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EINLEITUNG

Ethik im Krankenhausalltag

In seinem berührenden Buch „Im Himmel warten Bäume auf dich“ schildert Michael Schophaus die Krankheit und das Sterben seines Sohnes Jakob, der im Alter von zwei Jahren an Krebs erkrankte. Die junge Familie lebte bis dahin in einer Welt, in der „nur die anderen“ Krebs haben. Und mit einem Mal wurde das Krankenhaus zum Alltag, der Krankenhausalltag zur Lebensaufgabe. Michael Schophaus schildert sich selbst als ungeduldigen Menschen, der angesichts seines schwer kranken Kindes wenig Verständnis für das Personal im Krankenhaus zeigen kann und will. Der Oberarzt, der sich ständig entschuldigen lässt, stellt ebenso eine nervliche Belastung dar wie Bettenmangel, Zeitnot, Raumnot oder eine unbedachte Bemerkung eines mitleidvollen Arztes bei der Chemotherapie: „Haben Sie noch andere Kinder?“ Zur notwendigen Belastung wird der Krankenhausalltag natürlich auch für den zweijährigen Patienten.

„Hier eine Spritze und dort ein Verband … Nur selten gab es Antworten, wenn ihn die Ärzte etwas fragten, denn sein Misstrauen wuchs mit dem Tumor … und wenn es ihm bei der Visite zu viel wurde, wenn die weißen Kittel wichtig und dicht gedrängt ums Bettchen standen, legte er sich einfach auf die andere Seite und schloss die Augen. Stellte sich tot, bis es wieder ruhiger wurde, bis er sich sicher wähnte in seiner kleinen Welt.“1

Eine kleine vertraute Welt mit Regeln, Regelmäßigkeit und Rhythmus schafft Geborgenheit – das ist eine Funktion wiederkehrenden Alltags. Auch im Krankenhaus gibt es solche Regelmäßigkeiten: Alltag inmitten des Ungeheuerlichen einer schweren Krankheit. Und auf diesen Alltag kann man sich auf verschiedene Weisen einlassen. Michael Schophaus schreibt davon, wie er mit seinem Sohn die Ärzte eingeteilt hat „in gute und schlechte, in nette und blöde, in arrogante und nahbare Gesellen“.2 Im Laufe des Berichts stellen sich zwei Eigenschaften als Schlüssel heraus: Fürsorglichkeit und Ernsthaftigkeit. Nicht kumpelhafte, das Leiden bagatellisierende und geschwätzige Ärzte, nicht überambitionierte Ärzte, die den Eindruck vermitteln, dass ihre Forschungstätigkeit wichtiger als alles andere sei, nicht die Eitlen und die Arroganten bestanden die Prüfung durch Michael und Jakob Schophaus, sondern die guten Zuhörer, die selbstverständlich Fürsorglichen, die Ernsthaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Das ist eine Frage der Charakterbildung, eine Frage der Werte, eine Frage der strukturellen Rahmenbedingungen. Man könnte sich an John Hatties Forschungen aus der Bildungswissenschaft erinnert fühlen: Die mit Abstand wichtigste Variable im Unterricht ist die Person der Lehrerin oder des Lehrers mit den Fähigkeiten, ein gutes Klima zu schaffen, den Schüler/​inne/​n Respekt entgegenzubringen und persönliches, spezifisches Feedback zu geben. Ist es im medizinischen Bereich grundsätzlich anders?

DETAILS MATTER

Auch Kleinigkeiten spielen eine Rolle, „details matter“. Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami hat nach dem Nervengasanschlag auf die U-Bahn in Tokio im März 1995 Interviews mit Opfern geführt. In einem Gespräch mit Toshiaki Toyoda, einem Angestellten der U-Bahn, sagte ihm dieser, dass Terrorismus von einem gesellschaftlichen Klima der Achtlosigkeit, wie er es täglich beobachten könne, genährt werde:

„Wenn man wie ich täglich mit so vielen Fahrgästen zu tun hat, erkennt man das. Es ist eine Frage der Moral. Wenn man auf dem Bahnhof arbeitet, bekommt man die Menschen von ihrer negativsten Seite zu Gesicht. Zum Beispiel: Es gibt Leute, die, wenn wir gerade den Abfall zusammengefegt haben, eine Kippe oder ein Stück Papier genau auf die Stelle werfen. Es gibt zu viele, die, statt Verantwortung zu übernehmen, nur an sich selbst denken.“3

Kleinigkeiten können einen entscheidenden Unterschied machen, man denke etwa an das Vorhandensein einer Uhr im Krankenzimmer. Es macht für manche Patient/​inn/​en, die viel an Kontrolle verloren haben, einen Unterschied, sich wenigstens in der Frage nach der Uhrzeit noch in Kontrolle zu wissen.4 „Unbehagen oder Verärgerung vieler Patienten bei Klinikaufenthalten entstehen bei den meisten nicht wegen der ärztlichen Behandlung, sondern aus der Summierung einer Fülle im Grunde unnötiger Unzuträglichkeiten“, beobachtet Klaus Dietrich Bock.

„Lärm, Unruhe, Hektik, ständige Störungen durch das Personal (oder aber es kommt kein Helfer, wenn er dringend gebraucht wird), mangelhafte Organisation der Diagnostik mit stundenlangen Wartezeiten auf Fluren, womöglich nüchtern bis zur Untersuchung um 14.00 Uhr, kurz angebundene Ärzte, keine Erklärung, was und warum es geschieht, langes quälendes Warten auf Ergebnisse mit der Folge überflüssig langer Liegezeiten (kostenträchtig für Versicherung und Kranke, aber von den Krankenhausträgern wegen besserer Auslastung der Bettenkapazität und der Kostenersparnis durch Pflegetage, an denen sonst nichts geschieht, sehr geschätzt!); nicht funktionierende Warmwasserversorgung, verschmutzte Toiletten, Waschtische und Bäder, Telefonanschluss erst nach drei Tagen, Verwechslung von Diäten, undichte Fenster, klemmende Sonnenrollos etc.“5

Das sind keineswegs Aspekte, die nur mit großem finanziellem Engagement in den Griff zu bekommen sind. Bei vielen Dingen geht es um Sorgfalt, Geistesgegenwart, Empathie und Kreativität. Es mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, wenn eine Spüle in einem Behandlungszimmer nicht einwandfrei funktioniert und ständig Probleme bereitet – aber damit wird eine Quelle regelmäßiger Ärgernisse erhalten.6 Es sind Kleinigkeiten, die über die moralische Atmosphäre in einem Krankenhaus entscheiden: Treffe ich an der Rezeption oder auf dem Gang, wenn ich jemanden nach dem Weg frage, auf gelangweilte, unfreundliche, gestresste Menschen? Wie laufen auch solche „small encounters“, solche kleinen Begegnungen, ab? Tim Benit und Anna Delegra, die ihre Erfahrungen als Krankenpflegekräfte beschrieben haben, freuen sich, wenn die Kollegen vom Nachtdienst „hoffentlich so nett“ waren, „schon mal Kaffee für die übermüdeten Frühdienstler“ zu kochen.7 Das sind Kleinigkeiten, die aber im Alltag einen großen Unterschied machen können. Details sind auch kleine „Zeitnischen“, etwa der kurze Augenblick mit einer Tasse oder einem Becher Kaffee; gleichsam „Inseln der Integrität“ in einem mitunter hektischen Alltag.

An Kleinigkeiten und Details kann man so etwas wie eine sorgfältige Grundhaltung ablesen; diese grundlegende Sorgfalt ist das Gegenteil von „carelessness“, wie sie sich auch in kleinen Alltagsschlampereien niederschlägt, wie etwa dem unvollständigen oder unleserlichen Ausfüllen von Formularen. Diese Sorgfalt zeigt sich auch in der Bereitschaft, auf Details zu achten. Der polnische Kinderarzt Janusz Korczak, der sich sehr viel Zeit genommen hat, über kleine Reaktionen von Kindern nachzudenken, hat die Beobachtungsgabe als entscheidend in der Begleitung von Menschen angesehen. Dabei war ihm der Insektenforscher Fabre, der über eine einzigartige Beobachtungsgabe verfügte und Insekten nicht sezierte, Vorbild.8 Ähnlich ist es einem Krankenhaus anzuraten, sich mitunter die Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen, auch auf Kleinigkeiten zu achten. Der Blick auf Details kann Zeit und Energie sparen. Ein Beispiel aus dem Pflegebereich: Ein dementer Patient wollte sich das Gesicht nicht mit einem Waschlappen waschen lassen. Die Prozedur war stets ein Kampf. Ein Pfleger kam schließlich auf die Idee, die Ehefrau zu fragen, ob denn der Waschlappen in der persönlichen Hygiene ihres Mannes eine Rolle gespielt hatte. Die Antwort: Ja, aber nur für den Unterleib, das Gesicht habe er sich stets im Waschbecken gewaschen. Das sind Kleinigkeiten, die sich aus einem kurzen Gespräch ergeben können. Die kluge Investition in ein Gespräch kann viel Ärger ersparen. Kleinigkeiten können einen entscheidenden Unterschied machen.

Um Kleinigkeiten geht es auch in diesem Buch: In der Theologie gibt es den Begriff „local theologies“ – „lokale Theologien“, die etwa in einer bestimmten Pfarre oder für einen ganz bestimmten Kontext entstehen. Manchmal spricht man auch von „little theologies“, von „kleinen Theologien“. Leonardo Boff hatte seinerzeit mit seinem bis heute berühmten Buch „Kleine Sakramentenlehre“ Bekanntheit erreicht und darin Alltagsgegenstände als sichtbare Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit angesehen. „Kleine Theologien“ entstehen vor allem aufgrund von Gelegenheiten, sind also anlassbezogen und erheben nicht den Anspruch, allgemeingültig zu sein. Sie beschränken sich in ihrer Geltung auf bestimmte, lokale Zusammenhänge, die sie ernst nehmen und kennen.

Um ein Beispiel zu nennen: Reinhold Stecher, der jüngst verstorbene frühere Bischof von Innsbruck, hatte einmal in einer Predigt anlässlich einer Priesterweihe den Priester mit einem Busfahrer verglichen – er solle dafür sorgen, dass er mit guter Vorbereitung und Konzentration unfallfrei fahren könne, den Fahrgästen, die Gäste seien, mit Höflichkeit begegne, das Ziel klar vor Augen habe und gut mit dem Kommen und Gehen der Fahrgäste, die zusteigen und aussteigen, umzugehen lerne … Das ist eine „kleine Theologie des Priestertums“. Ganz ähnlich kann man an kleine Ethiken für Alltagszwecke denken. Ein Krankenhaus in einem alpinen Tourismusgebiet wird anders über Kranksein und Gesundsein nachdenken als eine Universitätsklinik. Eine Krankenhausabteilung, die viele verunfallte Schifahrer, deren Urlaub unterbrochen wurde, zu verarzten hat, wird eine andere kleine Ethik entwickeln (Ethik des Unerwarteten und der durchkreuzten Pläne) als eine Palliativstation (Ethik der Langsamkeit, Ethik der guten letzten Schritte, Ethik des Daseins).

WAS SIE IN DIESEM BUCH ERWARTET

Um kleine Aspekte soll es in diesem Buch gehen. Es geht um den Versuch, Anhaltspunkte einer Ethik im Krankenhausalltag zusammenzutragen. Jedes Krankenhaus, jede Abteilung in einem Krankenhaus, ist eingeladen, über eine eigene „kleine Ethik“ nachzudenken. Ein Ordensspital wird sich beispielsweise in manchem anders verstehen als ein Krankenhaus, das nicht in kirchlicher Trägerschaft ist. Die Trägerschaft wird Auswirkungen auf Leitbild und Wertvorstellungen, auf die Grenzen zwischen „Pflicht“ und „Werken der Übergebühr“, die über die Pflicht hinausgehen, haben, auf die Gestaltung von Raum und Zeit. Die ethischen Fragen auf einer Intensivstation sind andere als auf der Gynäkologie, wieder andere als in einem Kinderspital. „Kleine Ethiken“ werden sich ohne große Fachbegriffe und große Thesen um den guten Umgang mit den Fragen des Alltags bemühen. Das hat auch etwas mit der Architektur eines Hauses zu tun. Eine „kleine Ethik“ in einer Krankenhausabteilung, die über einen Personalaufenthaltsraum verfügt, den sich ärztliches und nicht ärztliches Personal teilen, wird anders aussehen als ethisches Nachdenken über den Alltag in einem räumlich ganz anders strukturierten Gebilde. Diese äußeren Dinge wirken sich auch auf die Krankenhauskultur aus. Diese wiederum hat mit Aspekten wie Grüßen und Anrede (Duzen, Siezen, Umgang mit Titeln) zu tun, mit Formen der Höflichkeit und Rücksichtnahme und mit Strukturen eines Gemeinschaftslebens (Geburtstagsfeiern, Weihnachtsfeiern, Betriebsausflug, gemeinsame Fortbildungen). Es ist ethisch nicht unerheblich, welche Kultur sich herausbildet und wie Kultur weitergegeben und gepflegt wird.

Das Buch widmet sich drei großen Aspekten einer Krankenhausethik für den Alltag: erstens einer „Ethik für Menschen“ – einer Alltagsethik mit besonderem Blick auf die Bedürfnisse und die Eigenart eines Krankenhauses; zweitens der Institution Krankenhaus mit ihren ethischen Herausforderungen als menschlichem Krankenhaus und der Frage nach „happy hospitals“; drittens explizit den Menschen, die in einem Krankenhaus arbeiten, mit ihren Rollen und Beziehungen.

Es will also zum Nachdenken über eine kleine Ethik des Krankenhausalltags einladen. Nur diese Einladung, verbunden mit Hinweisen auf wichtige Fragen und Aspekte sowie einem Angebot an Begriffen und sprachlichen Unterscheidungen, kann dieses Buch unterbreiten.

Mensch bleiben im Krankenhaus

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