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I. „ETHIK FÜR MENSCHEN“: der Blick auf den Alltag

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„Schwieriger zu ertragen sind die Nächte. Während der Untersuchungen gelingt es mir ganz gut, eine gewisse Distanz zur Krankheit und meinen Problemen zu halten. Die nüchternsachliche Atmosphäre, in der sich die Untersuchungen abwickeln, und das rein klinische Interesse, mit dem ‚mein Fall‘ betrachtet wird, tötet jede weitere Gefühlsregung sofort ab. Des ungeachtet ist die Schutzhaut, die mich davor bewahrt, in wilde Panik auszubrechen, papierdünn und äußerst verletzlich, und es gibt Stunden, während ich im Zimmer liege und auf den nächsten Test warte, da erfüllt mich schwärzeste Hoffnungslosigkeit, und ich fühle mich hundeelend und wirklich sehr einsam. Nachts wird es dann noch schlimmer. Dann denke ich an all die vielen anderen, denke an all das Elend, das dieser riesige Betonklotz in sich birgt, und dann kann ich mit einem Mal beten. […] Ich habe Zeit, an mir zu arbeiten und meine Erkenntnisse so zu formulieren, dass ich sie [meine Freundin Annuska, Anmerkung], die aus der Hetze des Alltags heraus an mein Bett eilt, nicht mit Klagen zu empfangen brauche, sondern ihr tragen helfe.“9

Die Nacht in einem Krankenhaus – andere Geräusche, andere Gerüche, andere Erwartungen; eine eigene Welt.10 Es ist nicht nur die Welt des Sachlichen und des Professionellen, die Welt der Expertise und der kundigen Handgriffe, die Welt der Technologie und der chemischen Prozesse, die durch Medikamente gesteuert werden. Es ist nicht nur die Welt von Heilung und Sorge, Behandlung und Pflege. Es ist auch eine Welt von Angst und Unsicherheit, eine Welt von Verletzlichkeit und Gefühlen, eine Welt von Einsamkeit und neu erwachter Gottessehnsucht, eine Welt von Schmerz und einer neuen Kultur von Freundschaft. Die Nacht ist eine besondere Zeit; in der Nacht verschieben sich die Proportionen, manche Probleme werden ungemein groß. In der Nacht zeigt sich ein anderer Rhythmus, ein anderes Regelwerk. Tiziano Terzani nutzte die Nacht nach der Krebsdiagnose in der Klinik, um nachzudenken:

„Noch eine weitere Nacht verbrachte ich allein in der Klinik und hatte so viel Zeit nachzudenken. Ich überlegte, wie viele andere Menschen wohl vor mir in diesen Räumlichkeiten mit ähnlichen Mitteilungen konfrontiert worden waren, und empfand diese Gesellschaft irgendwie als Ermutigung.“11

Die Nacht als Raum des Denkens und Nachdenkens, die Nacht als Zeit der Kontemplation. Erving Goffman hat sich in seinen Studien über Institutionen immer auch gerade für deren „Unterseite“ interessiert, für das, was hinter der Bühne des Geschehens, abseits des grellen Tageslichts geschieht. So sind denn auch die Nächte in einem Krankenhaus einen besonderen Blick wert. Jerome Lowenstein beschreibt in einem Band über seine Erfahrungen als Arzt die Mitternachtsmahlzeit, die die in einem Krankenhaus im Zuge ihrer Ausbildung tätigen Ärzte gemeinsam einnahmen.12 Diese mitternächtlichen Begegnungen dienten nicht nur dem Verzehr von Überresten aus der Cafeteria, sondern vor allem auch dem Austausch, der gegenseitigen Unterstützung, der Bildung eines Gemeinschaftsgefühls. Auch in diesem Sinne kann sich ein Blick auf die Nacht in einem Krankenhaus lohnen; dieser Blick könnte zu einer „kleinen Ethik der Krankenhausnacht“ führen.

Im Folgenden soll also über Konturen einer „kleinen Ethik“ für ein Krankenhaus nachgedacht werden. Dabei wollen wir uns zuerst über den Begriff „Ethik“ Gedanken machen, dann über die Begriffe „Alltag“ und „Gesundheit“, um zuletzt ein kleines Wörterbuch vorzustellen, das Begriffe enthält, die für ein Nachdenken über ethische Fragen im Krankenhausalltag von Bedeutung sind.

Wir haben es hier nicht mit „sauberen Idealsituationen“ zu tun, wie sie am Schreibtisch oder im Lehnstuhl (als sogenannte „armchair ethics“) entworfen werden, sondern mit echten Lebenssituationen, die entsprechend „unaufgeräumt“ sind. Der amerikanische Medizinanthropologe Arthur Kleinman hat den professionellen Ethiker/​inne/​n nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, immer wieder Ethik für eine ideale Welt zu betreiben. Das Leben ernst zu nehmen bedeute, es zu sehen, wie es ist – „messy“.13 Oder in den Worten des protestantischen Theologen Reiner Anselm: „Ethik entsteht nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte der Entscheidung.“14 In diesem Bereich stickiger Atmosphäre und moralischer Luftverschmutzung bewegt sich die ethische Reflexion für den Alltag. Orte von Verletzlichkeit und Krankheit, wie sie Krankenhäuser darstellen, sind denn auch Orte, die für die Ethik besonders wichtig sind. Orte des Krankseins sind Orte der Ethik.15

Mensch bleiben im Krankenhaus

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