Читать книгу Die Kinder vom Deisterbahnhof - Claus Beese - Страница 5
Geschädigt
ОглавлениеIch darf mit Fug und Recht behaupten, dass die holde Weiblichkeit einen extrem prägenden Eindruck auf mich hatte. Ich bin wohl das, was man unter frauengeschädigt verstehen könnte. Zwei ältere und eine jüngere Schwester machten mir mein Leben nicht immer leicht. Die älteren Mädchen hatten ein zwiespältiges Verhältnis zu mir, weil sie ständig auf mich aufpassen sollten. Übrigens, ein Wunsch meiner Mutter, die als Gastwirtin in besagter Bahnhofswirtschaft reichlich mit Arbeit versorgt war. Ich war an dieser Idee vollkommen unbeteiligt und bin auch noch heute bar jeglicher Schuldgefühle. Meine jüngere Schwester begann alsbald, ähnliche Verhaltensmuster wie ihre großen Schwestern zu entwickeln, da ich als ihr älterer Bruder nun mal größer, erfahrener und vor allem stärker war als sie. Sie machte das dadurch wett, dass sie einfach schneller lernte, auf Umwegen zu ihrem Recht zu kommen, wenn sie sich benachteiligt fühlte. Und dieser Eindruck herrschte bei ihr vor.
Ich fragte mich im Stillen, was bei ihrer Geburt wohl verkehrt gelaufen sein konnte. Die Ärzte und Hebammen mussten einen gravierenden Fehler gemacht haben, denn wie konnte in einem so kleinen, zarten Körper eine so durchdringend laute und gellende Stimme stecken? Nun, sie war die Kleinste in der Familie, und wenn ihre Sirene losging, versuchten die Geschwister stets, den kleinen Schreihals mit allen möglichen Tricks ruhig zu stellen. Das klappte nie. Noch bevor wir positiven Einfluss auf ihre Stimmungslage ausüben konnten, erschien unsere Mutter auf der Bildfläche. Das heulende Elend klammerte sich so lange an ihr fest, bis wir eine saftige Standpauke und gelegentlich auch mal eine handfestere Variante mütterlicher Erziehung genossen hatten. Erst dann war unser ›Nesthäkchen‹ zufrieden. Still vor sich hin lächelnd genoss sie unsere Bestechungsversuche, die verhindern sollten, dass sie wieder ihre Sirene losheulen ließ.
Das Elternschlafzimmer lag im Westflügel des Bahnhofs über dem Clubraum der Gaststätte. Eine winzig kleine Kammer schloss sich daran an, die als ›Babyzimmer‹ diente. Aus ihrem ebenso winzigen Fenster hatte man einen tollen Ausblick auf den Rudolf-von-Bennigsen-Platz, der damals ein gepflasterter Wendekreis für Autos und Busse war. Die Mitte des Platzes war mit Gras bewachsen, sodass man freie Sicht auf den an der Hauptstraße gelegenen Bahnübergang hatte. Mutter schob einfach das Kinderbettchen vor das Fenster und parkte uns so zwischen, während sie die älteren Geschwister für die Schule fertig machte. Zusammen mit meiner kleinen Schwester, der ewig plärrenden Zicke, in einem vergitterten Kinderbett eingepfercht zu sein, aus dem ein Ausbruchsversuch sinnlos schien, war zeitlich begrenzt zu ertragen. Aber wirklich nur sehr eng begrenzt.
Man konnte aber auch nichts mit ihr anfangen, sie war einfach noch zu klein. Wackelig stehen ging schon, hölzerne Bauklötze umschmeißen funktionierte auch, aber für geistig anspruchsvolleres war die Zeit noch nicht reif. Während sie also im Bettchen saß und mit ihren gerade erhaltenen, vorderen Milchzähnen den Nuckel traktierte, wandte ich mich viel interessanteren Dingen zu. Der Bahnübergang wurde erneuert, Gleise ausgetauscht. Ein gelber Bau-Zug brachte Schienen und Schotter. Eine Menge Arbeiter waren damit beschäftigt, die maroden Holzschwellen gegen neue auszuwechseln. Ein kleiner Junge und seine Eisenbahn. Träumen von Lokomotiven und der weiten Ferne. Wohin mochten die Schienenstränge führen? Ob es schwierig war, so ein großes, Feuer spuckendes, schwarzes Ungetüm zu beherrschen?
Unsere kleine Heule-Eule hatte sich an den Gitterstäben hochgezogen und wollte auch aus dem Fenster schauen. Was es da wohl so furchtbar Spannendes zu sehen gab? Und überhaupt, mochte sie gedacht haben, ihr Bruder hatte schon lange genug davorgestanden. Sie fing an zu drängeln und zu drücken, denn für zwei reichte der Platz nun einmal nicht. Wer selber Kinder hat, weiß wie schwierig es ist, einen träumenden Jungen zum Weg- oder Weitergehen zu bewegen. Beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. So ein Bengel ist fast nicht von der Stelle zu bewegen. Meine Schwester hatte damit kein nennenswertes Problem. Als sie feststellte, dass sie mir körperlich unterlegen war, griff sie zu härteren Bandagen. Sie schwankte um mich herum, beugte sich vor, und jagte mir alle Schneidezähne ihres frischen Milchzahngebisses in den Rücken. Tief bohrten sich die scharfen Zähne in mein Fleisch, der Schmerz riss mich aus all meinen Träumen und ließ mich laut schreien. Ich versuchte, das bissige Anhängsel abzuschütteln, hatte aber keinen Erfolg. Froh und dankbar registrierte ich, dass meine Mutter auch auf mein Alarmgeschrei reagierte. Ihr gelang es schließlich, das bissige Nesthäkchen aus meinem Rückenfleisch zu entfernen. Das kleine Aas stand mit vor der schmächtigen Brust verschränkten Armen und einem ›Das-haste-nun-davon‹-Blick unschuldig lächelnd in ihrem Bettchen, während mir die Bisswunde desinfiziert und verpflastert wurde. Seither habe ich meine Schwester nie wieder in meinem Rücken geduldet. Tritt sie hinter mich, so folgt ihr noch heute ein scheeler Blick. Aber sie weiß, dass sie nicht unbeobachtet ist und hält sich zurück.