Christoph gehorchte. Er bestieg das Boot als erster und setzte sich dem anderen gegenüber. Das gleichmäßige Eintauchen der Ruder teilte das bleierne Wasser.
»Die Blumen in meiner Garderobe waren von Euch.« Es war weniger eine Frage als eine Feststellung Christophs.
»Haben sie dir gefallen?«, fragte der Fremde unvermittelt. Dabei blieben seine Augen auf das Wasser fixiert.
»Ja.« Vielleicht war es Höflichkeit, die Christoph zu einem »Danke« verleitete. Die Situation erschien ihm surreal. Er hätte sich fürchten sollen, doch stattdessen fühlte er sich verwirrt und wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Ihm fielen Madame Girys Geschichten über das Phantom ein, das in der Oper hauste, und das Gekicher der Ballettmädchen, als sie von einem Operngeist sprachen. Doch der Mann, der so konzentriert ihr Boot steuerte, hatte nichts von einem Geist. Er war aus Fleisch und Blut, ganz in schwarz gekleidet, das Gesicht hinter einer Maske verborgen. Christoph stockte der Atem. Wenn dieser Mann das Phantom war, von dem alle sprachen, war er in Schwierigkeiten. Sicher würde der andere es nicht riskieren, vor dem ganzen Haus bloßgestellt zu werden. Vielleicht hatte er Christoph extra verschleppt, um sich seiner zu entledigen. Dann wiederum hätte er ihn vermutlich längst erledigt, wäre das seine Absicht gewesen. Mittlerweile befanden sie sich unter dem vierten Untergeschoss, tief genug, um nie wieder ans Tageslicht zurückzufinden.
Als sie die andere Seite des Sees erreichten, befestigte der Fremde das Boot und hielt Christoph seine Hand entgegen.
»Komm.«
Ihm blieb keine Wahl. Er ergriff die Hand und folgte dem anderen zu einer geheimen Tür, die sich geräuschlos vor ihnen öffnete.
***
Im Grand Foyer tranken die Leute Champagner und lobten die Aufführung. Firmin Richard und Armand Moncharmin stellten sich als Ehrengäste und neue Direktoren der Oper vor. Einigen Abonnenten schien die Nachricht bereits bekannt und sie gratulierten den Vorgängern zu deren exzellenter Wahl. Die neue Direktion gab sich weltmännisch und dem Kultusministerium nahestehend. Claudia Thoß2020-07-03T11:44:42.64Als Dialog?
»Wir tun unser möglichstes, den Namen des Palais Garnier hochzuhalten«, begann Moncharmin seine Ansprache, »Richard und ich sind seit vielen Jahren Geschäftspartner und fühlen uns geehrt, dass man uns dieses Haus anvertraut. Wir und, wie ich zu hoffen wage, Sie sehen einer grandiosen neuen Saison entgegen.« Er hob sein Champagnerglas in Richtung Richard, der den Toast erwiderte.
»Zudem danken wir unserem Gönner, dem Vicomte de Chagny, der der Oper eine großzügige Summe zukommen ließ.«
Jedermann drehte sich nach Raoul um. Der stand neben Daphne und nickte Richard wohlwollend zu. Doch als er sich weiter umsah, konnte er Christoph noch immer nirgends entdecken.
»Chris ist wirklich spät dran, findest du nicht auch?« Daphne klang erregt, als rechnete sie mit dem Schlimmsten.
»Liebe Mademoiselle de Lacroix«, sagte Madame Giry, die Daphnes Bemerkung mitangehört hatte, »Möglicherweise ist er dem guten Geist des Hauses begegnet, dem Phantom.« Sie lächelte zu ihrem Scherz.
»Was für ein Unsinn, Madame«, schimpfte Raoul. Sofort bereute er aber, die Beherrschung verloren zu haben. Ganz verstand er selbst nicht, was ihn derart verärgerte.
»Nun, Monsieur le Vicomte, in dieser Oper geschehen Dinge, die nicht einmal wir uns erklären können.« Mit «Wir« meinte sie offenbar die Mitarbeiter. »Der Operngeist sieht alles, wie auch Sie lernen werden. Verärgern Sie ihn nicht.« Damit ging sie an ihm vorbei und verschwand in der Menge. Raoul blieb kopfschüttelnd zurück.
Unterdessen sprach die neue Direktion über anstehende Projekte.
»Raoul, es langweilt mich zu Tode. Offenbar wird Chris heute nicht mehr kommen. Begleitest du mich nach Hause? Es ist schon reichlich spät.«
»Glaubst du, er ist gegangen, ohne uns ein Wort zu sagen?«
»Wer weiß. Doch ohne seine Gesellschaft finde ich diesen Abend ziemlich öde. Und mittlerweile erwartet mich Maman sicher zurück.«
Raoul runzelte die Stirn, rang sich jedoch zu einem Lächeln durch. »Wie du meinst. Lass uns gehen.«
Er entbot Daphne seinen Arm und geleitete sie aus dem Saal.
***
Ein wie ein Salon eingerichtetes Zimmer hatte Christoph im Unterbau der Oper am aller wenigsten erwartet. Zwischen Couchtisch und einem in die Wand eingelassenen Kamin aufgestellte Kerzenhalter tauchten den Raum in ein gespenstisches Licht; auf dem Sims entdeckte Christoph einen Samowar und ein Holzkästchen mit Messingbeschlag; um den Couchtisch herum standen ein mit rotem Samt ausgeschlagener Lehnsessel und eine Chaise Longue. Auf der anderen Seite nahm eine Orgel mit vier Registern die Wand ein; dazu Bücherregale, die bis unter die Decke mit diversen Abhandlungen und Gedichtbänden vollgestopft waren. Zwei Türen führten in Nebenräume ab, von denen Christoph nur erahnen konnte, was sich darin verbarg.
Sein Gastgeber war in die Mitte des Raumes getreten und schaute sich ebenfalls um, als sähe er das Zimmer zum ersten Mal.
»Weshalb habt Ihr mich hier hergebracht?«
Anstatt zu antworten, bot der andere Christoph an, sich zu setzen.
»Nein, danke. Ich wüsste gern, weshalb ich hier bin«, hakte er nochmals nach.
»Ist das nicht offenkundig?« Der Mann in der Maske deutete in Richtung der Orgel. »Du sollst für mich singen!«
»Singen?«, entfuhr es Christoph. »Ihr konntet mich nicht auf normale Art darum bitten?«
»Normal?« In plötzlichem Zorn packte der Maskierte Christoph am Kragen. »Sehe ich für dich normal aus?«
In Anbetracht des Umstands, dass er sich mit einem schwarz maskierten Mann in einem Salon im fünften Kellergeschoss der Oper befand, gestand sich Christoph ein, dass seine Situation alles andere als normal war. Daher hielt er den Mund. Erst als der andere von ihm abließ, sagte er: »Gut. Ich werde für Euch singen. Versprecht Ihr, mich anschließend wieder frei zu lassen?«
»Selbstverständlich.« Die Stimme hatte zu ihrem ruhigen, fast weichen Ton zurückgefunden. »Bitte, sing noch einmal für mich.«
Christophs Herz hämmerte. Der unerwartete Umschwung von Wut zu Gelassenheit beängstigte ihn beinahe mehr als der Zornesausbruch zuvor. Dieser Mann würde ihm mit Sicherheit etwas antun, wenn Christoph nicht tat was er verlangte. Dennoch versuchte er Ruhe zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen. »Was also soll ich für Euch singen?«
»Nobil core, che ben ama. Und wenn du es gestattest, begleite ich dich auf der Violine.«
Christoph nickte, noch immer verunsichert, ob das Gentleman-Gebaren seines Gastgebers nicht innerhalb von Sekunden umschlug. Die Arie aus Partenope war ihm aus seiner Zeit auf der Akademie vertraut. Er schloss die Augen, vergegenwärtigte sich die Strophen und hob zu singen an.
Wie eine Feder im Wind umspielte die Violine seinen Gesang, nahm sich zurück, wenn er die Unwandelbarkeit des Herzens besang und schwoll an, wenn der Gesang pausierte. Weshalb der andere sich gerade diese Arie gewünscht hatte, konnte Christoph nur vermuten. Doch er gab sich ganz der Musik hin und vergaß völlig die Welt um sie herum.
Es folgte eine tiefe Stille. Sekunden verstrichen, ehe Christoph es wagte aufzuatmen. Der Mann in der Maske stand vor ihm wie angewurzelt, den Geigenbogen noch halb in der Luft, die Violine gesenkt. Christoph musterte ihn schweigend, als ihm ein leises Zittern auffiel. Es schien, als rang der Maskierte mit sich selbst.
»Geht es Euch gut?«, fragte Christoph, indem er eine Hand ausstreckte. Doch der andere wich ihm aus.
»Eine Sekunde nur.« Der Mann in der Maske wandte Christoph den Rücken zu und verbarg sein Gesicht in Händen. Immer heftiger bebte sein Körper und ein Seufzen löste sich aus seiner Kehle.
»Danke«, sagte der Maskierte nach einer Weile. Seine Stimme klang hauchdünn, als rang er mit den Tränen. »Wie versprochen lasse ich dich gehen. Du bist frei.«
Seit ihrem seltsamen Duett hatte Christoph nicht mehr an Flucht gedacht. Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich sagen: »Ich kann Euch so nicht zurücklassen.«
»Bitte geh.«
»Nein!«
Der Maskierte fuhr herum, offensichtlich erzürnt über Christophs Weigerung. Seine Augen funkelten golden, sein Atem war Feuer. »Weshalb solltest du bleiben wollen?«
Christoph runzelte die Stirn. »Zunächst finde ich den Weg allein nicht hinaus. Und zum anderen - auch wenn Ihr Euer Gesicht vor mir verbergt, so erkenne ich doch, dass Ihr tief bestürzt seid.« Er biss sich auf die Zunge; zu spät sah er ein, dass er mit seiner letzten Bemerkung eine Grenze überschritten hatte.
»Weshalb sollte dich das kümmern?« fragte der andere irritiert. »Ich habe dich mitten in der Nacht entführt, in den Unterbau der Oper gezerrt und dich gegen deinen Willen singen lassen.«
»All das ist mir bewusst.« Den Mann in der Maske umgaben Rätsel, die Christophs Neugier weckten. Doch er zögerte, diesen Gedanken weiter zu erörtern. Wenn er wirklich das Phantom war, war es gefährlich, hinter seine Geheimnisse zu kommen. Schließlich setzte er hinzu: »Dennoch bereitete mir das Singen mit Euch Freude. Euer Geigenspiel hat mir geholfen, die Bedeutung dieser Verse zu erfassen.«
Schweigend sahen sie einander an. Weshalb der Mann in der Maske sich ausgerechnet dieses Stück gewünscht hatte, war Christoph noch immer nicht klar. Partenope gehörte nicht zu den populären Opern, die dieser Tage auf den Bühnen der Welt gespielt wurden. Offenbar besaß der andere ein umfassendes Wissen über klassische Musik und Kunst. Welch eine Verschwendung.
Nach einiger Zeit des Schweigens hob der Maskierte ohne weitere Ankündigung erneut Geige und Bogen. Und er sang. Der weiche Klang seines Baritons füllte den gesamten Raum wie ein betörendes Rauschmittel. Wieder fühlte Christoph die Magie dieser Stimme. Er erkannte das Duett aus Roméo et Juliette, für das er die Rolle der Juliette zugeteilt bekam. Es beschämte ihn, dass der andere ihm den Part eines lyrischen Soprans zutraute. Die Augen schließend, versuchte er sich ganz auf die Musik zu konzentrieren und alles außer jener engelsgleichen Stimme zu vergessen.
***
Erik raufte sich die wenigen Strähnen schwarzen Haares, die er besaß. Er musste völlig den Verstand verloren haben. Was in aller Welt hatte ihn dazu bewogen, Christoph aus seiner Garderobe zu entführen und in das unterirdische Versteck zu bringen? Ein Duett aus Roméo et Juliette - ausgerechnet diese Arie hatte Christoph mit einer Leichtigkeit gesungen, die Erik wünschen ließ, er singe die Worte aus tiefster Überzeugung.
»Warum besucht Ihr nicht eine Aufführung wie normale Menschen?« Der Satz hallte in Eriks Kopf nach wie Hohngelächter. Aber Christoph traf keine Schuld. Dass der Junge nicht vor Angst auf die Knie gesunken war, nötigte Erik Respekt ab.
Er atmete tief durch. Sein irrwitziger Plan, Christoph für sich singen zu lassen, hatte eine unerwartete Wendung genommen, als der Junge sich weigerte, an die Oberfläche zurückzukehren.
»Du musst dich nicht sorgen«, versicherte Erik am Ende ihres Duetts. »Wie versprochen bringe ich dich zurück.« Doch es würde zu lange dauern, den ganzen Weg zur Garderobe durch die verwinkelten Korridore zurück zu laufen. Er legte die Violine beiseite und öffnete mit einer versteckten Feder die Tür zum See. Christoph folgte ihm in das Boot.
»Verrate niemandem, was du heute Nacht gesehen hast.«
»Das würde mir sowieso keiner glauben. Aber … würdet Ihr mir Euren Namen verraten?«
»Mein Name tut nichts zur Sache.«
Am anderen Ufer befestigte Erik das Boot. Als er sich nach Christoph umdrehte, ihm hinaus zu helfen, war dieser bereits selbst hinausgeklettert.
Erik führte ihn durch einen Tunnel, der vor einem Eisengatter endete. Mit einem Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug, öffnete er und entließ Christoph hinaus in die Nacht.
»Das Tor führt zur Rue Scribe. Von dort bringt dich eine Droschke nach Hause.«
Christoph sah ihn einige Sekunden lang an und nickte dann. Es war seltsam, ihn auf diese Weise zu verabschieden; als begleitete er einen guten Freund nach draußen, der auf einen Tee vorbeigekommen war. Unter anderen Umständen hätte er zum Abschied vielleicht die Hand gehoben. Aber Christoph drehte ihm den Rücken zu, noch bevor Erik diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte.
»Ich heiße Erik«, sprudelte es aus ihm heraus. Er wollte noch einmal in dieses Gesicht sehen. Und tatsächlich wandte sich Christoph zu ihm um und nickte leicht, ehe er seinen Weg nach draußen fortsetzte.
Das Versteck wirkte mit einem Mal leer und kalt. Erik atmete tief ein. Ihm war, als hinge noch etwas von Christophs Geruch in der Luft, als könne er seine Präsenz noch spüren. Dabei wusste er, es war reines Wunschdenken. Ein Wahn, der ihn überkommen hatte, nachdem er Christoph auf der Gala hatte singen hören. Natürlich von seiner Loge aus. Wie so oft hatte er seiner treuen Logenschließerin Giry eine Schachtel Konfekt hinterlassen. Sie sollte wissen, dass er auch unter dem neuen Management ihre Dienste schätzte.
Besagtem Management galt es einen Brief zu schreiben. Die monatliche Summe von 200.000 Francs wurde fällig und er verließ sich nicht darauf, dass Debienne und Poligny ihre Nachfolger ausreichend über die Konditionen für Loge fünf unterrichtet hatten. Zudem galt es sie in Kenntnis zu setzen, dass es Konsequenzen hatte, sollten sie sich den Forderungen des Phantoms widersetzen.