Читать книгу Eine seltsame Entführung - Claus D. Grupp - Страница 6
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ОглавлениеIm Haus der Entführten war es auffallend still geworden. Carolin war sich im Klaren darüber, dass sie eingesperrt war, und doch stand sie auf und prüfte, ob die Tür verschlossen war. Natürlich war sie zugesperrt. Ihre Uhr zeigte 19:03 an. Sie ging zum Fenster, aber jetzt bemerkte sie, dass ein Laden aus Holz das Fenster zusätzlich gesichert hatte. Sie starrte das Fenster an. Es war klein und alt, der Holzrahmen war vor langer Zeit weiß gestrichen worden, jetzt blätterte die etwas grau gewordene Farbe ab. Um es zu öffnen, musste man einen kleinen waagrechten Hebel um einen Viertelkreis nach rechts drehen, sie hatte so etwas noch nie gesehen. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und starrte die Deckenlampe an, in der Licht brannte. Nirgendwo im Zimmer war ein Schalter zu finden, um das Licht auszumachen, aber sie war auch froh darüber, dass es in ihrem Gefängnis nie dunkel wurde.
Sie rief „Hallo!“, aber es kam keine Antwort. Seltsam, dass sie sich plötzlich alleingelassen fühlte. Sie rief noch einmal „Hallo!“, klopfte gegen die Tür, schlug dann mit der Faust dagegen – keine Antwort. Wo war der Mann? Nun, wo sie allein im Haus war, hatte sie mehr Angst als zuvor. Würde er rechtzeitig zurückkommen? Und was bedeutete rechtzeitig? Sie spürte einen Druck auf der Blase, suchte das Zimmer ab und fand einen Nachttopf unter dem Bett. Sie musste große Hemmungen überwinden, ging mit dem Topf in das fensterlose Nebenzimmer und schämte sich bei der Vorstellung, dass der Entführer den Topf leeren musste. Vielleicht sollte sie ihn bitten, das Fenster zu öffnen.
Eine Tür wurde geräuschvoll aufgeschlossen, kräftige Schritte zeigten an, dass jemand ins Zimmer vor ihrem Gefängnis gekommen war.
„Hallo! Bin wieder da.“
Carolin war erleichtert, nicht mehr allein zu sein, hatte nun aber doch erneut Angst, weil sie nicht wusste, was der Mann mit ihr vorhatte.
„Ich habe mit Ihrer Familie gesprochen“, sagte er, und ihr Herz begann zu rasen. „Ich werde in zwei Minuten noch einmal anrufen, dann müssen Sie sprechen, hören Sie? Sagen Sie nichts weiter als Hallo, es geht mir gut, dann ist Schluss.“
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie war aufgeregt wie vor einer schweren mündlichen Prüfung.
„Also Vorsicht jetzt, ich rufe an.“
Sie hörte, wie der Mann mit verstellter Stimme rief, dies sei der letzte Anruf, man könne jetzt mit der Tochter sprechen. Die Luke wurde geöffnet, eine Hand mit einem alten Mobiltelefon erschien, sie schluchzte ein „Hallo Mama“ hinein, hörte wie im Albtraum eine Männerstimme, es war wohl Kommerer, der Anwalt, dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter, konnte kaum noch sprechen und sagte rasch auf, was sie sagen sollte, auch noch Grüße, das fiel ihr gerade ein, dann wurde das Handy zurückgezogen.
„Gut gemacht!“, wurde sie gelobt. Die Luke wurde wieder geschlossen.
„Halt!“, rief sie, „hören Sie mir zu, ich will was sagen.“
Von draußen wurde ihr mitgeteilt, sie würde später alles erfahren. Ihre Uhr zeigte 19:22.
Das Gespräch mit der Mutter hatte sie aufgewühlt, sie fühlte sich aber erleichtert, weil sie nun wusste, dass ihre Eltern nicht in der Ungewissheit bleiben mussten, ob sie noch lebte. Sie stellte sich die Situation in ihrem Zuhause vor. War der Vater im Haus? Wohl eher nicht, er war mehr unterwegs in der Welt als bei seiner Familie. Wer war bei ihrer Mutter, um sie zu trösten? Den Anwalt Martin Kommerer hatte sie gehört, sicher hatte die Mutter auch den Arzt angerufen, um etwas zur Beruhigung der Nerven zu bekommen, das tat sie immer, wenn sie sich aufgeregt hatte. Waren Polizisten anwesend? Hatte man schon Hinweise gefunden, auf der Bank im Wald, auf dem Parkplatz? Wusste man womöglich schon, wo sie jetzt gefangen gehalten wurde? Vielleicht hatte der Entführer ihr Handy in der Sporttasche nicht entdeckt, aber das glaubte sie eher nicht. Waren bereits Polizisten auf dem Weg zu ihr, vielleicht schon in der Nähe des Hauses? Sollte sie einfach anfangen, laut zu schreien, an die Fensterscheibe zu klopfen, sollte sie die Scheiben mit dem Stuhl einschlagen? Aber vielleicht würde das den Entführer in Rage bringen, vielleicht fühlte er sich noch in Sicherheit und glaubte, einfach abwarten zu können, bis seine Forderung erfüllt worden ist.
Was hat er überhaupt gefordert für ihre Freilassung? Sie wusste, dass ihre Familie reich war, wahrscheinlich sogar unermesslich reich. Sie hatte die Mutter nie gefragt, woher der Reichtum stammte, in dem sie aufgewachsen war, und den Vater hatte sie erst recht nie um Auskunft gebeten. Reichtum und Luxus waren einfach da, sie kannte nichts anderes.
Sie hatte nie jemanden kennengelernt, der aus einfachen Verhältnissen kam, sie war nie im Kindergarten gewesen, nie auf einer öffentlichen Schule. Jetzt fiel ihr auf, dass sie noch nie in ihrem Leben mit jemandem ernsthaft gesprochen hatte, der nicht aus reichem Hause kam, abgesehen von Gesprächen beim Einkaufen oder mit Personen, die etwas für sie zu erledigen hatten. Was wusste sie von Maria, die das Essen für die Familie kochte? Oder von Sebastian, der so lustig Wienerisch sprechen konnte und den sie dabei ertappt hatte, wie er sie beim Schwimmen im Pool heimlich beobachtet hatte? Oder vom Gärtner, dessen Name ihr nicht einfiel, oder von den anderen Bediensteten im Haus, wie viele waren es eigentlich? Kommerer, der Anwalt, war bestimmt nicht arm, vielleicht waren seine Eltern Mittelklasse, aber danach fragt man nicht. Sie war ihm nach Möglichkeit immer ausgewichen, weil sie seine Annäherungsversuche nicht ausstehen konnte. Kannte sie irgendeinen Menschen, den sie Freund oder Freundin nennen könnte? Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie eigentlich auf eine andere Art als die übrige Welt arm zu nennen sei. Gab es einen einzigen Menschen auf der Welt, der jetzt um ihr Leben zitterte, von der Mutter einmal abgesehen, von der sie es zumindest vermuten durfte? Liebte ihr Vater sie so, dass er nun seine Geschäfte vergaß, um ihr zu helfen? Liebte sie ihren Vater überhaupt?
Es wurde an die Tür geklopft. Sie hörte den Mann rufen, er wolle ihr etwas geben und dazu die Luke öffnen. Der Mann hatte einen Handschuh angezogen und reichte einige Blätter bedrucktes Papier herein, in eine Klarsichthülle gesteckt.
„Bitte lesen Sie das“, sagte der Mann, „Sie werden dann vielleicht verstehen, warum Sie hier sind, und vielleicht werden Sie danach etwas weniger Angst um ihr Leben haben.“
Sie setzte sich an den Tisch, nahm die Papiere aus der Folie und begann zu lesen: „Sehr geehrte Frau Bendtner, vorab möchte ich mich entschuldigen für die Angst, die Sie durch mich zu erleiden haben. Ihre Entführung soll einem guten Zweck dienen, den ich zu erklären versuche. Ich selbst werde von dem, was ich tue, keinen Vorteil haben, ich werde auch kein Lösegeld fordern, das mir zufließen sollte. Ich habe Ihre Eltern aufgefordert, den Betrag von zwölf Millionen Euro für Ihre Freilassung zu zahlen. Den Betrag werde ich einer Organisation zukommen lassen, die sich weltweit dafür einsetzt, das Schicksal armer Menschen und vor allem armer Kinder zu mildern und ihnen die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben zu eröffnen. Ihre Familie ist sehr reich. Gewinne in solchen Größenordnungen, wie sie die Geschäfte Ihres Großvaters und Ihres Vaters erbracht haben, müssen zwangsläufig enorme Verluste anderer Menschen zur Folge haben. Die Geschäfte der Banken und Unternehmen Ihrer Familie haben die Armut von Millionen Menschen verschärft, haben zur Fortdauer von Kriegen geführt.
Ich weiß, dass die zwölf Millionen, die ich zum Ausgleich des Leidens auf der Welt fordere, eine Wirkung haben werden wie ein Tropfen auf heißem Stein. Aber immerhin, es wird ein Signal sein. Vielleicht werden Sie, wenn dies alles hinter Ihnen liegen wird, darüber nachdenken, was ich Ihnen zu vermitteln versucht habe.
Was mit mir geschieht, ist nebensächlich. Habe ich Glück, bleibe ich in Freiheit und erlebe, dass Sie eine Aufgabe darin sehen, anderen Menschen zu helfen. Wenn nicht, werde ich mit dem Gedanken weiterleben müssen, dass sinnlos war, was ich versucht habe. Seien Sie mir nicht gram. Ich erwarte von Ihnen im Augenblick keine Reaktion. Alles Gute für Sie und die Menschheit!“
Das Schreiben verwirrte sie. Sie versuchte, die Motive des Mannes zu verstehen, ärgerte sich aber über die anmaßende Verurteilung der Geschäfte ihrer Familie. Im Grunde wusste sie nicht recht, was sie davon halten sollte. Ihre Uhr zeigte 22:32.
Die Frage aus dem Nebenraum, ob sie zu essen oder zu trinken wünschte, verneinte sie, dann fiel ihr aber doch ein, darum zu bitten, dass der Fensterladen geöffnet werde, damit sie den Nachttopf entleeren konnte. Sie hörte, dass der Mann das Haus verließ und wie wenige Augenblicke später der Fensterladen entriegelt und geöffnet wurde. Dann hörte sie den Mann rufen, sie solle das Fenster aufmachen. Draußen war es stockdunkel. Sie stand im Licht der Deckenlampe und versuchte, im Dunkel vor dem Haus etwas zu erkennen. Sie holte den Topf, war einen Augenblick in Versuchung, den Inhalt breit streuend aus dem Fenster zu schütten in der Hoffnung, der Mann würde etwas davon abbekommen, dann goss sie doch den Topf brav auf den Boden vor dem Fenster, schloss es und hörte, wie der Laden wieder geschlossen und verriegelt wurde. Sie legte sich bekleidet auf das Bett, zog die Wolldecke bis zum Kinn und war wenige Augenblicke später vor Erschöpfung eingeschlafen.