Читать книгу Die Kandidatin - Constantin Schreiber - Страница 3
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Оглавление»Wollt ihr absolute Diversität?«, schreit ein junger Mann mit Vielfaltsmerkmal ins Megaphon.
»Ja!«, skandiert die Menge, klatscht und jubelt. »Ja!« Die Demonstrierenden lassen Ballons in Regenbogenfarben in Form eines D steigen. D wie »Diversity«. Alle großen linken Gruppierungen sind vertreten, Antirassismusaktivisten, Kapitalismusgegner, Migrantenorganisationen, Klimaschützer. In ihren Gesichtern stehen Zeichen von Wut und Anspannung, von jahrelangem Kampf. Auf der anderen Seite der Absperrung wettern die Gegner.
»Stoppt die feindliche Übernahme unseres Landes!«, ruft dort ein alter weißer Mann ins Mikrophon. Hinter ihm recken weiße Männer und Frauen Fäuste in die Luft oder halten Plakate hoch. Auf manchen steht »Für meine Heimat«, andere zeigen Bilder von Frauen mit Hijab, mit dicker roter Farbe durchgestrichen. Die Rechten schreien zornerfüllt. Alles, was sie hassen, ist direkt vor ihnen.
Wie zwei Kampfhunde an der Leine, bellend und fletschend und gerade so zurückgehalten, dass sie sich nicht zerfleischen, stehen sich links und rechts vor der Zentrale der Ökologischen Partei gegenüber. Es ist der Tag der Entscheidung. Nur noch wenige Minuten bis 18 Uhr, bis ihr Deutschland vielleicht ein anderes sein wird. Bis Sabah Hussein als erste Muslima zur neuen Bundeskanzlerin gewählt sein wird – oder auch nicht.
An vielen Orten in Deutschland ist die Gewalt bereits eskaliert. »Wo ist die Polizei?«, klagt eine verängstigte ältere Frau in einem Video, das in den sozialen Kanälen tausendfach geteilt wird, während hinter ihr ein Mob zu sehen ist, der Feuer legt, Autos zerstört, weiße Passanten verprügelt. »Fuck white privilege!«, schreien die Protestierenden. Man muss annehmen, dass die Polizei die Chaoten und Schlägertrupps unbehelligt walten lässt. Weil sie offen rechts ist, wurde die Polizei vielerorts durch andere Strukturen ersetzt.
Die rechten Extremisten wüten. Sie nennen sich Heimatkämpfer, vermummte, bullige Gestalten, die es vor allem auf Journalisten und Redaktionsgebäude abgesehen haben. Am Mittag halten plötzlich drei schwarze Vans vor dem Redaktionshaus der Pfote, einem bekannten linken Presseorgan. Binnen Minuten stürmen voll vermummte Extremisten das Gebäude, legen Feuer, schlagen Journalisten zusammen. Kurz darauf posten die Heimatkämpfer Bilder von am Boden liegenden blutüberströmten Journalisten und zertrümmerten Redaktionsräumen. Einige Pfote-Mitarbeiter können sich im Konferenzraum verbarrikadieren, kauern unter Tischen und schicken über Twitter und Instagram Hilferufe nach draußen. Die Antifakämpfer und die muslimische Schariabrigade kündigen an, zur Unterstützung zu kommen und die Heimatkämpfer zu vertreiben.
Überall Gewalt, Eskalation und Hass.
Es ist 17:50 Uhr. Im Netz und auf den Bildschirmen sind Liveaufnahmen geschaltet, die Kameras auf den Balkon der Parteizentrale der ÖP in Berlin gerichtet, auf den sie gleich hinaustreten wird. Sabah Hussein wird eine Ansprache halten an dieses so gespaltene Deutschland.
Sie selbst ist Sinnbild dieser Spaltung, einer Polarisierung, die keine Kompromisse zulässt. Entweder ist man für Sabah Hussein und für all das, wofür sie steht, Weltoffenheit, Diversität, Antikapitalismus, Feminismus, Antirassismus. Oder man ist dagegen. Welche Worte der Versöhnung kann sie finden, welche Taten ankündigen, um den Hass zu lindern? Wie nur kann sie es bewerkstelligen, sie, deren Aufstieg auch erst möglich geworden ist durch den Hass, die Spaltung, die Polarisierung?
Wie auch immer die Wahl ausgeht, wenn sie auf den Balkon tritt, werden die Massen toben und aufeinander losgehen. Und so steht für viele über all dem Lärm, den Parolen und der Gewalt an diesem Tag eine einzige Frage:
Wie konnte es so weit kommen?