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Kapitel 3: Der Engel der Musik

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Die Nachmittagssonne stand bereits tief, dennoch drehte Daphne ihren aufgespannten Schirm aus weißer Spitze in ihren behandschuhten Händen hin und her. Sie und Christoph spazierten zwischen den Blumenbeeten des Jardin des Tuileries und umrundeten einen der Springbrunnen. Mancher mochte sie im Vorübergehen für ein Paar halten, doch weder Christoph noch Daphne störten sich an den neugierigen Blicken, die ihnen Passanten zuweilen zuwarfen.

»Erzähl mir doch, Chris, wohin bist du in jener Nacht so plötzlich verschwunden? Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht.«

»Es tut mir sehr leid, Mademoiselle. Ich ...«

»Jetzt sag nicht, du fühltest dich nicht gut. Raoul mag deine Ausrede geschluckt haben, aber mir machst du nichts vor.«

Überrascht von ihrem Temperament runzelte Christoph die Stirn. Schließlich erwiderte er lächelnd: »Du wirst mir das vermutlich nicht glauben.«

»Das überlass' getrost mir.«

Entgegen seines Entschlusses, das Geschehen jener Nacht für sich zu behalten, weihte er Daphne in das Geheimnis - seines und Eriks - ein. Dabei verzichtete er auf die Erwähnung von Eriks Namen.

Nachdem sie eine Weile durch die Alleen geschlendert waren, setzten sie sich in eines der kleinen Cafés. Daphne streifte ihre Handschuhe ab. In ihren Augen funkelte es aufgeregt.

»Willst du damit sagen, du bist dem Phantom der Oper begegnet?« Sie blickte rasch umher, um sicherzugehen, dass sie ungestört reden konnten. Außer ihnen gab es noch eine Gruppe junger Männer, die weit genug weg saßen und sich angeregt unterhielten.

»Sieht ganz so aus«, erwiderte Christoph mit einem Schulterheben. Er beugte sich ein Stück zu ihr vor. »Versprich mir, dass du keinem Menschen davon erzählst. Nicht einmal Raoul.«

Ein verstohlenes Lächeln umspielte Daphnes Lippen. »Kein Wort von mir, das verspreche ich. Davon abgesehen hat Raoul nicht genug Phantasie, um an das Phantom zu glauben. Eher hielte er dich für verrückt.«

Christoph lächelte ebenfalls. »Vielleicht bin ich das.«

Sie tranken ihren Kaffee und Daphne bestellte sich ein Stück Cremetorte.

»Wie ist er denn so? Außer seiner geheimnisvollen Erscheinung.«

»Nun ja«, begann Christoph und setzte seine Tasse ab, »Er hat eine merkwürdige Art, Bekanntschaften zu schließen. Aber als Musiker ist er phantastisch. Fast als wäre er nicht von dieser Welt.«

»Dein Engel der Musik«, stieß Daphne atemlos hervor.

»In gewissem Sinn. Wobei Dämon es sicher besser trifft.«

»Chris! Du hast selbst gesagt, sein Gesang hat dich tief bewegt.«

»Das ist wahr. Dennoch hat er etwas zutiefst Angsteinflößendes an sich. Es ist besser, sich von ihm fernzuhalten.« Dabei hatte er nicht vor, seinen eigenen Rat zu befolgen. Auch dieses Detail beschloss er für sich zu behalten. »Aber lass uns von etwas anderem reden. Ich gestehe, Raouls Einladung zum Dinner kam völlig unverhofft. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich angemessen zu kleiden.«

»Er hat dich direkt aus der Oper entführt, nicht wahr?« Sie kicherte amüsiert und teilte mit der Kuchengabel ein mundgerechtes Stück von der Cremetorte ab. »Aber ein bisschen verstehe ich ihn. Er wird bald seinen Militärdienst wiederaufnehmen, deshalb möchte er so viel Zeit wie möglich mit dir verbringen.«

An Raouls Verpflichtung beim Militär hatte Christoph nicht gedacht. Als ihm klar wurde, dass er ihn vermutlich über einen langen Zeitraum hinweg nicht wiedersehen würde, verfiel er in Schweigen.

»Sei nicht traurig, Chris. Er hat versprochen, jeden Tag zu schreiben.«

»Es ist ja nicht, als sendeten wir Truppen nach Tunesien aus«, sagte Christoph mit wenig überzeugendem Lächeln.

»Dorthin wird er nicht entsendet«, beharrte Daphne. Sie legte die Gabel beiseite und trank einen Schluck Kaffee. »Was hältst du davon, wenn ihr euch noch einmal trefft, bevor er seinen Dienst antritt? Wir könnten am Sonntag alle zusammen zu Mittag essen?«

»Ich fürchte, dem muss ich absagen«, versuchte es Christoph mit einer Entschuldigung, »Übers Wochenende verreise ich für ein paar Tage und werde vor Montag nicht zurück sein.«

Daphne neigte ihren Kopf, wobei ihre Korkenzieherlocken hin und her wippten.

»Du verreist?«

»Ich besuche das Grab meiner Eltern. Und da beide in Perros begraben liegen, wird die Reise eine Weile dauern.«

Mit zögernder Stimme setzte Daphne hinzu: »Du reist allein?«

»Mach dir keine Sorgen, Mademoiselle, ich komme zurecht.«

Das schien sie etwas aufzuheitern und sie nickte ihm zu. »Gut. Ich erwarte dich gesund zurück. Jetzt ist es Zeit für etwas Schokolade. Was meinst du?«

Christoph erwiderte ihr Lächeln. »Sehr gern.«

Die Dämmerung senkte sich über die Dächer der Stadt, als Christoph eine Kutsche anhielt, die Daphne nach Hause brachte. Es grämte ihn, sie angelogen zu haben. Doch nach dem Tod Buquets und Madame Girys eindringlichem Rat, sich von allem fernzuhalten, was mit dem Operngeist zu tun hatte, war er nicht imstande gewesen, ihr von seinen Absichten zu erzählen. Seine selbstsüchtigen Gründe, das Essen mit Raoul abzusagen, hätten sie sicher betrübt.

***

Die Proben für Idomeneo ließen Christoph kaum Zeit für andere Dinge. Drei Mal in der Woche gab es eine Abendvorstellung, in der er die Rolle des Idamente sang. Andernfalls standen kaum Falsetto freundliche Opern auf dem Programm.

»Keine Sorgen, mein Junge«, beschwichtigte ihn Madame Giry, »Falsetto mag dieser Tage nicht besonders populär sein, aber mit dir ändert sich das sicher bald.«

»Das ist sehr freundlich von Euch.« Christoph lächelte. Nach ihrem Gespräch in Loge fünf versuchte er das Thema Operngeist zu meiden und war dankbar, dass Madame Giry es ebenso hielt.

Auf ihrem Weg ins Foyer de la Danse fragte sie ihn beiläufig: »Wer ist im Moment eigentlich dein Lehrer?«

Die Frage klang unschuldig gestellt, doch Christoph wusste, dass mehr dahinter steckte. Als Countertenor einen Lehrer zu finden, war schwierig.

»Noch habe ich keinen, aber ich arbeite daran.« Ehe sie weiter nachhaken konnte, setzte er hinzu: »Dieses Wochenende treffe ich jemanden und wir werden sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«

Zu seiner Erleichterung trat die kleine Meg hinzu, die sich für ihr Stören entschuldigte.

»Schon gut, ich wollte sowieso gerade gehen«, versicherte Christoph.

Wie erwartet, hatte Erik den Brief in der Garderobe an sich genommen. Zudem fand Christoph eine neue Rose vor, ohne Karte oder Gruß. Seine Hände wurden kalt bei dem Gedanken, Erik wiederzusehen. Zitternd vor Aufregung dachte er an das Wochenende.

***

Es war später Nachmittag, als Christoph Perros Guirec erreichte. Die Stadt der Feen und Geister barg für ihn viele Kindheitserinnerungen. Als seine Eltern noch am Leben waren, hatten sie in einem kleinen Landhaus nahe der Küste gewohnt. Jeden Sommer kam Raoul sie besuchen, während er bei seiner Tante in Lannion residierte. Sie gingen schwimmen und erkundeten den Ort, lauschten den alten Geschichten, die die Leute sich erzählen. Der alte Daaé kannte die schönsten bretonischen Sagen, die er am Lagerfeuer den staunenden Kindern erzählte. Später griff er zu seiner Violine und spielte die wunderlichsten Melodien. Christoph begleitete seinen Vater mit Gesang, und errötete jedes Mal, wenn Raoul ihm Komplimente machte. Seine Stimme hatte schon damals diesen weichen Klang besessen, der an Elfen und Feen denken ließ.

Die Erinnerungen versetzten Christoph in eine melancholische Stimmung. Er stieg aus der Kutsche und betrat das Ar Peniti, in dem die Wirtin ihn bereits erwartete.

»Guten Abend, Monsieur Daaé. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Ein Gentleman hat bereits nach Ihnen gefragt. Ich habe ihm ausgerichtet, dass Sie nicht vor sieben ankommen werden. So lange wollte er nicht warten und ist deshalb wieder gegangen.« Sie händigte ihm den Schlüssel für sein Zimmer aus.

»Hat er seinen Namen genannt?«

»Leider nein. Ich fürchte, ich habe vergessen, ihn zu fragen.«

»Wie sah er aus?«

Die Wirtin überlegte kurz. »Ich würde sagen, wie jeder andere Herr. Er war so groß wie Sie, aber sehr dünn, säuberlich gekleidet und mit den besten Manieren. Sein Gesicht allerdings war aschfahl. Fast so, als sei es aus Wachs. Seine Nase wirkte irgendwie transparent.«

Die Beschreibung traf ungefähr auf Erik zu, doch da Christoph dessen Gesicht nicht kannte, konnte er nicht sicher sein. Dann wiederum gab es niemanden außer Erik, der Grund hatte, ihn im Ar Peniti aufzusuchen.

»Vielen Dank, Madame. Falls er wiederkommen sollte, richten Sie ihm bitte aus, mich um neun Uhr in der Kapelle zu treffen.«

»Sie möchten heute Nacht noch ausgehen?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Die Wirtin beeilte sich ihm zu versichern, sie habe keine Einwände. Nachdem sie ihn auf sein Zimmer geführt hatte, überreichte sie ihm einen weiteren Schlüssel für den Haupteingang. Somit konnte Christoph kommen und gehen wie es ihm gefiel.

»Frühstück gibt es bis 9 Uhr. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und einen schönen Aufenthalt.«

»Danke.«

Wieder allein, schlüpfte Christoph aus seinem Mantel und entzündete eine kleine Petroleumlampe. Anschließend öffnete er das Fenster zum Lüften. Die Sonne ging unter und tauchte den Himmel in tiefes rot. Die Eiche direkt neben dem Fenster wirkte wie ein vom Himmel geworfener Schatten. Sanft wogen ihre Zweige im Wind. Christoph sog den vertrauten Geruch von Salz und Gras ein, der von der Küste her wehte. Wenn er genau horchte, vermeinte er sogar die Wellen zu hören, die sich an den Felsen brachen.

Eine Melodie kam ihm in den Sinn. Das Schlaflied, das sein Vater ihm stets auf der Violine vorspielte, wie in der Nacht, in der Christophs Mutter starb. Er erinnerte sich daran, wie sie ihm früher vorgesungen hatte. Ihm sank das Herz, als er sich vom Fenster entfernte. Die Augen schließend, kam es ihm vor, als hörte er die Melodie selbst jetzt. Bald war er sicher, dass es nicht nur seine Einbildung war. Die Töne schwollen an, der Gesang wurde klarer und trug die vertrauten Strophen zu ihm hinauf. Christoph fuhr herum, um mit eigenen Augen zu sehen, ob er den Verstand verloren oder seinen Mentor gefunden hatte.

Das Zwielicht gab nichts preis, daher schnappte sich Christoph seinen Mantel und rannte nach draußen, die Treppe hinunter, hinaus auf den Hof. Kaum eine Minute später stand er neben der Eiche und suchte außer Atem die Gegend mit den Augen ab. Der Gesang verstummte.

Wie ein Geist trat Erik aus dem Schatten und blieb eine Armlänge von Christoph entfernt stehen. Stumm sahen sie einander an, wie bei ihrer ersten Begegnung. Erik trug einen Abendanzug und hatte die Maske wieder aufgesetzt, doch in seinen Augen lag ein goldener Schimmer, der Christoph faszinierte. Erst als Erik reglos verharrte, bemerkte Christoph sein Starren und riss sich los.

»Da seid Ihr«, sagte er ohne die geringste Überraschung.

Erik schnaubte, entspannte sich aber und schien hinter der Maske zu lächeln.

»Es ist lange her.«

»Kaum zwei Wochen.« Er entbot Erik seinen Arm. »Gehen wir ein Stück?«

Einen Moment lang zögerte Erik, als sei er unsicher, ob er das Angebot annehmen sollte. Schließlich lehnte er ab und folgte Christoph schweigend.

Sie liefen durch die anbrechende Nacht zur Küste, deren Felsen im Mondlicht schimmerten. Dort setzten sie sich in das dünne Gras, das seinen Weg durch die steinige Landschaft geebnet hatte. Die See lag still wie ein mächtiges, dunkles Tier, das friedlich schlief.

»Bei Tag hätten wir vermutlich eine bessere Sicht, aber dann ...«

»Es ist gut«, unterbrach Erik nonchalant. »Ich bevorzuge ohnehin die Nacht.«

Christoph lächelte und fühlte, dass Erik es ihm gleich tat. Eine Zeitlang saßen sie stumm nebeneinander, betrachteten die Sterne und sogen die salzige Luft ein.

»Als ich ein Kind war«, begann Christoph, »erzählte mir mein Vater gern Geschichten aus dem Norden. Eine handelte von einem Mädchen namens Lotte: Sie liebte Tagträumereien und ihre Geige, aber am liebsten hörte sie vor dem Schlafengehen dem Engel der Musik zu. Jede Nacht besuchte sie der Engel und sang für sie. Inspiriert von den himmlischen Melodien, spielte Lotte ihre Geige bald besser als viele derer, die älter waren als sie.«

»Sind wir hier, damit du in deinen Kindheitserinnerungen schwelgst?«, fragte Erik rundheraus.

»Nein. Durchaus nicht. Wir sind hier, weil ich Euch um etwas bitten möchte.«

»Nur zu!«

»Es ist so ...« Christoph wandte sich zu Erik um und suchte dessen goldene Augen, »Ich bitte Euch, mein Mentor zu werden.«

Ein Wind kam auf, als Erik sich erhob. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. »Das kann ich nicht tun«, antwortete er mit gesenkter Stimme.

Christoph stand ebenfalls auf. »Ist Eure Entscheidung endgültig?«

Erik zischte. »Was weißt du schon, Junge? Weshalb um alles in der Welt willst du so dringend mein Schüler werden?«

Verblüfft über Eriks unerwartete Härte taumelte Christoph einen Schritt zurück. Dennoch entging ihm nicht Eriks Zittern. Der Mann in der Maske ballte die Hände zu Fäusten, wie um sich selbst zu beruhigen.

»In Ordnung. Wenn es Euch eine solche Last ist … Verzeiht meine Unverfrorenheit. Ich werde nicht wieder fragen.« Christoph setzte sich erneut und zog die Knie zu sich heran. Sein Mantel schützte ihn kaum gegen den eisigen Wind, der vom Meer heraufzog. Die Kälte trieb Christoph Tränen in die Augen, doch er rührte sich nicht. Er hielt seinen Blick auf das Meer gerichtet, bis auch Erik sich wieder setzte.

»Dieser Engel der Musik«, begann Erik, »Was hat dein Vater dir noch über ihn erzählt?«

Letztlich machte Christoph der aufkommende Wind kaum etwas aus. Er blinzelte die Tränen weg und fasste sich. »Der Engel der Musik«, erzählte er, »war Bestandteil nahezu all seiner Geschichten. Jeder begabte Musiker, so sagte er, wird ihn eines Tages hören und durch das Vernehmen seiner Stimme Perfektion erlangen. Manche aber werden seine Stimme niemals hören, weil es ihnen an Hingabe zur Musik mangelt. Oft erscheint der Engel, wenn man am wenigsten damit rechnet. In Zeiten großer Verzweiflung und Traurigkeit.« Er unterbrach sich und überlegte, welche anderen Dinge sein Vater ihm erzählt hatte und weshalb er überhaupt davon angefangen hatte. Vielleicht, weil Daphne Erik so treffend mit dem Engel der Musik verglichen hatte, dass Christoph sich wünschte, die Erzählungen seines Vater wären wahr.

»Ich verstehe.« Ein Moment verstrich. Dann drehte Erik sich Christoph zu und fragte: »Weshalb hast du ausgerechnet Kontratenor gewählt?«

Die Frage war berechtigt, wenn man bedachte, dass Falsett im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert kaum jemanden interessierte. Erik hatte ein Recht zu erfahren, weshalb er seine Zeit jemanden opfern sollte, dessen Erfolgsaussichten bestenfalls mager waren. Für Christoph war es indes schwer in Worte zu fassen, weshalb er Falsett einem ausgeprägten Bariton vorgezogen hatte. Trotzdem versuchte er sich zu erklären: »Als ich klein war, sangen meine Mutter und ich oft Arien zusammen. Eine der Lieblingsarien meiner Mutter war Ninettas Arie aus La gazza ladra. Doch meine Mutter verstarb, als ich sechzehn war. Mein Vater versuchte, seine Trauer vor mir zu verstecken, aber mir war immer bewusst, wie sehr er sie vermisste. Er ermutigte mich, Gesangsunterricht zu nehmen, um an meinem Bariton zu arbeiten. Das tat ich auch, jedoch fühlte ich mich dabei stets … unvollkommen. Mir fehlten die Arien von früher. Als ich ihm davon erzählte, war er keineswegs überrascht. Er führte mich an den Falsett heran, wohl wissend, dass es schwer sein würde, einen geeigneten Lehrer zu finden, ganz zu schweigen von einem Opernhaus, das einen Kontratenor unter Vertrag nahm. Dennoch gab ich mein bestes. Ich bekam einen Platz am Konservatorium und hoffte … ich hoffte, den Kontratenor wieder einem Publikum näher zu bringen. Ich wollte nicht, dass seine Schönheit in Vergessenheit geriet.«

»In der Tat eine noble Absicht«, merkte Erik an. Dann erhob er sich und straffte seine Schultern. In der Ferne ertönten Kirchenglocken. »Komm, Junge. Es ist nahezu Mitternacht. Sicher solltest du längst zurück sein.«

Christoph stand ebenfalls auf. »Was ist mit Euch?«

Hinter der Maske, so schien es Christoph, hob Erik eine Augenbraue. »Mach dir keine Gedanken. Wenn es dir nichts ausmacht, bringe ich dich zurück. Und wenn du es wünschst, triff mich morgen Abend am Grab deiner Eltern und ich werde dir La Résurrection de Lazare auf meiner Violine vorspielen.«

Dem konnte Christoph nicht widerstehen. Auf dem Weg zum Gasthaus dachte er schweigend an seine Eltern und Eriks Angebot, für ihn auf der Violine zu spielen. Neben ihm herzulaufen fühlte sich gleichzeitig seltsam und wie die natürlichste Sache der Welt an. Erst als sie am Gasthaus ankamen, fiel ihm auf, dass Erik die ganze Zeit über eine Melodie vor sich hingesummt hatte, wie ein beständiges Hintergrundgeräusch, das Christophs Gemüt beruhigte.

»Gute Nacht«, sagte Erik leise; als verabschiedete er einen Geliebten.

»Aber wohin geht Ihr? Außer diesem gibt es weit und breit keinen einzigen Gasthof.«

Vor Erstaunen brachte Erik sekundenlang kein Wort heraus. Warum in aller Welt machte dieser Mann sich derart Gedanken? Niemand hatte ihm je freiwillig Gesellschaft geleistet. Christoph hingegen hatte ihn sogar eingeladen und war dabei, dieselbe Torheit zu wiederholen. Es schien ihm ernst zu sein.

Das Atmen fiel ihm unter der Maske mit einem Mal schwer, daher drehte Erik Christoph den Rücken zu. Sarkasmus blieb seine letzte Waffe: »Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gern etwas Raum für mich allein.«

Einen Ort zum Schlafen würde er schon finden, und wenn es auf die Friedhofskapelle hinauslief. Ohne Christophs Antwort abzuwarten, brach er auf.

Ziellos streifte er durch die nächtlichen Straßen von Perros. Gegen Mitternacht beschloss Erik, den Friedhof aufzusuchen. Der Platz erschien ihm passend für jemanden wie ihn, der aussah wie der Tod selbst.

Christophs Bitte abzuschlagen, war ihm schwergefallen. Ihm ein Lehrer sein, dieses Instrument zu formen, wünschte er sich mehr als alles andere. Doch so sehr Erik sich danach sehnte, Christoph singen zu hören, so wusste er, dass er dazu kein Recht hatte. Solange Christoph an ihn als einen geheimnisvollen, leicht exzentrischen Mann denken konnte, war alles in Ordnung.

In die Kapelle einzudringen, war ein Leichtes für Erik, den Meister der Falltüren. Der Ort war so verlassen wie die Straßen zuvor, die Dunkelheit noch zäher. Er schloss das Portal hinter sich und lief den Gang hinunter. Mit jedem Schritt zerrte die Kälte stärker an ihm, doch er versuchte sich einzureden, für ein paar Stunden Schlaf sei es ausreichend angenehm. Das Schlottern seines Körpers ignorierend, legte er sich auf eine der Bänke in der ersten Reihe und schloss die Augen. Er hatte schon an widrigeren Orten geschlafen.

Als er mit zehn Jahren von zu Hause geflohen war, hatte er die meiste Zeit in Wäldern zugebracht. Bei Tag schlief er und wanderte durch die Nacht. Fremde, die ihn aufspürten, hielten ihn für eine außergewöhnliche Kreatur, mehr Tier als Mensch, da seine Entstellung ihn wenig menschlich erscheinen ließ. Schnell lernte Erik, dass er Respekt vor allem mit Furcht erkaufte. Also lehrte er sie das Fürchten mithilfe kleiner Zaubertricks, die er sich selbst beigebracht hatte. Seine größte Waffe indes blieb seine Stimme; eine Gabe, die all sein finsteres Erscheinen aufgewogen haben mochte, wären die Menschen weniger abergläubisch gewesen. »Das ist die Stimme des Teufels!«, »Haltet euch fern!« - alles kleinere Feindseligkeiten verglichen mit dem Ausmaß an Misshandlung, das ihm während seiner Reisen durch den mittleren Osten widerfahren war.

Er schauderte, als diese lang verschlossen gehaltene Erinnerung plötzlich in ihm aufstieg. Die Kälte ließ ihn zittern, als etwas seinen Körper bedeckte, sich um seine Schultern legte und ihm ein wenig Trost spendete. Erik wagte nicht die Augen zu öffnen, aus Angst, ihr goldener Schimmer verriet ihn. Daher tat er so, als schliefe er.

Schritte entfernten sich, ihr Echo hallte über den Boden. Als er sicher war, wieder allein zu sein, zupfte Erik seine Decke zurecht. Eine angenehme Wärme kroch seinen Rücken hinauf und zum ersten Mal fühlte er sich wohl. Bald hatte der Schlaf ihn überwältigt.

***

Als Christoph den Hof des Gasthauses erreichte, fiel ihm ein Licht hinter einem der Fenster auf. Das Zimmer grenzte direkt an sein eigenes. Er fragte sich, wer der späte Gast sein mochte, erinnerte sich jedoch nicht, jemandem auf seinem Weg zur Küste begegnet zu sein. Was, wenn der andere Erik gesehen hatte? War das vielleicht der Grund gewesen, weshalb der dem Gasthof so schnell den Rücken gekehrt hatte?

Christoph schloss so leise wie möglich die Tür auf und kehrte ohne Umschweife auf sein Zimmer zurück. Der Kamin war gefegt, doch noch immer füllte ein Rest von Wärme den Raum. Kaum hatte Christoph seine Kleider abgelegt, fiel er auf sein Bett und in einen tiefen Schlaf.

Ein Klopfen weckte ihn auf. Christoph blinzelte ein paar Mal, ehe er sich aufsetzte. Das Klopfen hielt an, bis er ein wenig verständliches »Herein« murmelte, während er gedanklich um wenigstens eine weitere Minute bat, um sich anzuziehen. Zu spät bemerkte er seinen Fehler.

»Noch immer im Bett? Mein Freund, es ist fast neun!«

Christoph traute Augen und Ohren nicht. »Raoul?« Mit einem Satz war er auf den Beinen, blieb jedoch wie festgefroren stehen.

»Gut beobachtet! Sicher fragst du dich, was ich hier mache.« Seine Stimme floss über vor Enthusiasmus, während er zum Fenster ging und die Gatter öffnete. Dann wandte er sich zu Christoph um: »Möchtest du mir nicht zum Frühstück Gesellschaft leisten?«

Noch immer perplex, blinzelte Christoph ihn an. Allmählich dämmerte ihm, dass dies kein Traum war. »Ja, sicher. Erlaubst du mir … mich vorher anzukleiden?«

»Selbstverständlich. Bitte verzeih. Ich erwarte dich unten.« Damit verließ Raoul eilig den Raum, schloss die Tür hinter sich und ließ Christoph einmal mehr sprachlos zurück.

Nachdem Christoph sich wieder gefasst hatte, trat er an das Fenster und atmete tief durch. Die Luft war kühl und klar und trug den Geruch des Meeres zu ihm. Der Wind fuhr ihm durchs Haar, kühlte ihm Gesicht und Arme. Christoph betrachtete die Eiche, deren Äste sich wie knochige Arme nach ihm ausstreckten. Von weitem hörte er Leute emsig ihrer Arbeit nachgehen, Stimmen redeten durcheinander, Karren fuhren über das Pflaster, Pferde wieherten. Er fragte sich, ob Erik unter ihnen war und was er machte. Mittlerweile hatte er sicher den Umhang entdeckt, den Christoph ihm überlassen hatte. Ihn in der Kapelle aufzuspüren, war ein leichtes gewesen. Kein Gasthaus hätte zu dieser Zeit seine Türen geöffnet, selbst wenn Erik den Weg dorthin auf sich genommen hätte.

Was jedoch hatte Raoul nach Perros verschlagen? Weshalb war er mitten in der Nacht in die Stadt gekommen? Keinesfalls konnte Christoph ihm von Erik erzählen. Daher blieben seine Antworten auf die Frage, wo er letzte Nacht gewesen sei, recht vage.

»Ich habe einen Spaziergang zur Küste gemacht und mich ein wenig in Erinnerungen verloren.«

»Ich verstehe. Aber weshalb hast du niemandem von deiner Reise erzählt?«, drängte Raoul zu wissen.

»Immerhin habe ich Mademoiselle Daphne davon erzählt. Es sollte nur ein kurzer Ausflug werden, daher hielt ich lange Erklärungen nicht für notwendig.« Seine Worte klangen unerwartet hart.

»Das leuchtet mir ein. Ich war, denke ich, ein wenig enttäuscht von deiner plötzlichen Abreise.«

Christoph setzte seine Teetasse ab. »Weshalb das denn? Was ich hier mache, ist nicht deine Angelegenheit.« Er wusste, er war zu weit gegangen, als er in Raouls Gesicht sah.

»Es tut mir leid«, sagten beide gleichzeitig.

»Schau her«, fuhr Raoul daraufhin fort, »Ich möchte nicht mit dir streiten. Ich kam her, um mich von dir zu verabschieden, nicht um über dich zu urteilen.«

Christophs Blick wurde weicher und er seufzte.

»Ich weiß. Vielleicht hätte ich einen Tag länger bleiben sollen. Aber … es gibt etwas, das ich zu erledigen habe, und ich muss das allein tun. Wenn du mich also entschuldigst.« Ohne sein Frühstück zu beenden stand er von seinem Stuhl auf. Raoul so zurückzulassen war sicher unhöflich, doch Christoph wurde mit einem Mal eines klar: Ihre Freundschaft aus Kindertagen bildete keine Grundlage für ihre gegenwärtige Beziehung. Etwas war unwiederbringlich verloren gegangen.

»Warte bitte«, rief Raoul ihm nach, »Wohin gehst du?«

»Zur Kirche.«

Christoph bat die Wirtin, ihm eine Kutsche kommen zu lassen, ehe er sich auf sein Zimmer begab und sich für die Kirche ankleidete. Noch immer stand das Fenster weit geöffnet und ließ einen kühlen Wind herein. Als Christoph sich daran machte, es zu schließen, fiel ihm ein Kleidungsstück auf, das zusammengefaltet über der Sessellehne lag. Er ging hinüber, breitete es aus und erkannte den Umhang, den er Erik gegeben hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Nachdem er den Umhang beiseite gelegt hatte, trat er erneut ans Fenster und warf einen letzten Blick hinaus.

»Dummer Junge, geh hinein oder du erkältest dich«, mahnte ihn eine Stimme in seinem Kopf. Seltsamerweise war es Eriks Stimme. Doch das war unmöglich; Erik war nirgends zu sehen. Als Kreatur der Nacht mied er mit Sicherheit das Tageslicht. Und doch lag dort sein Mantel; ein Zaubertrick, wie er einem Phantom der Oper würdig war.

Die Kirchenglocken schlugen zehn, als Christoph aus der Kutsche stieg. Die Eingangspforte stand weit offen und gab den Blick auf das zum Altar führende Mittelschiff frei. Ein hölzernes Kruzifix mit einem vergoldeten Christus hing darüber. Christoph näherte sich andächtig, bekreuzigte sich und setzte sich anschließend auf eine der Bänke. Er faltete die Hände zum Gebet. Doch er kam nicht weit. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Nacht zuvor. Erik hatte ihn als Schüler abgewiesen. Obwohl Christoph damit gerechnet hatte, stimmte es ihn traurig. Ohne Mentor hatte er keine Möglichkeiten, seine Fähigkeiten über sein bisheriges Maß zu entwickeln. Und nun, da er Erik kannte, erschien ihm jeder andere Mentor unterlegen.

»Oh Vater, warum hast du mir den Engel der Musik geschickt, nur um ihn mir wieder zu nehmen?« Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Außer ihm knieten drei weitere Gläubige betend, doch sie beachteten ihn nicht.

»Ich weiß, es ist falsch mir zu wünschen, er möge seine Meinung ändern. Und doch kann ich an nichts anderes denken.« Er hielt inne. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass seine Gedanken sich ausschließlich um Erik drehten, seit er Paris verlassen hatte. Deshalb hatte er Raoul abgewiesen. In seinen Gedanken war kein Platz für den Vicomte gewesen.

Christoph presste seine Hände fester aneinander, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Seufzend vergrub er sein Gesicht. »Vater, gib mir die Kraft, das richtige zu tun. Ich habe Angst, das wird kein gutes Ende nehmen.«

Anschließend betete er für die Seelen seiner verstorbenen Eltern.

***

Zum Abendessen traf Christoph erneut auf Raoul. Sein Freund schaute finster drein und lief unruhig auf und ab, bis die Wirtin den Wein brachte. Schweigend nahmen sie ihr Essen ein. Über sein Weinglas hinweg fragte sich Christoph ob Raoul ihm seinen überstürzten Aufbruch am Morgen noch immer übel nahm.

»Wie war dein Tag?«, unterbrach er unverhofft Christophs Gedanken.

Einen Moment lang irritiert sah Christoph ihn an. »Gut. Ich war in der Kirche, wie ich bereits sagte.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja. Ich brauchte Zeit, mir über einige Dinge klar zu werden.«

»Was für Dinge?« Raoul klang ernstlich besorgt.

»Dinge aus der Vergangenheit und Dinge der Gegenwart. Ich kann es nicht genau erklären.«

»Ich verstehe.«

In aller Stille setzten sie ihr Mahl fort.

Dann, sein Glas erhebend, sagte Raoul: »Ich weiß nicht, was dich beschäftigt, aber was immer es ist, du musst nicht allein damit fertig werden. Wenn ich dir helfen kann, zögere nicht, mich zu fragen.«

Verdutzt warf Christoph Raoul einen Blick zu. Nach dem Frühstück hatte er angenommen, der andere bereute seine Reise nach Perros und sei wortlos abgereist. Immerhin war er gekommen, um Abschied zu nehmen. Zumindest hatte er das behauptet.

»Danke.« Christoph brachte es nicht fertig, Raoul von Erik zu erzählen. Wie er den anderen kannte, würde er weit mehr als nur den Namen in Erfahrung bringen wollen. Wenn er erst vom Phantom der Oper wusste, wäre Erik in großen Schwierigkeiten. Ein Wagnis, das Christoph nicht bereit war einzugehen.

Stattdessen fragte er: »Was hast du unternommen, während ich in der Kirche war?«

»Nicht viel«, gab Raoul zu und stellte sein Glas ab. »Die meiste Zeit habe ich im Gasthaus zugebracht und auf dich gewartet.«

»Das hättest du nicht tun sollen.«

»Schon gut. Auch ich musste mir über einiges klar werden.«

»Was denn?«

»Ich habe daran gedacht, meinen Militärdienst um einige Wochen zu verschieben.«

Christoph riss die Augen auf. »Aber … geht das denn?«

»Sorge dich nicht. Ich habe bereits ein Telegramm mit der Bitte um Aufschub gesendet. Ich bin guter Dinge.«

»Ich verstehe.« Christoph trank einen Schluck Wein.

»Du scheinst mir nicht besonders froh über die Neuigkeiten.«

»Oh, doch. Es kommt nur sehr überraschend.«

Raoul schmunzelte. »Mehr Wein?«

»Danke.«

Als sie nach dem Essen einander Gute Nacht wünschten, fühlte Christoph sich entspannter. Ob wegen des Weins oder aus Überzeugung, wusste er nicht zu sagen. Während ihrer Unterhaltung war ihm klar geworden, dass Raoul ihm aus Sorge nachgereist war. Ob er Angst hatte, Christoph könne erneut spurlos aus seinem Leben verschwinden? Das war eine Frage, die er sich stellte, seit Raoul ihn über die Verschiebung seines Militärdienstes unterrichtet hatte.

Gegen Mitternacht bereitete sich Christoph darauf vor, den Gasthof erneut zu verlassen. Ausgestattet mit einer Laterne und einem Päckchen Zündhölzern schlüpfte er hinaus in die Nacht. Der Mond schien prächtig am wolkenlosen Himmel. Christoph eilte durch die menschenleeren Gassen zum Friedhof.

Die Dunkelheit dort war anders beschaffen, als habe man verschiedene Schattierungen miteinander zu einem schwarzen Band verwoben. Er entzündete die Laterne und trat durch das Tor.

Die Schritte hallten in seinen Ohren und er hörte seinen Atem. Bis zu jenem Moment war ihm nicht bewusst, wie sehr er fror. Seinen Mantel enger um sich ziehend, folgte er dem Weg, der auf die Kapelle zuführte. Er besann sich, dass Erik ihn am Grab der Daaés treffen wollte.

Als Christoph die Richtung änderte, nahm er eine feine Veränderung in der Luft wahr. Der Wind schien eine Melodie zu ihm zu tragen, sanft, doch vernehmbar. Christoph schloss die Augen, ließ die Laterne stehen und folgte blind der Musik. Mit jedem Schritt wurde sie lauter. Sie ergriff ihn mit Armen, sanft wie der Wind selbst, und zog ihn auf einen magischen Pfad. Ihm blieb keine Wahl, als dem Ursprung dieser Melodie zu folgen. Die Seufzer einer Violine ließen ihn erbeben.

Er öffnete die Augen und fand sich in einem Meer aus Kerzenlichtern. Atemlos sank er auf die Knie und streckte seine Arme gen Himmel, als wollte er einen Geist umarmen. In seine Augen traten Tränen und er schluchzte auf, als er die vertraute engelsgleiche Stimme sich über die Violine erheben hörte. Es verlangte ihn, sie zu berühren, doch alles, was seine Hände griffen, waren Schatten. Die Stimme sang immerfort. Erst als Christoph sich wie verzaubert nach vorn beugte, verstummte die Musik plötzlich und Erik trat aus der Dunkelheit. Gleichwohl sein Gesicht wie stets hinter einer Maske verborgen war, sprach er mit sanfter Stimme: »Lektion eins: Du musst dich völlig der Musik hingeben!« Er legte Christoph seine behandschuhte Hand auf die Stirn, als wollte er ihn segnen. Oder mit einem Fluch beladen. Dann streckte er Christoph die Hand entgegen, um ihm aufstehen zu helfen. Zögernd sah Christoph ihn an. Doch ehe er Eriks Hand ergreifen konnte, hörte er ein Rufen.

»Christoph! Bleib zurück! Er ist gefährlich!«

Christoph fuhr herum und erkannte Raoul, der auf sie zu rannte. In der Hand trug er eine Pistole, mit der er auf Erik zielte. Erik stellte sich vor Christoph, der die Begegnung gebannt verfolgte.

»Christoph, bitte geh jetzt«, befahl Erik.

Kerzen flackerten und erloschen. Das brachte Christoph zur Vernunft. Umgehend gehorchte er, wissend, dass es kein gutes Ende nahm, wenn er den beiden in die Quere kam. Doch allein lassen konnte er sie ebenso wenig, daher versteckte er sich hinter einem Berg aus Knochen nahe der Kapelle. Von dort aus beobachtete er das Geschehen, unschlüssig, was er tun sollte. Was machte Raoul auf dem Friedhof? War er ihm gefolgt? Wie kam er dazu, Erik herauszufordern? Mit dem Wissen um Raouls Schießkünste fürchtete Christoph um Eriks Leben. Selbst wenn die Dunkelheit ein genaues Zielen unmöglich machte.

Ein Schuss zerriss die Nacht. Christoph zuckte zusammen, verließ sein Versteck und rannte zurück zu Erik. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch inne.

Flink wie ein Pfeil duckte sich Erik unter Raouls Angriff hinweg und holte augenblicklich zum Gegenangriff aus. Aus dem Nichts zückte er das Punjab-Lasso und schlang es Raoul um den Hals. Starr vor Schrecken beobachtete Christoph, wie Raoul in die Knie ging. Doch selbst als er nach Luft röchelnd die Pistole sinken ließ, ließ Erik nicht von ihm ab. Er zog das Lasso fester zu, bis Raoul das Bewusstsein verlor.

»Genug«, flehte Christoph, »Ihr bringt ihn um!«

Das brachte Erik zum Einlenken. Er ließ von Raoul ab, als sei ihm gerade bewusst geworden, was er da tat.

»Dieser Narr!«

Ein Blick in Christophs Augen ließ Erik seine Worte bedauern. Er trat auf ihn zu, den Kopf gesenkt. Wenn er doch nur seine Maske abnehmen und Christoph seine Reue zeigen könnte. Ihm fehlten die Worte, die er zu seiner Verteidigung hätte vorbringen mögen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Christoph. »Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist; weshalb er Euch angegriffen hat ...«

Erik sah zu ihm auf. »Weshalb entschuldigst du dich? Nichts davon ist deine Schuld.« Gern hätte er Christophs Arm ergriffen, doch er hielt sich zurück. Stattdessen sah er zu Raoul und meinte: »Er wird überleben.«

Christoph nickte. »Überlasst ihn nur mir. Was ist mit Euch?«

»Mir geht es gut.« Das war eine Lüge. Er hatte keinen Ort, an dem er die Nacht verbringen konnte. Nicht einmal die Kapelle war mehr sicher, nachdem man ihn am Morgen daraus verjagt hatte, und er kannte die Stadt zu wenig, um zu wissen, wo er sich vor den Menschen und der Kälte verstecken konnte.

»Kommt mit mir«, schlug Christoph unerwartet vor.

Bevor Erik Gelegenheit bekam zu antworten, wurden sie von einem Husten und Stöhnen unterbrochen. Es schien, als erlangte der Vicomte das Bewusstsein wieder. Augenblicklich ging Erik in Verteidigungsstellung. Zu seiner Erleichterung war Raoul jedoch zu geschwächt um aufzustehen.

Christoph eilte ihm zu Hilfe, doch hatte er Schwierigkeiten ihm aufzuhelfen.

»Gott, was tue ich hier eigentlich?«, murmelte Erik mehr zu sich selbst, bevor er Christoph ablöste. »Überlass das mir. Bring du mir meine Geige, die ich hinter dem Grabstein abgelegt habe.« Er zeigte auf Daaés Grab. Glücklicherweise war Raoul benommen genug, keinen Widerstand zu leisten, als Erik ihn am Arm packte und nach oben zog. Mit einem grimmigen Blick auf die Pistole schleifte er den Vicomte fort.

Christoph war sicher, dass Raoul auf dem Weg zurück zum Gasthaus so gut wie nichts mitbekam. Während Erik den Vicomte schulterte, schloss Christoph im Schein der Laterne die Tür auf und ließ beide hinein.

»Bringt ihn nach oben«, flüsterte er Erik zu, »Legt ihn auf sein Bett. Ich kümmere mich um ihn. Ihr könnt in meinem Zimmer schlafen.«

Erik nickte und tat, wie Christoph ihm geheißen.

Anschließend übergab Christoph ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen Eriks Augen golden zu funkeln.

»Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Christoph atmete schwer aus. Diese Nacht hatte eine ebenso unerwartete wie beunruhigende Wendung angenommen. Das würde mit Sicherheit nicht gut ausgehen.

***

Raouls Schläfen pochten, als er erwachte. Beim Versuch, sich aufzusetzen durchzuckten ihn stechende Kopfschmerzen. Scharf sog er die Luft ein, wobei ein weiterer Schmerz seinen Hals verengte. Husten machte es noch schlimmer.

Er blinzelte ein paar mal, bis der Schmerz abklang. Dann schaute er sich um. Seine Erinnerung, wie er in das Gasthaus zurückgelangt war, war verschwommen. Nachdem der Maskierte versucht hatte ihn zu strangulieren, erinnerte er sich an nichts. Als er an sich hinab sah, fiel ihm auf, dass er noch immer die Kleidung vom Vorabend trug, bis auf seine Schuhe. Jemand musste sie ihm ausgezogen und ordentlich neben das Bett gestellt haben. Und dieser Jemand befand sich noch immer im Zimmer, wie er einen Moment später feststellte.

Christoph schlief auf der Couch, seinen Mantel wie eine Decke über sich geworfen. Sein Atem ging flach, sein Gesicht sah blass, aber ruhig aus. Dann war er es also, der ihn ins Gasthaus zurückgebracht hatte. Doch was war aus dem Mann in der schwarzen Maske geworden?

In der Nacht zuvor war Raoul Christoph auf den Friedhof gefolgt, zum Teil aus Neugier, zum Teil aus Sorge. Nie zuvor hatte er eine derart überirdische Stimme vernommen - verlockend, doch gebieterisch, fordernd, doch ebenso verheißungsvoll. Er sank auf die Knie, verzaubert von den Tönen, die ihm aus himmlischen Gefilden zu kommen schienen. Er kannte diese Musik und fühlte sich von dem Geigenspiel berauscht. Sobald die Musik erstarb, kam er jedoch zu Sinnen und erkannte, dass er - und mehr noch Christoph - Opfer eines Tricks geworden waren. Anders als Raoul schien Christoph sich keiner Gefahr bewusst zu sein. Ohne Zögern zückte Raoul seine Pistole und rief Christophs Namen in der Hoffnung, der Maskierte würde fliehen. Allerdings hatte er kein Glück. Unerwartet stellte der andere sich vor Christoph, sodass Raoul keine Wahl blieb, als den ersten Schuss abzufeuern. Er hatte sich stets für einen guten Schützen gehalten, doch die Dunkelheit war nicht sein Freund. Ehe er eine erneute Chance bekam, hatte der andere ihn angegriffen.

Raoul seufzte. Noch immer fragte er sich, wie Christoph den Mann in der Maske dazu gebracht hatte, ihn zu verschonen. Oder sollte er ihn am Ende überwältigt haben? Das war in Anbetracht von Christophs Verfassung eher unwahrscheinlich. Was auch geschehen sein mochte: Er hatte ihm das Leben gerettet.

»Du bist wach«, murmelte Christoph blinzelnd. Er streckte sich und stand von der Couch auf. »Wie fühlst du dich?«

»Wie ein Trinker mit rauem Hals, doch davon ab kann ich nicht klagen.«

Christoph schmunzelte.

»Verrätst du mir, was letzte Nacht passiert ist?«

»Nun ja, du hast auf einen Schatten gezielt und wärst dabei fast umgekommen.«

»Ein Schatten!«, rief Raoul aus. »Das war kein Schatten. Ich versichere dir, der Mann war sehr real.«

Christoph sah ihn düster an. Er warf sich seinen Mantel um die Schultern und trat zu Raoul an das Bett heran. »In der Tat. Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht, die Pistole auf ihn zu richten? Weshalb warst du überhaupt da?«

Verblüfft von Christophs plötzlichem Ausbruch schreckte Raoul zurück. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Als ich dich mitten in der Nacht das Haus verlassen sah, bin ich dir nach. Und nun sehe ich, dass ich das richtige tat. Dieser Mann, wer immer er ist, ist gefährlich!«

»Was weißt du schon!«, stieß Christoph hervor.

Das hatte Raoul nicht beabsichtigt. In letzter Zeit schien er gut darin zu sein, Christoph zu verärgern.

»Dieser Mann hat versucht mich zu töten -«

»Nachdem du eine Waffe auf ihn abgefeuert hast!«

»Er war ebenfalls bewaffnet, oder sehe ich das falsch? Was wollte er überhaupt von dir?«

»Das geht dich nichts an.«

Raoul hielt inne und sah Christoph bekümmert an. »Du hast recht, es geht mich nichts an. Aber lass mich dich eines fragen: Weshalb, denkst du, versteckt er sein Gesicht? Selbst vor dir? Offenbar vertraust du ihm. Doch was hat er getan, das dieses Vertrauen verdient?«

»Das kann ich dir nicht sagen.« Christoph senkte seinen Blick. »Seine Stimme - du hast sie doch gehört, nicht wahr? Ihn singen zu hören war wie eine Offenbarung. Und ich brauche ihn, um der Mensch zu werden, der ich sein möchte.«

Ehe Raoul etwas erwidern konnte, ging Christoph zur Tür und öffnete sie. »Ich sehe dich später.« Damit ließ er ihn allein.

Als Raoul zurück in die Kissen sank, fühlte er sich wie von einem Zug überrollt. Vielleicht war es besser, wenn er Perros auf der Stelle verließ. Doch er schwor sich, nicht eher abzureisen, bis er seinen Freund in Sicherheit wusste.

Das Frühstück ließ er ausfallen und machte einen Spaziergang entlang der Küste. Die salzige Luft erfrischte ihm die Sinne, als gelangte er zu neuem Bewusstsein. Am Strand beobachtete er ein paar Möwen, die am Himmel kreisten. Er schloss die Augen, wandte seinen Kopf der Sonne zu und genoss die Wärme auf seinem Gesicht. Als er die Augen wieder öffnete und sich umsah, entdeckte er in einiger Entfernung Christoph. Offenbar hatte er dieselbe Idee gehabt.

Als Christoph ihn sah, hob er zum Gruß die Hand. Raoul beschloss, ihm Gesellschaft zu leisten.

»Erinnerst du dich, wie wir als Kinder barfuß umher rannten und deine Tante uns zurief, wir sollten vorsichtig sein?« Christoph hielt seine Augen auf das Meer gerichtet, fokussierte die Wellen, die an den Strand rollten.

»Ja, ich schätze, sie war etwas überfürsorglich. Und ich fürchte, ich bin nicht besser.«

Sie sahen einander an und lachten.

Dann wurde Raoul wieder ernst. »Es tut mir leid, wenn ich dir Unannehmlichkeiten bereitet habe. Was immer du mit diesem Mann zu schaffen hast, geht mich nichts an. Doch ich muss sichergehen, dass du nicht in Gefahr schwebst. Kannst du mir das versprechen?«

»Schon gut. Ich möchte mich ebenfalls entschuldigen. Du musst dich nicht länger um mich sorgen.«

»Was meinst du?«

»Ich kehre noch heute nach Paris zurück. Hier gibt es nichts mehr für mich zu tun.«

»Du fährst allein?«

Christoph nickte. »Aber zuvor … machen wir einen kleinen Strandspaziergang?«

»Mit Vergnügen.«

Die Maske aus schwarzem Samt

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