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Kapitel 2: Briefe

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Firmin Richard und Armand Moncharmin waren seit drei Tagen im Amt, als sie einen mysteriösen und für sie höchst unliebsamen Brief erhielten. Geschrieben in roter Tinte, wirkten die Worte spinnenhaft hingekritzelt, wie von einem Kind, das es nicht gewohnt war, eine Feder zu halten. Folgendes stand darin geschrieben:

Meine sehr geehrten Herren Direktoren,

ich bedauere Sie zu behelligen, während Sie für die Oper wichtige Engagements erneuern, neue Verträge unterzeichnen und allgemein Ihren guten Geschmack beweisen. Wie Ihre Vorgänger Ihnen sicher mitteilten, ist mein monatliches Salaire von 200.000 Francs fällig. Alsbald lasse ich Ihnen Anweisungen bezüglich der Auszahlung zukommen. Zudem möchte ich Sie erinnern, stets Loge fünf für mich frei zu halten. Meine Anweisungen zu missachten rate ich Ihnen ab.

Ihr ergebener Diener O.G.

Richard fand den Brief in einem versiegelten Umschlag auf seinem Schreibtisch, nachdem er am Morgen die Tür zu seinem Büro aufgeschlossen hatte. Zunächst hielt er es für einen schlechten Scherz Moncharmins, aber sobald sein Geschäftspartner eintrat, zeigte sich, dass keiner von beiden daraus schlau wurde.

»Wer ist überhaupt dieser O.G.?« brüllte Richard. Sein Gesicht lief purpurn an und Moncharmin hätte schwören können, das Pochen in den Schläfen seines Kollegen zu hören. Er versuchte ihn zu beruhigen:

»Mein lieber Richard, offensichtlich handelt es sich um einen Scherz. Jemand muss sich Zutritt verschafft haben, während wir fort waren. Wer außer uns besitzt einen Schlüssel?«

»Natürlich muss jemand hinein gelangt sein! Wie sonst erklärst du dir das?« Er wedelte mit dem Brief vor Moncharmins Nase herum. »Bestelle Sekretär Remy her! Sofort!«

Erik in seinem Versteck unter einer der geheimen Falltüren unterdrückte ein Kichern. Fast tat Remy ihm leid, der ebenso wenig über den Brief zu sagen wusste wie Moncharmin. Erbarmungslos befragten ihn die beiden Direktoren, einer nahe am Wahnsinn, der andere scheinbar kühl und reserviert. Remy stammelte seine Antworten, mit Sicherheit schaudernd unter den Augen seiner Vorgesetzten. Als Erik genug von ihrer kleinen Auseinandersetzung gehört hatte, entkam er in die unteren Stockwerke, tauchte unverhofft in einem Korridor auf, huschte vorbei an einigen Ballerinen. Doch als diese sich nach ihm umdrehten, war er bereits hinter der nächsten Geheimtür verschwunden.

»Es ist das Phantom!«, hörte er sie flüstern. Kichernd gingen sie weiter. Einfältige Kälber, die sie waren, hatten sie keine Vorstellung, wie nah sie der Wahrheit waren. »Das befrackte Skelett« nannten sie ihn zuweilen. Es traf zu, er war dürr wie ein Gerippe, dafür entkam er flink durch den schmalsten Spalt. Gesehen wurde er nur dann, wenn er es wollte, andernfalls bewegte er sich unbehelligt durch das Palais Garnier. Diesmal nahm er eine Abkürzung in die dritte Versenkung. Er eilte zurück zu seinem Haus am See, um sogleich einen neuen Brief aufzusetzen.

***

Als Erik das Louis-Philippe Zimmer betrat, vernahm er den Schrei der Sirene. Jemand musste in die dem Versteck vorgelagerte Folterkammer gefallen sein. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als notwendig erwies. Erik schnaubte, als er den Ton abstellte und nach dem bedauernswerten Opfer sah. Wer wagte es? Und war die Person noch am Leben? Weshalb kamen die Leute ungefragt zu ihm? Es war nicht so, als bereitete das Töten ihm Freude.

Die Folterkammer, eine hexagonale Spiegelkammer aus deren Ecke ein eiserner Ast herausragte, war dunkel, als Erik die Tür öffnete. Ein kühler Hauch kam ihm entgegen, unterlegt von einem leichten Geruch nach Erbrochenem. Erik bedeckte das, was seine Nase hätte sein sollen, und machte sich daran, die Kammer zu untersuchen. Alsbald entdeckte er den armen Narren mit dem Punjab-Lasso um den Hals gezurrt.

»Armer, unglücklicher Buquet«, murmelte Erik vor sich hin. »Immerzu unachtsam. Sie waren gewarnt.« Er löste das Lasso, an dem Buquet hing, von dem Ast, darüber grübelnd, den Kulissenschieber in die dritte Versenkung zurückzuschaffen. Er musste den Leichnam so schnell wie möglich loswerden. Sollte jemand anderes sich um die Überreste kümmern.

***

Sekretär Remy, verwirrt und ratlos wegen der Briefe an die Direktion, fühlte sich weiter in Verlegenheit gebracht, als Richard rief: »Was im Namen Meyerbeers geht da draußen vor?« Der Direktor schwang die Tür auf und stapfte in den Korridor. Remy folgte ihm, erstaunt, nahezu das gesamte Corps de ballet vor dem Büro versammelt zu finden. Alle schnatterten durcheinander, aufgeregt wie eine Schar junger Amseln.

»Was hat das zu bedeuten?« explodierte Richard.

Die Ballettratten verstummten sofort und starrten ihn an. Gerade als Richards Gesicht nicht mehr hätte röter werden können, trat eines der Mädchen vor und flüsterte: »Es war der Operngeist!«

»Verzeihung?«

»Wir haben ihn gesehen! Der Operngeist verschwand vor unseren Augen!«

Unterdessen war Moncharmin dazu getreten, um herauszufinden was diese Aufregung bedeutete.

»Der Operngeist! Ich verstehe. O.G.! Moncharmin, da haben wir es!« Richard drehte sich nach seinem Geschäftspartner um. »O.G. steht offenbar für Operngeist!« Dann wieder an die Ballerinen gewandt: »Und was wollte er von euch? Hat er nach Geld verlangt?«

»Nein, Monsieur. Er hat nichts verlangt. Er ging vorüber und verschwand dann einfach.« Das Mädchen sprach mit einer Aufrichtigkeit, dass Richard sich am liebsten in die Faust gebissen hätte.

Remy fühlte sich genötigt einzugreifen. »Gutes Kind, seien Sie nicht albern. Sie verschwenden jedermanns Zeit. Bitte kehren Sie zu Ihren Proben zurück.« Er klatschte in die Hände und versuchte sie fort zu scheuchen, doch keines der Mädchen beachtete ihn. Sie starrten weiterhin auf Richard und Moncharmin; letzterer legte Richard eine Hand auf die Schulter in dem Versuch, die Wut seines Kollegen zu dämpfen.

»Nun gut. Lassen Sie uns über eines im Klaren sein: Geister existieren nicht in dieser Welt. Was oder wen Sie auch gesehen haben, ehe Sie herkamen, es handelte sich um einen Mann aus Fleisch und Blut.«

»Aber Monsieur -«

»Genug! Tun Sie, wozu Sekretär Remy Ihnen geraten hat und verschwenden Sie nicht weiter unsere Zeit.«

Moncharmin nickte zu den Worten Richards, als die jungen Tänzerinnen ihn erwartungsvoll ansahen. Damit war die Angelegenheit entschieden.

Sobald die Ballettmädchen den Korridor hinab entschwunden waren, verschanzten sich die beiden Direktoren mit Sekretär Remy erneut im Büro.

»Damit ich das richtig verstehe«, fasste Richard zusammen, die Augen zu Schlitzen verengt, »Da ist ein Operngeist, der von uns eine monatliche Summe von 200.000 Francs erpresst. Andernfalls … nun, was? Wird er unseren Corps de ballet entführen?«

Remy räusperte sich. »Wenn ich etwas sagen darf. Ihre Vorgänger erwähnten mir gegenüber keinen Geist, aber Gerüchte um ein Phantom halten sich seit geraumer Zeit. Niemand hat es jedoch je gesehen. Allein Madame Giry behauptet, es in seiner Loge gehört zu haben.«

»Nun, diese kleine wie-hieß-sie-noch behauptete ebenfalls, sie habe einen Geist gesehen. Welchen Reim machen Sie sich darauf, Remy?«

»Keinen, Monsieur. Dieser Tage schreiben diese Mädchen jedes kleine Missgeschick dem Phantom zu. Sogar -«

»Monsieur Richard! Monsieur Moncharmin!« Eine aufgebrachte Madame Giry unterbrach sie, indem sie ungefragt das Büro betrat. Einige Sekunden schnappte sie nach Luft, dann setzte sie an: »Messieurs, bitte kommen Sie sofort! Es gab einen Unfall!«

»Einen Unfall?« riefen Richard und Moncharmin einstimmig.

»Ja! Joseph Buquet ist tot! Man fand ihn erhängt im dritten Kellergeschoss, nahe der Kulisse für Le Roi de Lahore

Die Direktoren sahen einander an, dann zurück zu Madame Giry. Das Gesicht der Logenschließerin war bleich wie Papyrus, aber sie wahrte gerade genug Fassung, um auf Richards und Moncharmins Fragen zu antworten.

***

Eiligst verließ Erik sein Versteck in der dritten Versenkung, holte sein Lasso und entschwand hinter einer der geheimen Falltüren. Das Verschwinden des Punjab-Lassos würde mit Sicherheit den Mythos vom Operngeist nur weiter nähren. Später wollte er nochmals alle Sicherheitsvorkehrungen der Geheimtürmechanismen überprüfen. Doch im Moment war es Zeit, sich zurückzuziehen. In seinem Kopf drehte sich alles, er musste sich beruhigen, brauchte die Musik, um wieder klar denken zu können. Mehr noch brauchte er sein Morphium.

***

»Es darf nichts an die Öffentlichkeit! Buquets Tod ist offiziell ein tragischer Selbstmord.«

Moncharmin stimmte Richard zu und nahm Madame Giry erneut das Versprechen ab, bei ihrer Version der Wahrheit zu bleiben. »Sagen Sie es den Mädchen, falls die Sie fragen sollten. Die Polizei hat es bereits als Tatsache akzeptiert«, log er.

»Wie Sie wünschen, Messieurs.« Girys Hände ballten sich in ihrem Rock, als sie den Kopf neigte.

»Und kein Wort mehr über das Phantom. Die Leute kommen nur auf dumme Gedanken.«

»Welche Gedanken, Monsieur?«

»Nun, erstens,« brummte Richard missvergnügt, »könnte man Sie für verrückt halten.«

Madame Giry blinzelte. »Aber ich bleibe weiterhin seine Logenschließerin, oder? Und überbringe seine Briefe?«

»Pardon?«

Ehe Richard Gelegenheit bekam erneut zu poltern, sagte Moncharmin mit einem schmalen Lächeln: »Selbstverständlich. Danke für Ihre Dienste. Sie dürfen sich zurückziehen.«

Als die Logenschließerin draußen war, knallte Richard seine Faust auf den nächstbesten Tisch. »Ist das ein schlechter Scherz? Zuerst die Briefe, nun Buquet. Falls irgendetwas davon publik wird, wird der Vicomte vermutlich bald nicht mehr so großzügig sein.«

Moncharmin blieb unbeeindruckt. Er ging um den Tisch herum und setzte sich. »Mit Sicherheit handelt es sich um keinen Scherz, mein lieber Richard. Es ist eine Intrige und jemand zieht im Hintergrund die Fäden. Und ich bin ganz bei dir, der Vicomte wird es sich zweimal überlegen, sollte er je hinter die Geschichte mit dem Phantom kommen. Aber sorge dich nicht. Lass das die Polizei untersuchen. Bald haben wir den Schuldigen gefunden. Gegenwärtig führen wir unsere Geschäfte einfach fort wie gewohnt.«

Richard atmete tief durch. »Du hast recht. Es lässt sich nicht ändern. - Wo ist Sekretär Remy?« Erst jetzt fiel Richard dessen Abwesenheit auf.

»Gegangen. Mir scheint, du bist nicht bei der Sache. Soll ich ihn herkommen lassen?«

»Nein. Nein, vielen Dank.« Richard nahm ebenfalls Platz und begann, einige Papiere durchzusehen. »Allerdings sollte jemand Buquets Familie benachrichtigen.«

»Betrachte es als erledigt.«

***

Die Nachricht vom Tod Buquets verbreitete sich rasch unter den Angestellten; manche beschuldigten das Phantom, während andere an einen Unfall oder sogar Selbstmord glaubten.

Als Christoph erstmals davon hörte, tat es ihm leid um den Kulissenschieber, obwohl er ihn kaum gekannt hatte. Er hoffte nur, das Phantom habe damit nichts zu tun. Dennoch erzählte er niemandem von seiner Begegnung mit Erik. Er dachte daran, Madame Giry zu befragen, denn sie schien mehr als andere zu wissen. Immerhin behauptete sie, die persönliche Logenschließerin des Phantoms zu sein.

Nach den Proben kehrte Christoph in seine Garderobe zurück, zog das Briefpapier aus der Schublade des Chiffoniers und schrieb zügig ein paar Zeilen. Seine Gedanken trieben unruhig umher. Er musste mehrmals ansetzen, um die richtigen Worte zu finden. Mitten im Satz fiel im auf, dass er die Melodie vor sich hinsummte, mit der Erik ihn gelockt hatte. Es war ein Lied wie jedes andere, das ihm dabei seltsam vertraut vorkam. Woran erinnerte es ihn? Während er schrieb, summte er weiter vor sich hin, bis es ihm plötzlich einfiel: Das Schlaflied, das er aus Kindertagen kannte. Sein Vater hatte es ihm oft auf der Geige vorgespielt. Doch woher kannte Erik das Lied? Oder war es Zufall?

Christoph ließ die Schreibfeder sinken und seufzte. Erik schien ihn bereits eine Zeitlang beobachtet zu haben und hatte auf diese Art möglicherweise von dem Lied erfahren. Vielleicht hatte er schon früher das Lied gedankenverloren vor sich hingesummt.

Erneut seufzte Christoph und nahm die Feder wieder auf. Er füllte einen Bogen Papier und steckte den Brief in den bereit liegenden Umschlag. Nachdem er ihn verschlossen hatte, legte er ihn gut sichtbar auf der Kommode ab. Dann griff er sich seinen Mantel und verließ den Raum.

Auf dem Weg nach unten fragte er einen der Mitarbeiter nach Madame Giry. Er fand sie im ersten Stock.

»Mein lieber Junge, ich dachte, du seist längst zu Hause«, bemerkte sie, »Was kann ich für dich tun?«

»Ehrlich gesagt habe ich eine Frage an Euch, Maman Giry.«

»Nur zu, junger Mann.«

Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Es geht um das Phantom … den Operngeist.«

Alarmiert legte Madame Giry einen Finger an die Lippen. »Bitte sprich nicht von ihm. Nicht hier.«

Sie nach dem Warum zu fragen erübrigte sich, als sie ihn sofort darauf mit sich zu den Rängen zog.

»Lass uns hier hinein gehen.« Sie öffnete die Tür zu Loge fünf, die sie ebenso geschwind hinter ihnen schloss. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass niemand sie vom Auditorium aus hätte beobachten können.

»Ist das nicht seine Loge?«

»Ja, aber momentan ist er nicht hier. Wir sind sicher. Niemand wird uns belauschen.« Sie bat ihn, sich in einen der Fauteuils zu setzen, während sie selbst es vorzog zu stehen.

Christoph sah sich um in der Angst, nicht so allein zu sein wie Madame Giry glaubte. Schließlich fasste er sich ein Herz und fragte geradeheraus: »Ist es wahr, dass Ihr seine Logenschließerin seid?«

Giry nickte stumm.

»Und habt Ihr ihn je gesehen?«

»Nein. Aber ich habe ihn mehrmals gehört, so deutlich wie ich dich höre.« Sie sprach nun ebenfalls mit gesenkter Stimme. »Manchmal hinterlässt er mir sogar eine Art Trinkgeld.«

Christoph sah sie entgeistert an. »Weshalb denn das?«

»Nun, es ist so. Jeden Abend lege ich ein Programmheft für ihn bereit, und wenn ich nach der Vorstellung zurückkomme, finde ich manchmal eine Schachtel meiner Lieblingspralinen oder eine kleine Summe Geld auf dem Tisch vor. Aber das ist nicht alles.«

»Was noch?« Christoph erhob sich aus dem Sessel, erstaunt über das eben Gehörte.

»Er ist ein mächtiger Mann, verstehst du? Die Oper ist sein Reich, in dem er tun kann, was immer ihm gefällt. Er kann durch Wände gehen, in verschlossene Räume eindringen; er sieht und hört alles. Seine Anweisungen zu missachten, ist sehr unklug.«

»Aber wer ist er? Wenn schon kein Geist ...«

»Du hast Recht. Doch still!« Beschwörend legte sie einen Finger an die Lippen. »Es ist gefährlich, ihn und seine Methoden zu hinterfragen. Lass mich dir eines sagen: Vor seinem Auftauchen war meine Meg eine Ballerina unter vielen. Aber dank ihm nahm unsere frühere Direktion sie wahr und gab ihrem Talent eine Chance. Nun ist sie auf bestem Weg, die nächste Sorelli zu werden.«

Christoph sank zurück in den Fauteuil. Er war Zeuge geworden von Eriks Macht, zu manipulieren, seinem mysteriösen Charakter. Doch nie hätte er sich vorgestellt, dass dessen Einfluss auf die Opernleitung so weit reichte.

»Ich muss Euch auch etwas erzählen.« Bebend ergriff er Madame Girys Hände und sah sie eindringlich an. »Ich habe ihn getroffen.«

Giry schnappte nach Luft und bedeckte ihren Mund. »Oh, mein lieber Junge ...« Ihr Rock raschelte, als sie zu ihm niedersank. »Das darfst du niemandem erzählen, hörst du? Begib dich nicht in Gefahr!«

Langsam nickte Christoph. Obwohl er nicht mit dieser Reaktion gerechnet hatte, bestätigte sie doch seinen Eindruck, dass Erik ein gefährlicher Mann war. Doch er würde ihm nicht entkommen, es sei denn, er verließ die Oper. Daran war nicht zu denken. Mehr noch, hegte er nicht die Absicht, sich von Erik fernzuhalten; zu sehr faszinierte ihn dessen musikalisches Genie. Der Engel der Musik, von dem sein Vater so gern gesprochen hatte, wenn er ihm, Raoul und Daphne die bretonischen Märchen vortrug; ein Meister, von dem Christoph viel zu lernen hatte.

Der Gedanke an Daphne und Raoul ließ ihn aufschrecken. Seit dem Galaabend hatte er von beiden nichts gehört. Für sein Fernbleiben schuldete er ihnen sicher eine Erklärung. Hastig sprang er aus dem Sessel und half auch Madame Giry aufzustehen. »Vielen Dank, Maman Giry. Ich verspreche, mich nicht in Gefahr zu begeben. Ihr habt mir sehr geholfen.«

»Gern, mein Junge. Niemand hört auf mich, wenn ich von dem Phantom erzähle. Sie alle halten einen Operngeist für amüsant. Die neue Direktion ignoriert ihn. Aber sollten sie je seinen Zorn auf sich ziehen, sind wir alle verloren.« Mit dramatischer Geste hob sie den Saum ihres Rocks und verließ die Loge.

Als Christoph ins Freie trat, hatte die Nacht sich bereits über die Stadt gelegt. Gaslaternen warfen ihr warmes gelbes Licht auf das Pflaster. Ein leiser Wind wehte Christoph entgegen, als er die Treppe hinunter stieg. Unten angekommen, bemerkte er auf der anderen Straßenseite einen Equipagewagen. Bei näherem Hinsehen erkannte er das Wappen der Chagnys.

Als hätte er darauf gewartet, sprang Raoul aus der Kutsche und winkte Christoph herüber. Sobald sie gemeinsam eingestiegen waren, fuhr die Kutsche an.

»Du bist spät dran, mein Freund«, verkündete Raoul nonchalant. »Fast hätte ich das Warten aufgegeben.«

»Ich wusste nicht, dass du auf mich wartest.« Betreten sah Christoph zur Seite.

»Gräme dich nicht. Ich habe etwas für dich.« Er überreichte Christoph einen kleinen Umschlag. »Mit den besten Grüßen von Tante Cecil. Wir sind zum Dinner bei ihr eingeladen.«

Langsam öffnete Christoph den Umschlag und betrachtete die Karte. »Wie, heute Abend? Aber ich ...«

»Danke mir später. Ich habe ihr dein Kommen bereits zugesagt.«

Von Raouls Zudringlichkeit überrumpelt, öffnete Christoph den Mund, als wollte er etwas erwidern, blieb jedoch stumm. Einige Sekunden lang starrte er auf die Einladung und richtete dann seinen Blick nach draußen auf die vorbeiziehende Landschaft.

»Ach komm, weshalb so trübsinnig? Genieße den Abend! Wir werden die verpasste Gelegenheit vom letzten Samstag nachholen. Daphne wird sich über dein Erscheinen freuen, dessen bin ich sicher.«

Christoph lächelte schwach. »Gewiss.«

***

Das Morphium machte Erik schlaftrunken, unfähig, an seinem Lebenswerk weiterzuarbeiten. Der Triumph des Don Juan war eine Oper, wie sie noch kein Mensch gehört hatte: gewalttätig, hinreißend, von ohrenbetäubendem Lärm und voll wehmütiger Seufzer. Das Komponieren beschäftigte ihn immer dann, wenn er nach einem Ventil für seine Gefühle suchte, die er mit keinem Menschen teilen konnte.

Nach einigen Stunden Schlaf beschloss er, frische Luft zu schnappen. Seine Taschenuhr zeigte ihm kurz nach acht Uhr an. Erik legte seine Maske an und warf sich einen schwarzen Umhang um, dessen Kapuze gänzlich sein Gesicht verhüllte. Dann verließ er sein Versteck an dem Ort, an dem er Christoph fortgeschickt hatte.

Trotz Maske und Handschuhen fühlte Erik die abendliche Kälte auf seiner Haut. Den Umhang enger um sich ziehend, duckte er sich in den Schatten der Oper und lief in einem Bogen zu deren Haupteingang. Geschickt entzog er sich den Blicken der wenigen Passanten, die zu dieser Zeit unterwegs waren. Gerade fuhr ein Equipagewagen an, der auf den Hausmann Boulevard zuhielt. Mit den Augen folgte er der Kutsche und erhaschte einen kurzen Blick auf deren Insassen. Es war Christoph! Seit ihrer Begegnung hatte Erik versucht, jeden Gedanken an ihn zu verdrängen, da ihn nichts anderes beschäftigte, als einen Weg zu finden, Christoph wiederzusehen. Natürlich konnte er ihm von seiner Loge aus während der Proben zuhören. Doch es war nicht dasselbe wie mit ihm zusammen zu singen und für ihn auf der Geige zu spielen.

Sein Herz schlug so heftig, dass es in seinen Ohren schallte. Es brachte ihn fast um den Verstand. Sollte das eine Nebenwirkung des Morphiums sein? Mittlerweile wusste er es besser.

Die Kutsche war längst seinem Blickfeld entschwunden, als Erik wieder in der Lage war sich zu rühren. All seine Pläne für einen nächtlichen Ausflug lösten sich augenblicklich auf. Er machte auf dem Absatz Kehrt und eilte zurück in die Oper. Natürlich hatte er das Emblem der Chagnys auf der Kutsche erkannt. Der Vicomte hatte der Oper eine großzügige Summe Geld gespendet, soviel wusste Erik. Es ging ihn auch nichts an, mit wem Christoph seine freie Zeit verbrachte. Dennoch … Erik verstand nicht, weshalb es ihm so viel ausmachte, Christoph in der Gesellschaft des Vicomtes zu sehen.

Außer Atem erreichte er den geheimen Korridor, der ihn in Christophs Garderobe führte. Vorsichtig drehte er die Feder und schlüpfte durch den Spiegel in den dahinter liegenden Raum. Dunkelheit umgab ihn und eine Stille, in der nur sein eigener Atem zu hören war.

Erik entzündete die kleine Tischlampe und sah sich um. Alles stand an seinem Platz, wie er es erwartet hatte. Noch immer hingen Reste von Christophs Geruch in der Luft. Erik atmete tief ein und ließ sich in die Polster sinken. Schläfrigkeit überkam ihn und er hatte keinen Elan, sich dagegen zu wehren. Allein an einem Ort zu sitzen, der für gewöhnlich Christoph vorbehalten war, entzückte ihn. Für einen Moment fand er Ruhe und vergaß das Monster, das andere Menschen in ihm sahen.

Als er die Augen wieder öffnete, entdeckte er einen gut versiegelten Umschlag. »Für O.G.« stand darauf geschrieben. Christoph hatte ihm einen Brief geschrieben. Binnen Sekunden fiel alle Müdigkeit von Erik ab und ein neuer Tatendrang beflügelte ihn. Er war versucht, das Couvert sofort aufzureißen, doch beschloss, das Lesen zu verschieben, bis er zurück in seinem Versteck war. Ohne sich darum zu scheren, ob andere ihn hörten oder sahen, stürmte er die Treppen hinab ins fünfte Untergeschoss.

***

Daphne begegnete Christoph mit kühler Höflichkeit. Ihr war anzusehen, dass sie ihm sein plötzliches Verschwinden am Galaabend verübelte.

»Es tut mir aufrichtig leid, Mademoiselle. Gibt es einen Weg, die Euch zugefügte Kränkung wiedergutzumachen?«

»Nun«, sagte sie, als dächte sie über seinen Vorschlag nach, »Wenn du mich auf einen Spaziergang ausführtest, ändere ich vielleicht meine Ansicht.«

»Mit Vergnügen, Mademoiselle.« Er verneigte sich gerade genug, um ihr ein Lächeln zu entlocken.

»Dann lass uns morgen im Jardin des Tuileries flanieren. Für heute hat Maman ein zauberhaftes Essen bereiten lassen.«

Christoph folgte ihr in den Saal, in dem Raoul und Madame de Lacroix neben ein paar anderen Gästen bereits warteten.

Die Maske aus schwarzem Samt

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