Читать книгу Die Kandidatin - Constantin Schreiber - Страница 6
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ОглавлениеDie Sonne wirft gleißendes Licht in den Saal der Bundespressekonferenz. In dem großen Raum direkt an der Spree sitzen die letzten hauptberuflichen Politjournalisten.
Reporter vor Ort werden fast nicht mehr gebraucht. Die neuesten Nachrichten gibt es direkt über die offiziellen Accounts der Ministerien, und YouTuber, Twitter-Stars und Blogger arbeiten als Freie. Alle Aspekte des politischen Geschehens werden in den sozialen Medien von den Nutzern kommentiert, und ab und zu geraten Insiderberichte durch Whistleblower an die Öffentlichkeit.
Gedruckte Tageszeitungen gibt es nicht mehr. Nur noch ein paar wenige Wochenzeitschriften werden in niedriger Auflage weiterproduziert, in Zentralredaktionen werden Agenturmeldungen von studentischen Hilfskräften übernommen und zu Texten verarbeitet. Gleichzeitig stagnieren aber auch die Onlineabrufe. Jeder ist inzwischen online, die Möglichkeiten der Bezahlmodelle sind ausgeschöpft, und die Einnahmen daraus reichen nicht aus, um Verlagsgebäude zu unterhalten und aufwendige Recherchen zu ermöglichen. Abbau ist das Wort der Stunde, ganze Redaktionen verschwinden.
Eine neue Art der Berichterstattung bestimmt das Geschehen: Peer Journalism. Die Medien versorgen ihre Zielgruppe mit Meinungsbeiträgen, die dem weltanschaulichen Profil der Leser entsprechen. Die Texte werden meist von ehrenamtlichen Aktivisten verfasst, die Medien werden durch Spenden unterhalten. Antirassismus- und Klimajournalismus haben sich zu eigenen Genres entwickelt, und viele Nachrichtenseiten greifen auf dieses Modell zurück.
Dass es außerhalb der allumfassenden Welt der Blogger, YouTuber und Social-Media-Influencer noch Arbeit für klassische Journalisten gibt, liegt an der freigiebigen Unterstützung durch Stiftungen, Ministerien und EU-Programme, und eine Einmischung durch die Geldgeber findet nicht statt. Sie fördern beispielsweise Multimediaprojekte gegen rechts oder Recherchen zu Diversität. So entstanden ein paar neue digitale Plattformen, und zwei, drei bestehende sahen sich in der Lage, ihre Arbeit weiterhin aufrechtzuerhalten.
Der Globus bringt Reportagen aus der Dritten Welt, weil die One-World-Stiftung einen großzügigen Betrag bereitstellt. Vor kurzem hat das Frauenministerium eine umfassende Darstellung von starken Frauen in der Wirtschaft unterstützt. WTL und Globus bekamen den Zuschlag und bringen jede Woche ein großes Porträt. Eine Ausschreibung des Ministeriums für Gerechtigkeit lobte Projektförderungen in Höhe von dreihundert Millionen Euro jährlich aus für Arbeiten, die Gefahren von rechts aufdecken. Den Zuschlag für die größte Fördersumme hat ein Privatsender erhalten, er produzierte in der Folge Deutschland gegen rechts, eine der erfolgreichsten deutschen Dokuserien. Die junge Zielgruppe streamt begeistert.
Manch klassischer Journalist ist direkt zu einem der Ministerien gewechselt, wo Livestreams, Talkshows, Videos und Infoseiten produziert werden. Die jungen, gut ausgebildeten Journalisten tragen starke Stimmen in den antirassistischen Diskurs.
In der Bundespressekonferenz werden an diesem Morgen zwei neue Gesetze vorgestellt. Das sogenannte Gute-Namen-Gesetz (GuNaG) erlaubt Frauen und Diversen, ihre Namen dem Gender entsprechend anzupassen. Frauen mit männlich besetzten Nachnamen können diese in eine weibliche Form ändern. Aus Kaufmann wird Kauffrau, aus Angerer wird Angerin. Diverse Menschen können das Suffix -ix annehmen, zum Beispiel Kaufix und Angerix.
Das zweite Gesetz betrifft die gesetzlich festgeschriebene Diversitätsquote. Das Ministerium für Gerechtigkeit und das Antirassismusministerium haben zusammen eine Matrix für alle Personalebenen von Unternehmen entwickelt, die gerechte Teilhabe realisieren und Diskriminierung beseitigen soll.
»Ein Meilenstein«, sagt die zuständige Ministerin Anja Müller-Papst. »Ab dem kommenden Monat müssen sich Arbeitnehmer:innen und Arbeitssuchende dem neuen Gesetz entsprechend in den folgenden Kategorien eintragen: weiblich, männlich, divers, homosexuell, nichtbinär, weiß, BIPOC, muslimisch, nichtmuslimisch, mit/ohne Vielfaltsmerkmal, mit/ohne Hijab, mit/ohne Behinderung.«
Der Gesetzestext wird an die Anwesenden verteilt und gleichzeitig online gestellt:
Vielfaltsförderungsgesetz (VifaföG)
§ 1 Diversitätsziel
(1) Ziel dieses Gesetzes ist, die Diversität der Angestellten und Manager:innen von Unternehmen zu erhöhen und diskriminierte Identitäten zu fördern.
(2) 1Die Diversität der Angestellten und Manager:innen von Unternehmen wird in Vielfaltsmerkmalen gemäß § 2 bemessen. 2Diskriminierte Identitäten sind solche im Sinne des § 3.
(3) 1Angestellte im Sinne dieses Gesetzes sind Mitarbeiter:innen ohne Personalverantwortung. 2Manager:innen im Sinne dieses Gesetzes sind Mitarbeiter:innen mit Personalverantwortung.
§ 2 Vielfaltsmerkmale
Merkmale der Vielfalt von Angestellten und Manager:innen sind:
a) weibliches Geschlecht;
b) nichtweiße Hautpigmentierung;
c) erkennbar gelebter muslimischer Glaube;
d) das regelmäßige, nicht nur gelegentliche Tragen eines Hijab;
e) eine Behinderung gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX;
f) eine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung;
g) andere Benachteiligungen gemäß § 33c S. 1 SGB I.
§ 3 Diskriminierte Identitäten
(1) Personen mit den folgenden Vielfaltsmerkmalen gehören zu den diskriminierten Identitäten ersten Grades:
a) nichtweiße Hautpigmentierung;
b) erkennbar gelebter muslimischer Glaube;
c) eine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung;
d) diverse geschlechtliche Identität;
e) das regelmäßige, nicht nur gelegentliche Tragen eines Hijab.
(2) Personen mit den folgenden Vielfaltsmerkmalen gehören zu den diskriminierten Identitäten zweiten Grades:
a) asiatische Abstammung, soweit sie nicht eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen und nicht erkennbar den muslimischen Glauben leben;
b) weibliches Geschlecht.
(3) Personen osteuropäischer Abstammung, die nicht eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen und auch sonst nicht aufgrund ihres Aussehens eine vergleichbare Diskriminierungserfahrung machen, gehören zu den diskriminierten Identitäten dritten Grades.
§ 4 Bestimmungsbefugnis der Gesundheitsämter
Besteht zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in keine Einigkeit über das Vorliegen von Vielfaltsmerkmalen und/oder über die Zugehörigkeit von Personen zu diskriminierten Identitäten, so entscheiden die örtlich zuständigen Gesundheitsämter.
§ 5 Vielfaltsmerkmale-Quotenregelungen
(1) 1In Unternehmen sowie in Betriebsstätten und Niederlassungen von Unternehmen mit mindestens zehn Mitarbeiter:innen müssen mindestens fünfzig Prozent der Angestellten mindestens ein Vielfaltsmerkmal gemäß § 2 aufweisen. 2Mindestens fünfundzwanzig Prozent der Angestellten müssen erkennbar muslimischen Glauben leben. 3Mindestens fünfundzwanzig Prozent der Angestellten müssen weiblichen Geschlechts sein. 4Mindestens fünf Prozent der Angestellten müssen muslimischen Glaubens und weiblichen Geschlechts sein sowie regelmäßig, nicht nur gelegentlich einen Hijab tragen. 5Mindestens fünf Prozent der Angestellten müssen eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen. 6Mindestens drei Prozent der Angestellten müssen eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX aufweisen. 7Mindestens fünf Prozent der Angestellten sind mit Personen zu besetzen, die anderen diskriminierten Identitäten zuzurechnen sind.
(2) 1Fünfzehn Prozent aller Angestellten müssen homosexuell sein. 2Bewerber:innen mit diverser geschlechtlicher Identität dürfen nicht abgelehnt werden, solange sie – gemessen an den Erhebungen des Bundesstatistikamts – unterrepräsentiert sind.
(3) Im Management dürfen nicht mehr als fünfundzwanzig Prozent Männer sein, die nicht eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen.
(4) 1Die Gehälter und Lohnnebenkosten für Managements, die besonders divers sind, können bei der Ermittlung der Körperschaftssteuer mit fünfundzwanzig Prozent vom zu versteuernden Jahresergebnis in Abzug gebracht werden. 2Besonders divers sind Managements, wenn mindestens fünfundsechzig Prozent ihrer Mitglieder Vielfaltsmerkmale gemäß § 2 aufweisen, mehr als vierzig Prozent Muslim:innen oder mehr als siebzig Prozent Frauen sind.
§ 6 Sonderkündigungsrecht
1Unternehmen haben ein Sonderkündigungsrecht bezüglich der Arbeits- und Dienstverträge mit ihren Angestellten und Manager:innen, sofern und soweit die bestehenden Arbeits- und Dienstverträge mit ihren Angestellten und Manager:innen den Quotenregelungen gemäß § 5 entgegenstehen. 2Angestellte und Manager:innen ohne Vielfaltsmerkmale können mit einer Frist von sechs Wochen entlassen werden, sofern und soweit sie durch Angestellte und Manager:innen ersetzt werden, die Vielfaltsmerkmale gemäß § 2 aufweisen.
§ 7 Staatliche Förderung
1Manager:innen, die nicht eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen, stellen ein besonderes strukturelles Hindernis für diskriminierungsfreie Unternehmen dar. 2Ihr Innehaben von Machtpositionen konfrontiert diskriminierte Identitäten gemäß § 3 mit der schmerzvollen Geschichte ihrer Unterdrückung und löst bei ihnen Stressreaktionen aus. 3Das Bundesministerium für Justiz wird daher durch Rechtsverordnung gemäß Art. 80 GG ermächtigt, Managements, die eine nichtweiße Hautpigmentierung aufweisen, aus dem Bundesaufkommen der Umsatzsteuer finanziell zu unterstützen.
Bereits während der Pressekonferenz streiten Journalisten in den sozialen Medien über das Vielfaltsförderungsgesetz.
Der Tweet von Hatice Güler geht durch die Decke, »Migrant Supremacy!«, dahinter das Emoji einer dunkelhäutigen gereckten Faust. Güler ist Vorsitzende der Migrantenorganisation »Die Deutschen von morgen«, finanziert vom Ministerium für Gerechtigkeit. Als Kolumnistin für Migrationsthemen schreibt sie außerdem ehrenamtlich für den Globus. Die konservative AKUT warf Güler in einem bissigen Artikel einen auf der Hand liegenden Interessenkonflikt vor. Dank der Unterstützung durch antirassistische Kolleginnen konnte der Vorwurf abgewehrt werden. Bei der AKUT handelt es sich immerhin um eine fast rechtsextreme Publikation.
Noch am selben Tag veröffentlicht der Globus Gülers Kommentar. Unter dem Titel »Migrant Supremacy. Ein Schritt in die richtige Richtung« notiert sie: »Das Patriarchat – die reichen weißen Männer – bekommt jetzt die Quittung für Jahrhunderte von Frauenhass und Diskriminierung. Getroffene Hunde bellen, heißt es so schön. Wer jetzt auf diese Weise gegen Frauen, Muslim:innen, Schwarze agitiert, entlarvt sich als das, was er ist: ein alter Rassist. Und das kann weg.«
Auch Sabah Hussein ist an diesem Morgen vor Ort, auf dem Weg zum Gebäude der Bundespressekonferenz. Sie führt einen Demonstrationszug von etwa dreitausend vor allem jungen Menschen an. Zusammen mit anderen Protestierenden hält sie ein Transparent mit der Aufschrift »Diversity!« vor sich. In kurzen Abständen ruft sie »Vielfalt jetzt!« in ihr Megaphon, und die Menge hinter ihr wiederholt den Aufruf. Kurz vor der Bundespressekonferenz kommt die Demo zum Stehen. Hier haben sich bereits die Rechten versammelt, um mit einer skurrilen Aktion gegen das Diversitätsgesetz zu protestieren.
Das Bündnis aus rechten Gruppen, konservativen Politikern und Unternehmern hat den Verein »ProMann« gegründet, man fordert eine weiße Männerquote in Medien und Politik von dreißig Prozent. Laut »ProMann« ist der Anteil an weißen Männern in führenden Positionen in den vergangenen Jahren auf weniger als fünfundzwanzig Prozent gesunken. In gewissen Bereichen gebe es überhaupt keine weißen Männer mehr. »So geht es nicht weiter!«, rufen die konservativen Aktivisten. Sie haben ebenfalls ein Transparent entrollt: »Wir sind immer noch dreißig Prozent!« Pfiffe und Sprechchöre sind zu hören. Sabah und ihre Demonstranten schreien »Diversity!«, immer und immer wieder: »Diversity, diversity!«
Während sich draußen die Fronten verhärten, warten die Reporter im lichtdurchfluteten Hof des Gebäudes auf den Beginn der Pressekonferenz. Jonas Klagenfurt ist einer von ihnen. Er schreibt für AKUT, Deutschlands größtes Boulevardmagazin. AKUT steht vor allem für nackte Frauen, Genderbashing und Kritik an der Migrationspolitik. Schlimmer noch, AKUT gibt regelmäßig Argumentationshilfen für Rechte und Rechtsextreme. Am frühen Morgen hat Klagenfurt anonyme Post bekommen. Post wie früher, in einem Umschlag. Das ist sehr ungewöhnlich, aber: Papierpost – das fällt auf. Er holt den Brief aus der Umhängetasche, will sich die Dokumente noch einmal genau ansehen. Er hat eine starke Vermutung, warum man ihm diese Infos zugespielt hat.
Zuerst zieht er zwei Fotos aus dem Umschlag, Screenshots von Bildern, die jemand vor sechs Jahren, das ist am Datum zu erkennen, auf Facebook gepostet haben muss. Auf dem ersten Foto sind eine Frau mit einem Hijab und drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, abgebildet. Sie stehen in einem großen hellen Raum und lächeln in die Kamera. Im Hintergrund sieht man eine Wandtafel und einen älteren Mann mit Vollbart und Turban. Auch er lächelt. Auf dem zweiten Foto sind wieder die Frau und der Mann mit Turban zu sehen, neben ihnen steht das Mädchen mit einem Hijab. Sie ist ungeschminkt.
Klagenfurt stockte der Atem, als er die Bilder zum ersten Mal sah. Er wusste, dass es sich bei dem Mädchen um Sabah Hussein handelt, es musste sie sein, unverkennbar. Bloß, wo wurden die Aufnahmen gemacht? Wer sind die anderen abgelichteten Menschen? Und wer hat ihm die Bilder zugeschickt? Auf den Rückseiten der Fotos hat jemand mit schwarzem Edding ein einziges Wort geschrieben: Mleeta.
Jonas Klagenfurt ist einer der besten AKUT-Reporter. Selbst die, die AKUT abschaffen wollen, zollen ihm Respekt, weil er immer wieder dahin geht, wo es wehtut, und seine Interviews sind legendär, allen voran das mit der französischen Präsidentin Marine Le Pen. Man sagt, sie habe das Gespräch mit Klagenfurt abgebrochen und ihn aus ihrem Büro geworfen, weil er zu viele Franzosenwitze gemacht habe. Mit dem halblangen Bart, den strubbeligen Haaren und dem zerknitterten beigen Cordjackett macht Klagenfurt einen verwegenen Eindruck und wirkt ein paar Jahre älter, als er ist.
Mleeta, denkt er, Mleeta … Das sagt ihm doch was. Natürlich! Die berüchtigte Propagandastätte gegen Israel. Klagenfurt googelt auf dem Handy. Da ist es: Tourist Landmark of the Resistance. Eindeutig, die Bilder, die als Erste erscheinen, zeigen eine Art Freilichtmuseum. Panzer stehen rum, Granatwerfer sind zu sehen, ebenso wie die Bilder von Märtyrern, die im Kampf gegen Israel gefallen sind. In Mleeta, das weiß man, wird schon den Jüngsten eingebläut, wer der Feind ist: die Juden und ihr verhasster Staat. Jetzt lässt sich auch eruieren, wer der bärtige Mann ist. Hassan Nasrallah, der Chef der radikalen Schiitenorganisation Hisbollah. Das passt zu den Ausdrucken von arabischen Zeitungsartikeln, die auch in dem Brief liegen. Auf dem Foto zu einem der Artikel ist eine Straße voller Menschen zu sehen. Sie drängen sich um hochgehaltene, mit Flaggen der Hisbollah bedeckte Särge. Es ist eine Prozession zu Ehren der Toten. Soldaten oder Milizionäre recken Gewehre in die Luft. Ihre Gesichter sind vermummt. Klagenfurt überlegt. Will hier jemand beweisen, dass sich die mögliche nächste Bundeskanzlerin als Kind in Mleeta aufgehalten hat? Sind die Bilder echt? Aber nur weil Sabah einmal an einem antisemitisch geprägten Ort war, heißt das noch nichts. Den Facebook-Account, von dem die Bilder stammen, gibt es nicht mehr.
Er muss so schnell wie möglich rauskriegen, was dahintersteckt. Auch wenn das noch nicht für eine Geschichte reicht, es könnte ein Anfang sein. Sabah war ihm schon immer suspekt, gerade wegen ihrer engen Bindung zu Abd al-Malik und seiner Gemeinde. Das terroristische Netzwerk ist groß, und es gibt unzählige Zellen in Berlin. Klagenfurt packt die Unterlagen und verlässt die Bundespressekonferenz. Draußen ruft er Said an, den marokkanischen Kollegen aus der Grafikabteilung. Sie verabreden sich zum Lunch.
»Jonas, das ist reinste Propaganda. Es geht um Märtyrer im Süden des Libanon, die in einem Kampf bei Kafr al-Jedid gefallen sind.« Said blickt Klagenfurt verschwörerisch an. »Im Kampf gegen die Zionisten.« Er nippt an seinem Espresso. »Vielleicht interessiert dich ja das«, sagt er bedeutungsvoll, »es geht in allen Artikeln immer wieder um eine syrische Familie. Einer der Märtyrer kommt aus dieser Familie, er heißt Fadi. Fadi Hussein.«
»Okay. Hussein. Wie Sabah Hussein«, sagt Klagenfurt und nickt. »Liegt auf der Hand.« Aber das reicht noch immer nicht für eine saftige Story. Die Quelle ist unklar, der Wahrheitsgehalt fraglich, ein entsprechender Bericht könnte rufschädigend sein. Und doch, die Post schürt seine journalistische Neugierde. »Dank dir, Said. Lunch geht auf mich, gern bald wieder.« Er muss zurück zur Bundespressekonferenz.
Er weiß, er ist nicht der Einzige, der diesen Umschlag erhalten hat. Da plant jemand eine große Kampagne. Ihm soll es recht sein, ihm geht es jetzt vor allem darum, die Spur weiterzuverfolgen und der Erste zu sein, der mehr rausfindet. Aber was weiß er eigentlich über Sabah? Kurz rekapitulieren: Es ist bekannt, dass sie im Flüchtlingslager Rashidiya im Süden des Libanon geboren wurde und die ersten sechs Lebensjahre dort verbracht hat. Auch dass sie dann mit ihrer Familie über die Balkanroute nach Europa kam, nach Deutschland. Es gibt Bilder von ihren Eltern, wie sie mit Sabah im Winter durch einen eisigen Fluss waten. In Interviews schilderte sie regelmäßig, dass sie, so viele Jahre nach der Flucht, noch immer Albträume habe, weil sich diese fürchterlichen Erlebnisse in ihre früheste Erinnerung eingebrannt haben. Der Zaun in Ungarn etwa, den sie bei Nacht und Nebel überwinden mussten. Die bewaffneten Männer am Bahnhof in Budapest, an denen vorbei sie in einen Zug stiegen.
Schließlich kam die Familie nach Berlin. Sie wurde in einer Flüchtlingsunterkunft aufgenommen. Sabah betont immer wieder, dass sie hier zum ersten Mal Sicherheit verspürte und dass mit dieser Sicherheit Deutschland allmählich zu ihrem Zuhause wurde. Erst mit acht Jahren fing sie an, Deutsch zu lernen, übersprang bald eine Schulklasse und machte als Erste ihrer Familie Abitur. Sie wollte die Vergangenheit verdrängen, die Flucht, die Angst. Sie wollte so sein wie ihre Mitschülerinnen. Sie wollte dazugehören und dieses Gefühl niemals wieder aufgeben müssen. Wahrscheinlich hat sie darum nicht von ihrer Kindheit im Libanon berichtet. Mleeta hat sie nie erwähnt.
Zurück bei der Pressekonferenz versucht Klagenfurt rauszukriegen, welche Kollegen ebenfalls anonyme Post erhalten haben. Interessanterweise sind es allesamt Journalisten herkömmlicher Medien und nicht Vertreter des klar rechts positionierten Spektrums. Somit ist es fragwürdig, ob die möglicherweise kompromittierenden Dokumente einer rechten Hetzkampagne zugrunde liegen, mit der die muslimische Kanzlerkandidatin geschädigt werden sollte. Rechte Netzwerke unterhalten eigene Plattformen, sie würden die Informationen selbst veröffentlichen und nicht Systemjournalisten zusenden. Wer sonst? Politische Rivalen? Möglich. Aber wie sind sie an die Aufnahmen gekommen? Klagenfurt fragt sich jetzt, ob es den Facebook-Account, von dem die Fotos stammen, überhaupt je gegeben hat. Ist am Ende alles fake?
Wie auch immer, jemand will Sabah Hussein bösen Schaden zufügen.