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Fünf

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Für ein Mädchen von 16 Jahren schickte es sich nicht, einen Jungen abzupassen, auch dann nicht, wenn er ihr kaum aus dem Kopf ging, bei allem Bemühen nicht. Am vergangenen Donnerstag hatte Jette, als sie für ihre Mutter Besorgungen machte, Christian zufällig am Rissener Bahnhof gesehen, sich aber schnell hinter einem Baum versteckt, damit er sie nicht entdeckte. Nun, eine Woche später, schnappte sie sich das Einkaufsnetz ihrer Mutter und machte sich wieder auf den Weg, diesmal mit einem mulmigen Gefühl, einem von Scham und Unehrlichkeit. Dass sie nur mal schauen wollte, redete sie sich ein, ob er jede Woche zur gleichen Zeit Richtung Innenstadt fuhr, und dass sie ihn natürlich nicht ansprechen werde, das auf keinen Fall. Sie würde sich wieder hinter dem Baum verstecken. Selbst das war keine gute Vorstellung. Sie spionierte Christian nach, und das gehörte sich nicht. Deshalb hielt es sie nicht in ihrem Versteck, sondern sie überquerte vor dem Bahnhof die Straße und schaute in alle Richtungen. Er war nicht zu sehen.

Schade, dachte sie. Keine regelmäßige Fahrt. Es war dumm gewesen, das anzunehmen. Nur Leute, die zur Arbeit mussten, nahmen immer zur gleichen Zeit einen Zug.

Die Frage, wo er hingefahren war, hatte sie geradezu umgetrieben, sie hatte sich verschiedene Möglichkeiten ausgemalt, von denen die Schlimmste war, dass er sich mit Kunstlehrer Jessen und dessen Damenbekanntschaften in einer Spelunke auf Sankt Pauli traf. Sie hatte diese Gedanken nicht gewollt, doch wie von selbst waren sie immer wiedergekehrt. Am Ende hatte sie ein Lied angestimmt, um sich abzulenken.

Nun würde sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen. Es ging sie auch nichts an. Er kam nicht.

Irrtum, da kam er doch. Mit weiten Schritten, eine Hand lässig in der Hosentasche. Er wurde keinen Deut schneller, als man den Zug bereits hörte. Jette kannte es nicht anders, als dass die Leute, die knapp kamen, rannten. Nicht so Christian. Es schien ihm egal zu sein, ob er ihn verpasste und warten musste.

Jette schaute ihm entgegen.

Die Bahn hielt am Gleis. Wenn er die Treppen hinaufgespurtet wäre, hätte er sie vielleicht noch bekommen. Doch er blieb bei ihr stehen. »Was machst du denn hier?«

Sie war froh, dass sie das Einkaufsnetz bei sich hatte, und hob es hoch. »Besorgungen. Und du?«

»Ich fahre nach Altona. Willst du auch in die Stadt?«

Sie spürte, dass sie rot wurde, und wich seinem Blick aus. Sie wollte den Kopf schütteln, doch das gelang ihr nicht. »Ja«, sagte sie leise, überzeugt davon, dass er ihre Lüge durchschaute.

»Ich glaube auch, dass man dort leichter Lebensmittel bekommt«, entgegnete er. »Die Innenstadt versorgen sie einfach besser.«

»Und warum?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Keine Ahnung. Vielleicht weil dort mehr Leute wohnen oder weil es hier Bauern gibt und die Leute Hühner halten.«

»Wir haben Kaninchen.«

»Auch nicht schlecht. Wer schlachtet?«

»Mein Vater. Wir anderen bringen das nicht fertig. Meine Mutter nicht und ich auch nicht. Und meine Schwester ist zu klein.«

»Ich könnte so einem Viech auch nicht den Kopf abschlagen.«

Das war ein seltsamer Satz. Sie schaute in Christians Gesicht mit der Hornbrille und den langen Haaren. Alle Jungen machten bei der Hitlerjugend Schießübungen und sangen Kriegslieder. Die meisten in ihrer Klasse redeten davon, dass sie Soldaten sein wollten, und sie wären stolz darauf gewesen, wenigstens einem Karnickel den Kopf abzuschlagen. Christian war offenbar auch in dieser Hinsicht anders.

»Was machst du in Altona?«, fragte sie.

»Ich besuche Freunde. Wir quatschen ein bisschen und hören Musik.« Er zeigte auf den Bahnhof. »Gehen wir hoch?«

Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und wünschte sich, dass sie etwas weniger aufgeregt wäre. Beide kauften sie einen Fahrschein am Schalter und hockten sich auf eine der Holzbänke auf dem Bahnsteig. Die Sonne schien auf sie, es war spätsommerlich warm. Er erkundigte sich weiter nach ihrer Familie – wo sie wohnten, ob ihr Vater eingezogen war – und fragte auch nach Gregor. Sie erzählte von dem großen Haus, in dem er lebte, und dass er oft alleine war, weil sein Vater Generaldirektor einer Zigarettenfabrik war und die Mutter oft weg. Auch dass sie zwei Autos besaßen, erzählte sie. Er stieß einen Pfiff aus und wollte die Marken wissen, die sie ihm nicht nennen konnte. Er schlug einige Namen vor – Horch, Mercedes – aber ihr sagte das nicht viel, deshalb war sie froh, als der Zug eintraf und sie einstiegen. Jette überlegte, wo sie wieder aussteigen sollte. Sie und Christian setzten sich auf zwei nebeneinanderliegende Plätze. Es war eng, sein Arm drückte gegen ihren. Sein Bein war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Sie hätte gerne gewusst, welche Musik seine Freunde und er hörten, ob sie von diesem Cole Porter stammte, wagte es aber nicht zu fragen, erst recht nicht mit so vielen Ohren ringsherum.

»Kann man ihm trauen?«, wollte er plötzlich wissen. Er redete leise, wie alle anderen Fahrgäste im Abteil.

»Wem?«

»Gregor.«

»Ja klar.« Sie schaute ihn an. »Wie meinst du das?«

»Wie ich’s sage. Ob man ihm trauen kann.«

»Ja, natürlich kann man das.«

Auch nach Elisabeth erkundigte er sich.

Jette zog ihren Arm zu sich, sodass er seinen nicht länger berührte, und legte ihn auf ihren Schoß. »Was ist mit ihr?«

»Die gleiche Frage: ob man ihr trauen kann.«

Sie pustete den zurückgehaltenen Atem aus. »Sie ist ganz in Ordnung.«

»Ehrlich?«

»Ja. Warum nicht?«

»Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht. Beide nicht.«

Jette ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sie auch nicht kannte, und sie fragte sich, bei wem er sich wohl nach ihr erkundigte. Als sie in Blankenese umsteigen mussten, dachte sie nicht mehr daran. Die S-Bahn stand bereits auf dem gegenüberliegenden Gleis. Christian redete leise darüber, dass sein Vater fürchte, aus Frankreich an die Ostfront verlegt zu werden. Er schreibe das nicht so deutlich, trotzdem gehe es aus seinen Briefen hervor. Warum ihr Vater nicht eingezogen sei, wollte er von Jette wissen. Sie erzählte ihm, dass er bei der Kripo und deshalb unabkömmlich sei, zumindest vorerst.

»Er ist also uk – wie schön für ihn und für euch.«

Sie dachte daran, dass ihr Vater zwar oft erst spät am Abend nach Hause kam, aber sonntags war er da und während der Woche meistens zum Frühstück. Es wäre eindeutig leerer bei ihnen, wenn er fort wäre, um Tausende Kilometer entfernt an irgendeiner Front zu kämpfen. Und sie würde immerzu Angst haben.

»Alle Männer können doch nicht eingezogen werden«, meinte sie. »Irgendjemand muss doch auch hier Dienst tun.«

»Wahrscheinlich, ja. Mein Vater ist Angestellter bei einer Bank. Seitdem er weg ist, müssen die Kunden einfach länger warten, bis sie drankommen.«

Er tat ihr leid, obwohl er auf der anderen Seite so vieles kannte und wusste, von dem sie in Rissen noch nie gehört hatten. Ihre Arme berührten sich wieder. Am liebsten hätte sie seine Hand gehalten und gedrückt.

»Er wird schon wiederkommen«, sagte sie.

»Ja, glaube ich auch.«

Sie fasste einen Plan: Sie würde am Holstenbahnhof, eine Station nach Altona, aussteigen und dort den Zug zurück nehmen. Zwar würde sie sich eine neue Fahrkarte kaufen und noch einmal 15 Pfennig ausgeben müssen, aber das war in Ordnung. Dafür war sie mit Christian gefahren.

Als der Zug in den Altonaer Bahnhof einfuhr, stand Christian auf, viele andere Leute auch. Jette blieb sitzen. Er hielt eine Hand an die Haltestange. Sie wartete auf seinen Abschiedsgruß. Er sagte: »Wenn du es nicht eilig hast, komm doch mit. Meine Freunde sind nett. Und die Musik …«

Sie freute sich über die Aufforderung, und trotzdem schaffte sie es nicht, sie anzunehmen, erst recht nicht mit einem beiläufigen, nicht zu begeisterten Ja. Gedankenfetzen strichen ihr durch den Kopf. Dass sie ein 16-jähriges Mädchen war und auf keinen Fall mit einem quasi unbekannten Jungen mitgehen durfte. Dass sie überhaupt nicht in Altona sein sollte. Vor ihr stand eine Frau mit schwarzem Hut und Schleier, eine Kriegerwitwe wahrscheinlich, und Jette war sich ganz sicher, dass sie sie für unanständig hielt und schon dafür verurteilte, dass sie überhaupt überlegte.

Der Zug hielt. Christian machte ein fragendes Gesicht.

Jette nahm beide Hände zu Hilfe und drückte sie auf das Holz der Sitzbank, um aufzustehen. Dabei schaute sie auf die Armbanduhr, die sie zur Konfirmation bekommen hatte. »Zu lange darf es nicht dauern.«

»Ist versprochen.«

Die Gegend vor dem Bahnhof war ihr durchaus bekannt. Ihr Vater bezeichnete sich als Altonaer, obwohl er eigentlich aus dem benachbarten Bahrenfeld stammte. Er hatte seinen Töchtern einige Orte seiner Kindheit gezeigt. Was Jette in Altona aber fehlte, war diese blinde Sicherheit, die Christian hatte. Er musste sich nicht orientieren, und der viele Verkehr, all die Autos, Straßenbahnen und Pferdewagen waren für ihn selbstverständlich.

Sie gingen ein Stück, bevor sie in einer Gasse in ein Haus traten und die Treppen hinaufstiegen. Es war angenehm kühl. Christian klingelte an einer Wohnungstür. Ihnen öffnete ein Junge, der ebenfalls ein kariertes Jackett trug, dessen Ärmel ihm bis auf die Hände reichten. Auch seine Haare waren lang. Er grinste und begrüßte sie mit einem genuschelten Gruß.

Jette glaubte, sie hätte sich verhört. Was hatte er gesagt? Das war doch nicht »Sieg Heil« gewesen.

Christian gebrauchte die gleichen Wörter, und diesmal verstand sie sie genau: »Swing Heil. Das hier ist Jette.«

Swing Heil?

»Kommt rein.«

Sein Freund hieß Erik, er wohnte hier. Im Wohnzimmer war noch ein dritter Junge, Walter. Nur auf den ersten Blick sahen sie einander ähnlich, alle drei mit Jacketts und diesen Frisuren. Walter war groß und blond, ein Schlacks, Erik einen halben Kopf kleiner und kräftiger. Er zeigte auf einen braunen Sessel, auf den Jette sich setzte, während die anderen sich nebeneinander aufs Sofa hockten. Das Zimmer war ein wenig düster, das Fenster ging zum Hof. Ein vollgestopftes Bücherregal füllte eine ganze Wand aus. Gegenüber hing ein Ölbild, ein Gemälde, das ihr Vater »ganz alter Schinken« genannt hätte. Sie fühlte sich sehr fremd und begann, vor Aufregung auf ihre Fingerkuppen zu drücken. Zu ihrem grauen Rock trug sie grobe Wollstrümpfe, ihre Schuhe waren ausgelatscht. Die Jungs dagegen waren schick, nicht nur wegen der Jacketts, sondern auch in ihren geputzten Schuhen und den Tuchhosen. Sie fragte sich, wie wohl die Mädchen waren, mit denen sie Umgang hatten. Sicher nicht so wie Jette. Sie strich sich über die Haare. Ihre Frisur war das Einzige, was sie halbwegs passabel an sich fand. Ihre Mutter hatte sie geschnitten, die Haare fielen auf die Schulter, wo sie von selber eine Welle machten. »Sieht toll aus«, hatte ihre Mutter gesagt.

Jette vermutete, dass die beiden anderen Jungen auch nicht zur HJ gingen – mit den langen Haaren war das beinahe unvorstellbar. Zu gerne hätte sie gewusst, wie sie das anstellten, wagte aber nicht zu fragen. Überhaupt schaffte sie es nicht, etwas zu sagen.

Erik nahm eine Platte in die Hand, machte ein verzücktes Gesicht und sagte: »Haltet euch fest, Freunde. Ganz neu. Habe ich vorgestern eingetauscht.«

Er bediente das Grammofon. Kurz darauf erklangen die ersten Takte. Die Musik war schnell, sie hatte etwas Treibendes, als eile sie voran, und die Zuhörer mussten folgen. Zwischendurch hatten einzelne Instrumente Solopassagen, vor allem die Trompete, aber auch die Trommeln. Es war klar, dass es sich um Jazz handelte und sie etwas Verbotenes taten. Jette spürte ihre Angst. Wenn jemand hereinkäme, wäre sie verloren. Gleichzeitig faszinierte sie, was sie taten.

»Louis Armstrong?«, fragte Christian.

»Satchmo«, erwiderte Erik. »Volltreffer.«

Die drei Jungs lehnten sich im Sofa zurück, schlugen ihre Beine übereinander und wippten mit der Fußspitze im Takt. Einer wie der andere schnippte mit dem Daumen über zwei Finger, wobei sie ein wenig wie eine Ballettgruppe aussahen. Jette entspannte sich etwas. Dann achtete sie wieder auf die Musik.

Es war ein einziges Spiel. Ein Wechsel zwischen zart vorgetragenen Takten und der vollen Bläserkapelle. Gesang von einer tiefen Männerstimme, die einem durch und durch ging. Sie hatten keinen Englischunterricht mehr, der Lehrer war nach seiner Einberufung nicht ersetzt worden, doch dass hier etwas Freches gesungen wurde – Kiss me, hold me in your arms – das begriff sie auch so.

Das nächste Lied wurde von einer Geige dominiert, und auch die klang vollkommen anders als alles, was sie je gehört hatte, sie war wild und ungezügelt. Ihr kam der Ausdruck »Fiedel« in den Sinn. Christian hatte die Augen geschlossen, sein Kopf bewegte sich im Takt. Er öffnete sie kurz und schaute grinsend zu ihr, als der Geiger zum Ende kam. Als Nächstes folgte ein Duett. Alles verstand sie nicht, aber dass die Frau den Mann »Darling« nannte und irgendwie herausforderte, begriff sie. Und er spielte mit. Sie konnte die beiden regelrecht vor sich sehen.

»Und du?«, fragte Erik sie. »Was hörst du für Musik?«

Jette wurde rot. Sie hatten zwar ein Grammofon, aber nur drei Schallplatten, deshalb lief meistens der blöde Volksempfänger, den ihr Vater vor Jahren angeschafft hatte. Ihre Mutter sang manchmal mit den Mädchen, daher kannte sie deutsche Volkslieder, aber nichts, was sie hier hätte anführen können.

»Nur Märsche?«, setzte Erik hinzu. Seine Stimme klang rau.

Jette fühlte sich bloßgestellt. Märsche gefielen den Linientreuen. Sie kam sich blöd vor, weil sie weder Cole Porter noch Louis Armstrong kannte, überhaupt keinen Namen, den sie hätte einwerfen können.

»Lass sie«, mischte sich Christian ein. »Jette ist in Ordnung.«

Sie hätte sich gerne bei ihm bedankt.

»Na, wenn du das sagst«, entgegnete Erik spitz.

»Kinder«, mahnte Walter und streckte den Finger in die Luft. Er wollte zuhören. Auch der Rest der Platte war unglaublich, Jette war, als schaute sie in eine neue Welt. Sie würde niemandem je davon erzählen können, ihrer Mutter nicht, ihrer kleinen Schwester sowieso nicht und auch keinem ihrer Freunde in der Schule. Insgeheim wünschte sie sich mehr von dem Neuen, aber auch ihre Angst war wieder da. Sie starrte zur Zimmertür und rechnete damit, dass sie jeden Moment aufgestoßen wurde.

Sie hörten ein Trompetenstück. Immer wieder steigerte sich das Spiel, es war wie die Ankündigung von etwas Großem, aber diese Ankündigung wurde jedes Mal wieder enttäuscht. Bis der volle Klang endlich durchbrach, war sie gespannt, und als er dann da war, hätte sie lachen können. Selbstverständlich hielt sie sich in der fremden Umgebung zurück.

Im nächsten Moment klopfte es. Sie waren ertappt! Jette wollte aufspringen.

Das Klopfen kam nicht von der Zimmertür, sondern von weiter weg, vielleicht vom Wohnungseingang.

Erik rollte mit den Augen, Walter nannte einen Namen, Parteigenosse Schulz, er zog ihn in die Länge, während er gleichzeitig die Zunge herausstreckte, und alle außer Jette wussten Bescheid. Sie weihten sie ein. Ein Nachbar, erklärte Erik, während er das Grammofon ausstellte, ein Aufpasser und Schießhund, der sein Ohr an die Wand hält und mit Meldung droht, sobald er Jazz hört. Dabei sei die Musik doch ganz leise gewesen. Mit der letzten Bemerkung stimmte sie nicht überein, sie hatte sie ziemlich laut gefunden. Aber das sagte sie nicht.

Christian stand auf. »Jette kann sowieso nicht so lange bleiben.« Er schaute sie an. »Wollen wir gehen?«

»Ja.«

Auf dem Rückweg zum Altonaer Bahnhof schwirrte ihr die Musik im Kopf umher. Das Geigenstück hatte es ihr besonders angetan, aber auch die tiefe Männerstimme – Kiss me, hold me in your arms. Das war alles unglaublich. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Kopfsteinpflaster, es regnete leicht. Sie streckte ihre Hand aus, auf die ein paar Tropfen fielen. Das war alles echt. Und Christian ging neben ihr.

In der S-Bahn waren die Bänke besetzt. Sie standen in der Nähe der Tür, die mit einem Haken verschlossen gehalten wurde. Sie fragte Christian leise, was es mit dieser Musik auf sich habe. Wo sie herkam.

»Amerika«, erwiderte er. Er flüsterte ihr das Wort beinahe ins Ohr. »Swing«, sagte er und: »Jazz.« Sie wollte wissen, wie Erik an die Platten gekommen sei.

Bevor er antwortete, schaute er durchs Abteil. Es war natürlich nicht möglich, einen Gestapomann oder einen Spitzel zu erkennen, trotzdem musterte Christian die Leute gründlich.

»Man kann sie kaufen«, sagte er schließlich halblaut, »wenn man die richtigen Leute kennt. Sie werden gehandelt. Zumindest früher ging das, bevor der Krieg angefangen hat. Heute werden sie unter denen gehandelt, die sie besitzen. Manchmal verkauft, manchmal getauscht.«

»Und sie kommen aus dem Ausland?«

»Klar.«

»Wahnsinn«, sagte Jette.

Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, sie hätte ihre Naivität nicht so deutlich gezeigt. Nach dem Besuch bei Erik und der Musik war es das zweite Mal an diesem Nachmittag, dass er sie einen Blick in eine unbekannte Welt erhaschen ließ. Es gab diese Platten, auch hier bei ihnen, im Deutschen Reich, und es gab Leute, die sie verkauften, und welche, die sie hörten. Ihr kam Doktor Petersen in den Sinn, der kein Lotterleben dulden wollte. In Wahrheit hatte der alte Mann nicht die geringste Vorstellung davon, was sein Schüler und dessen Freunde trieben, und hätte er es erfahren, hätte er mit seinem Gehstock wild um sich geschlagen und Wörter wie »Urwaldmusik« und »Negerjazz« durch den Klassenraum geschrien.

Die Wahrheit allerdings war, dass sie und ihre Freunde auch keine Ahnung hatten. Dass die Bahn nach Rissen von allen Leuten »Vorortbahn« genannt wurde, passte ziemlich genau. Sie lebten in der Provinz, und dorthin kam einfach nichts, was modern war, es sei denn, jemand wie Christian oder ihr Kunstlehrer Jessen wurde durch einen Zufall dorthin verschlagen. Aber dann blieben sie fremd in ihrer neuen Umgebung.

Sie hätte Christian gerne gefragt, ob seine Freunde auch nicht zur HJ gingen. Im Abteil war das nicht möglich. Sie sprachen auch nicht weiter über die Musik, sondern über unverfängliche Dinge, und auch das so leise wie alle anderen.

Als sie in Rissen ankamen und sich vorm Bahnhof die Hand reichten, schlug sich Christian mit der flachen Hand an die Stirn: »Jetzt haben wir deinen Einkauf vergessen!«

Sie spürte, wie ihr zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Röte ins Gesicht schoss. Ganz am Ende war ihre Lüge doch noch aufgeflogen. »Äh …«, entfuhr es ihr. Sie riss sich zusammen. »Das mache ich hier in der Gegend.«

»Soll ich mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und eilte davon. Sofort danach pochte das Gefühl, einen verkorksten Abschied hingelegt zu haben, in ihr. Weder hatte sie sich bedankt noch sonst irgendwie gezeigt, wie beeindruckt sie war. Sowieso war es fraglich, wie sie in der Schule, vor den Augen und Ohren der anderen, an diesen Nachmittag anknüpfen sollten. Es gab keine Worte dafür. Sie zumindest hatte keine.

Als sie um die Ecke bog, wurde sie langsamer und ließ die Sorgen fortziehen. An ihre Stelle trat die Musik, die Melodien und der Rhythmus, die in ihren Kopf zurückkehrten. Sie wünschte sich, sie würde sie nie vergessen, selbst wenn sie niemandem davon je erzählen könnte und auch wenn sie in ihrem ganzen Leben keinen Swing mehr hören würde. Dieser Nachmittag war außergewöhnlich gewesen. Sie ging besser nicht davon aus, dass er sich wiederholen würde.

Letzter Tanz auf Sankt Pauli

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