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Liebe schmerzt

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Meine erste große Liebe begegnete mir im zarten Alter von vier Jahren. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, aber sie war ein paar Jahre älter als ich und ging mit meiner größeren Schwester in eine Klasse der Dorfschule. Ich hatte sie zum ersten Mal gesehen, als sie mit ihrem Vater, einem Gemüsehändler von außerhalb des Dorfes, bei uns Grünzeug für die Küche anlieferte. Die beiden kamen mit ihrem Tempo-Dreirad, einem Kleinlastwagen auf drei Rädern angeknattert. Das blonde Mädchen packte die Waren, die meine Mutter von der Ladefläche des LKWs aussuchte, in einen Korb, während ihr Vater mal eben ganz schnell zum Wirt hineinging, um eine Lüttje Lage (ein kleines Bier und ein Glas Korn) gegen den argen Durst zu sich zu nehmen.

Es war egal, ob es Tag oder Nacht war. Ich träumte von ihr, im Liegen, Gehen und Stehen. Worauf sich meine Träume stützten, ich meine so rein thematisch, weiß ich heute nicht mehr. Nur noch, dass sie schön waren und mir ein leises Summen in der Magengegend verursachten. Der Herbst ging, der Winter kam, und ich träumte noch immer. Wenn der dreirädrige Lastkarren daher geknattert kam, ließ ich alles stehen und liegen und lief, so schnell mich meine kurzen Beine trugen, zum Bahnhof. Manchmal hatte ich Glück, und sie begleitete ihren Vater. Ihr schüchternes Lächeln war Verheißung, ihre Stimme Engelsgesang. Ich verfluchte das Unglück der späten Geburt, warum konnte ich nicht ein paar Jahre älter sein?

»Ich gehe zur Zuckerfabrik, Schlitten fahren!«, gab meine größere Schwester bekannt. Sie durfte. Mutter hatte nichts dagegen, wusste sie doch, dass genügend andere Kinder dabei sein würden. Der einzige Hang, den man zum vergnüglichen Rodeln nutzen konnte, war ein Abhang in der Nähe der Fabrik. Nicht sehr hoch, doch wie war das noch? Es kam darauf an, was man aus der Sache machte. Schwesterlein beging den Fehler, zu erwähnen, dass auch die Tochter des Gemüsehändlers dort sein würde. Von da an gab ich keine Ruhe, bis es der Mutter zu nervig wurde. Sie entschied per »Ordre de Mutti«, dass ich mitzunehmen sei.

Meine Schwester war schwer begeistert. Sie liebte es, mal wieder Kindermädchen spielen zu sollen. Missmutig stapfte sie durch den Schnee, während ich nebenherlief und den leeren Schlitten zog. Sie wusste um meine Gefühle für ihre Klassenkameradin und machte sich oft genug lustig darüber. Doch ich hatte gute Gründe für meine Hartnäckigkeit. Bei dem kalten Winterwetter fuhr nämlich der Gemüsehändler alleine seine Waren aus. Ich hatte das Objekt meiner Schwärmerei darum eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. In dieser langen Zeit war etwas Gravierendes geschehen, was das Mädchen unbedingt erfahren musste. Immerhin war ich nun schon fast Fünf, und somit nicht mehr Vier. Das war ein Fakt, den man seiner Angebeteten doch vor Augen führen musste. Ich hatte, was männliche Reife anging, quasi einen Quantensprung gemacht. Ich fühlte mich so stark. Meine Kräfte wuchsen ins Unermessliche, als ich meiner Traumfrau gegenüberstand. Ganz Gentleman zeigte ich auf den Schlitten.

»Ihr setzt euch drauf, und ich ziehe euch den Hang wieder hoch!«, versicherte ich großspurig. Ich ochste mich ab, dass der Schweiß nur so in meine Augen rann. Jetzt nur nicht schlapp machen! Weiter, zieh weiter. Hinter mir hörte ich die Stimme, die mir alles war, sagen: »Du, dein Bruder ist aber stark!«

Sie hatte es bemerkt. Mich bemerkt. Sie bewunderte mich. Ich zog noch stärker, um den verdammten Rodel, der mir fast die Schulter ausrenkte, von der Stelle zu bewegen. Ich hätte es auch geschafft, sie den ganzen Hügel wieder hinaufzuziehen, wenn da nicht … Ich kam mit den Stiefeln auf die vereiste Piste, auf der die großen Jungen mit Gejohle im Stehen den Hang hinunterschlidderten. Es riss mir die Füße weg, und da ich mich wegen der Last in meinem Rücken weit nach vorn gebeugt hatte, knallte ich mit der Stirn auf das blanke Eis.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Schlitten. Meine Angebetete hielt mich fest, damit ich nicht herunterfiel, während meine Schwester das Gefährt fluchend in Richtung Heimat zog. Ich wusste nicht, was mehr schmerzte. Hilflos vor den Augen meiner großen Liebe daniederzuliegen, oder die riesige Beule auf meiner Stirn, die sie mit einem Schneeball zu kühlen versuchte.

»Brüder!«, schimpfte meine Schwester. Sie riss wütend an dem Schlittenseil. »Warum musste das passieren? Wir hätten alle so glücklich sein können, wenn Du auch ein Mädchen geworden wärest!«

Die Kinder vom Deisterbahnhof

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