Читать книгу Eine seltsame Entführung - Claus D. Grupp - Страница 4
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ОглавлениеDer Mann fand nicht zur Ruhe. Immer wieder ging er jeden Schritt durch, übte mechanisch die Handgriffe, doch die Gedanken gerieten auf Abwege. Das Bild, das am Tag noch so klar und deutlich gewesen war, wurde verwirrend und verwirrt. Und immer stärker zerrten die auf Irrwegen wandernden Gedanken an den Nerven.
Er stand auf, ging, ohne Licht anzumachen, von der Couch über den Flur zur Küche, widerstand mit Mühe der Versuchung, ein beruhigendes Bier zu trinken, denn eine Flasche würde nicht ausreichend sein. Er musste am Morgen einen klaren Kopf haben, das Denken musste präzise funktionieren wie ein Uhrwerk.
Es war kurz vor zwei Uhr. Die Müdigkeit nahm mit jeder Minute zu. Er legte sich wieder hin in der Hoffnung, Ruhe zu finden. Eine Erinnerung drängte sich ins Bewusstsein. Irgendwann hatte er die Aussage eines Feldherrn aus alten Zeiten gelesen, todmüde Krieger seien die tapfersten in der Schlacht, deshalb ließ der historische Haudegen seine Soldaten in der Nacht vor dem entscheidenden Kampf marschieren und exerzieren und nur nicht zur Ruhe kommen.
Der Mann wälzte sich auf den Bauch, drückte das Kissen mit beiden Händen auf den Kopf, aber statt erhoffter Stille vernahm er ein Rauschen, pulsierend, als hörte er sein Blut durch die Adern fließen. Er warf das Kissen von sich, drehte sich auf den Rücken, stand wieder auf und ging zum Fenster. Einige Minuten lang fand er Abwechslung beim Betrachten der vom Wind bewegten Zweige und Äste der Kastanienbäume vor dem Haus, auf die das schwache Licht der Straßenlaterne fiel. Um diese Zeit begegnete man niemandem in diesem Teil der kleinen Stadt im Süden Deutschlands, um halb fünf wird die Zeitungsfrau kommen, um halb sechs machen die ersten Pendler sich auf den Weg zur Arbeit, auch heute wird es nicht anders sein, dachte er. Dann holte die Unruhe ihn wieder ein. Es war zwanzig nach zwei. Er ging zum Kleiderschrank und prüfte, ob vollständig sei, was er in wenigen Stunden anziehen musste, er zählte die Gerätschaften ab, die mitzunehmen waren, erschrak, weil er glaubte, irgendetwas fehlte, fand dann doch alles und schloss den Schrank.
Er ging ins Bad, nahm ein Medikament aus der Schublade eines Schränkchens, zog den Beipackzettel heraus, las die Wirkungen und Nebenwirkungen ab, entschied sich dann doch für Verzicht, ließ die Schachtel aber außen. Er drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf, wartete, bis das Wasser eiskalt floss und schüttete sich eine Handvoll davon ins Gesicht, füllte die Doppelhand erneut, goss sich das Wasser übers Haar und ließ die Nässe über Gesicht und Hals laufen. Er ging wieder ins Zimmer, blickte auf die Straße und die Bäume, deren Blätter sich immer noch im leichten Wind bewegten. Er schaltete den CD-Spieler ein, Brahms bremste die Erregung der Nerven ein wenig, er legte sich wieder hin, hörte wie von fern das Doppelkonzert, fast symbolisch, dachte er, ein Doppel ... in Moll ... – und wurde vom schrillenden Wecker aus dem Schlaf gerissen. Er war doch tatsächlich noch eingeschlafen. Es war vier Uhr zwanzig.
Er stand auf, blickte aus dem Fenster, die Zeitungsfrau war noch nicht zu sehen, ging ins Badezimmer, wusch sich ausgiebig mit kaltem Wasser und parfümfreier Seife, prüfte, ob er sich rasieren müsste, putzte sich sorgfältig die Zähne – auch nicht der Hauch von Mundgeruch sollte ihn heute verraten. Er leerte Darm und Blase, zog sich sorgfältig an, aß nichts und trank nichts, um völlig nüchtern zu bleiben – ganz schrecklich war die Vorstellung, im entscheidenden Augenblick würde die Blase herrisch auf Entleerung drängen.
Er holte die Stofftasche aus dem Schrank, die sorgfältig gefüllt und mehrmals überprüft worden war, er widerstand der Versuchung, den Inhalt noch einmal auf Vollständigkeit zu durchsuchen, warf von der Wohnungstür aus einen letzten wachsamen Blick zurück in den Flur, fand nichts Auffälliges, atmete einmal tief durch und war von dem Gedanken überrascht, um gutes Gelingen zu bitten oder zu beten. Er riss entschlossen die Tür auf und trat in den Hausgang. Der erste Schritt zur Tat war getan. Es war vier Uhr dreiundfünfzig. Der Gedanke, dass er in den nächsten Stunden noch ausreichend Gelegenheit haben würde, seine Absicht zu ändern, beruhigte ihn und beunruhigte ihn zugleich. Nur jetzt nicht zurückweichen.
Er trat vors Haus, sah keinen Menschen auf der Straße oder hinter einem Fenster, ging rasch die zweihundert Meter zum Parkplatz, auf dem mehrere Fahrzeuge standen, stieg in den Kleintransporter, startete und fuhr los. Der mausgraue Wagen war in der Morgendämmerung nur mit Mühe und gutem Auge zu erkennen. Nach einer halben Stunde Fahrt lenkte er den Kleintransporter auf einen Autobahnparkplatz, der durch dichtes Gebüsch in drei Reihen geteilt war. Nur ganz vorn, am nächsten zur Autobahn, parkten an diesem frühen Morgen drei Lastwagen und zwei Pkws. Er fuhr den Wagen zur hintersten Reihe, wo ein Drahtzaun den Zutritt zum Wald verwehrte, blieb einige Minuten ruhig sitzen und beobachtete den Platz zwischen sich und der Autobahn. Es war hell geworden. Nichts bewegte sich, offensichtlich war niemand aus den parkenden Fahrzeugen im Freien zum Pinkeln oder um die Füße zu vertreten.
Er stieg gemächlich aus, als wollte er eine kurze Fahrtpause einlegen, schlenderte zur Hecktür des Wagens, öffnete und holte zwei Kfz-Kennzeichen heraus, deren Buchstaben SRB auf einen Ort weit im Norden Deutschlands hinwiesen. Er presste die mit Klebstreifen versehenen Schilder ohne Hast und mit ständig zum Parkplatz gerichtetem Blick auf die alten Schilder, prüfte ihren festen Sitz und stieg wieder ein. Nach kurzem Warten startete er und verließ den Parkplatz. An der siebten Ausfahrt bog er von der Autobahn ab, fuhr etwa dreißig Kilometer auf einer Bundesstraße, wechselte dann auf eine Kreisstraße und fuhr zügig, aber jede Vorschrift für den Verkehr peinlich genau beachtend, zu einem Waldparkplatz, der von der Straße aus nicht eingesehen werden konnte. Der Weg zum Parkplatz war trocken, der Wagen hinterließ keine erkennbaren Spuren.
Er stieg aus, überprüfte noch einmal das Innere des Wagens, war zufrieden, nahm die Stofftasche vom Sitz, verschloss den Wagen und ging in den Wald hinein. Nach wenigen Minuten verließ er den Weg und ging in weitem Bogen zwischen den Bäumen zum Waldrand zurück, dabei sorgfältig alle Geräusche vermeidend, indem er jedem Zweig auf dem Boden auswich und die Füße hob, um das Rascheln im trockenen Laub zu vermeiden.
Als er die alte Bank am Wegrand wieder sah, machte er sich im Gebüsch, das bis an die Rückseite der Bank reichte, unsichtbar und wartete. Er hatte sich den Lagerplatz schon vor Wochen ausgesucht, hatte dafür gesorgt, dass von dort bis zur Bank keine trockenen Zweige auf dem Boden lagen, die ein verräterisches Knacken verursachen könnten, hatte Laub beiseite geräumt und darauf geachtet, dass kein dorniger Strauch ihn unversehens behindern konnte. Nun machte er es sich im dichten Gebüsch so bequem wie möglich, legte die Flasche mit dem Betäubungsmittel so auf den Boden, dass er sie geräuschlos aufnehmen und öffnen konnte, wenn es soweit war. Dann wartete er.
Nach seinen Vorausplanungen aufgrund wochenlanger Beobachtungen musste die junge Frau in sieben Minuten von ihrem Dauerlauf zurückkommen. Er wusste, dass sie auf genaue, fast rituelle Einhaltung der Förmlichkeiten Wert legte, sie würde pünktlich sein. Er spürte seinen raschen Pulsschlag in den Händen, im Kopf und im Bauch und zwang sich zu ruhigem und tiefem Atmen. Mittlerweile war es warm geworden.
Noch vier Minuten. Aufmerksam blickte er zum Waldrand. In den Wochen der Vorbereitung, in denen er mehrmals mit dem Zug zum vier Kilometer von hier entfernten Bahnhof gefahren war und zu Fuß den Wald durchquert hatte, war nie jemand unverhofft aufgetaucht. Warum sollte ausgerechnet heute ein Mensch auf die Idee kommen, hierher zu fahren oder zu laufen? Aber solche Zufälle gibt es halt. Die Aufregung nahm zu.
Noch zwei Minuten. Bald musste er die Geräusche vernehmen, die beim Dauerlauf auf Waldwegen unvermeidlich entstehen. Er lauschte angestrengt in die Richtung, aus der sein Opfer erscheinen musste. Hoffentlich hatte sie sich nicht ausgerechnet heute den Fuß verstaucht oder war über einen Stein gestolpert und gestürzt. Shit happens. Nur jetzt ruhig bleiben. Es war an der Zeit, die Maske übers Gesicht zu ziehen. Er war der Ansicht, das müsse er aus Rücksicht auf das Opfer tun. Heutzutage weiß jeder, dass ein Entführungsopfer geringe Chancen hat zu überleben, wenn es das Gesicht des Entführers erkennen konnte. Diese Angst sollte das Opfer nicht noch zusätzlich erleiden.