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Maßnahmen

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Was war geschehen? Warum war meine Mutter nur so ungeheuer sauer? War ich schuld? Lag es an mir? War ich so ungezogen gewesen? Ich wusste es nicht, fühlte mich aber unendlich schuldig. Doch konnte sie mir für etwas böse sein, das die Erwachsenen doch ständig, und noch dazu mit ihrer stillen, wenn auch zähneknirschenden Duldung taten? Mit einem lauten Knall war die Haustür an der Seite des Bahnhofs zugeflogen, nachdem sie mich geschnappt und in den Flur gezogen hatte.

»Das Telefon!«, rief sie und stürmte hinter die Theke. »Es ist genug. Jetzt wird etwas unternommen!«

Ich sehe noch heute die großen, verständnislosen Augen meines Vaters, dem angesichts dieses Temperamentsausbruches seiner Frau, beim Zapfen das Bier in einer Schaumfontäne aus dem Glas schwappte.

Doch der Reihe nach. Um Ihnen klarzumachen, worum es ging, muss ich ein wenig ausholen. Der Krieg war noch nicht lange vorbei und der Bahnvorstand in Hannover damit beschäftigt, in erster Linie alle beschädigten Gleisanlagen oder Bahnhöfe und Einrichtungen zu reparieren. Ein Bahnhof, der wenige oder gar keine Schäden aufwies, technisch intakt war, stand also in der Prioritätenliste ganz unten. Unser Kleinstadt-Bahnhof in Bennigsen gehörte dazu. Der Zahn der Zeit nagte natürlich auch an ihm, und es gab so bestimmte Dinge, die man gewohnt war hinzunehmen. Zum Beispiel, dass es in unserer Gaststätte keine Toiletten gab. Unsere Gäste mussten auf die Aborte der Bundesbahn gehen, wenn sie mussten. Eine weitere Möglichkeit bestand darin ein öffentliches Urinal zu benutzen, das als kleines Häuschen an einer Hausecke zur Straße hin angebaut war. In beiden Fällen mussten sie die Schankstube verlassen. Ihr Weg führte durch die Bahnhofshalle zu den öffentlichen Einrichtungen dieser Art. Man konnte den Weg gar nicht verfehlen, man musste nur immer der Nase nachgehen. Sie führte den Bedürftigen, oder sollte man eher sagen, den Notdürftigen an den grauenvollen Ort des Geschehens.

Die Öffentlichen gehörten gleichzeitig zu den Unbeschreiblichen. Ich bitte den geneigten Leser, mir weitere Ausführungen zu erlassen, das Thema beginnt, unappetitlich zu werden. Hatte ich schon erwähnt, dass es natürlich auch für den Wirt ein wenig unübersichtlich war? Er wusste nie, ob sein Gast einfach nur einer Zwangslage folgte, oder schon gegangen war, ohne die Zeche zu zahlen. Manchmal passierte beides gleichzeitig, denn es kam schon vor, dass die angeheiterten Zecher, nachdem sie sich erleichtert hatten, den Weg in die Gaststube nicht mehr fanden und einfach nach Hause torkelten. Bei ihrem nächsten Besuch gab es dann unausweichlich Diskussionen um den offenen Deckel, der noch vom letzten Mal zu begleichen war. Die wenigsten hatten eine klare Erinnerung daran, ob sie beim Verlassen des Schankraumes bezahlt hatten, einige konnten sich nicht einmal daran erinnern, den Abend dort verbracht zu haben. Es hatte sich so eingebürgert, dass mein Vater seinen Stammgästen mit einem Augenzwinkern erlaubte, den Weg hinter die Theke durch unsere Küche und hinaus aus dem Seiteneingang zu nehmen. Doch anstatt die paar Meter zu dem öffentlichen Häuschen zu gehen, standen die Herren der Schöpfung an der Hauswand und pullerten, unter Stoßseufzern der Erleichterung, zwischen den Bäumen ihre volle Blase leer. Ich fand das immer interessant, weil die Onkels dabei alle so komische Gesichter schnitten. War ich anlässlich eines solchen Ereignisses in der Nähe, so stellte ich mich auf die oberste Treppenstufe und schaute unseren Gästen dabei zu. Wo eine Arbeit verrichtet wurde, da …, ach so, das hatten wir schon.

An diesem denkwürdigen Tag passierte etwas, das meine Mutter völlig aus der Fassung brachte. Zufällig kam sie die Treppe zur Wohnung herunter, sah die offene Haustür und warf einen Blick durch den Türspalt. Sie sah gleich drei ihrer Gäste wieder einmal an der Hauswand stehen, woran sie sich, wenn auch schweren Herzens gewöhnt hatte. Allerdings sah sie auch ihren Filius, der auf der obersten Treppenstufe stand, und in hohem Bogen mitpinkelte. Sie brachte nicht wirklich Verständnis für die Freude eines kleinen Jungen auf, der gerade feststellte, dass er von da oben am weitesten pinkeln konnte. Viel weiter, als die Onkels da unten, die lachend und feixend Mühe hatten, die Zielrichtung einzuhalten.

Das Telefonat mit dem Bahnvorstand in Hannover war kurz und heftig. Es endete damit, dass Mutter den Hörer auf die Gabel knallte und äußerst zufrieden feststellte: »Denen habe ich es aber gegeben. Das können sie sich hinter den Spiegel stecken.«

Sie hatte ihrem Gesprächspartner das ganze Geschehen sehr eindringlich und sehr bildhaft geschildert, was die Zeugen dieses denkwürdigen Telefonates zu dem breitesten Grinsen ihres Lebens trieb. Sofortige Maßnahmen hatte sie gefordert, und dabei nicht offengelassen, was sie zu tun gedachte, wenn nicht augenblicklich Abhilfe geschaffen würde.

Die Kinder vom Deisterbahnhof

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