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ОглавлениеZwei Tage nach Dresden sitzt Sabah Hussein am Schreibtisch ihres Büros im Innenministerium in Berlin-Mitte. Der schlichte funktionale Bau wurde 2014 fertiggestellt. Das Brandenburger Tor, die Spree, das Kanzleramt, alles ist nur wenige hundert Meter entfernt, und wenn Sabah aus dem Fenster schaut, breitet sich vor ihr das grüne Meer des Tiergartens aus. Selbst wenn sie am Schreibtisch sitzt, kann sie über die mächtigen Baumwipfel der grünen Lunge der Hauptstadt blicken.
Ihre Partei hat vor zwei Jahren durchgesetzt, dass viele Freiflächen in der Innenstadt zu Parks und Grünflächen umfunktioniert wurden. Sabah gefiel das, weil sie diese Weite von früher nicht kannte. In einem Flüchtlingslager aufgewachsen, hat sie später immer in dicht besiedelten Stadtteilen gelebt, in kleinen engen Wohnungen. Der Tiergarten ist für sie ein Symbol für das andere Leben, das sie jetzt führt. Oft läuft sie vor der Arbeit auf den Schotterwegen durch den weitläufigen Park, hält ab und an inne und schaut nach oben in die dichten Blätter, während die aufgehende Sonne Lichtblitze auf ihr Gesicht wirft. Die Weite, die Stille, das Grün. Sie weiß, warum Grün die Farbe des Islam ist. Der Prophet soll sich am liebsten in grünen Gewändern gezeigt haben. Grün ist Leben, ist Frieden, ist Hoffnung. Sie kann es jedes Mal spüren, wenn sie laufen geht.
Ihr Büro ist groß und hell. Der schlichte Schreibtisch sieht so aufgeräumt aus, dass man meinen könnte, er sei bloße Dekoration. Vor der Fensterfront steht eine u-förmige hellbraune Couch, davor ein etwas aus der Zeit gefallener Glastisch. Ordnung ist für Sabah wichtig. »Da bin ich deutscher als deutsch«, sagte sie einmal in einem Interview.
Sabah lehnt sich in dem dunklen Ledersessel zurück und öffnet das Paket, das die Mutter ihr am Vortag mitgab. Sie hat ein altes Foto rahmen lassen, das die Tochter gemeinsam mit dem Vater zeigt. Als kleines Kind im Flüchtlingslager. Beide strahlen. Sie waren fröhlich, trotz der Armut und der Unsicherheit, in der sie lebten. Heute wäre Sabahs Vater achtundsiebzig Jahre alt geworden. Was wäre der Vater stolz auf seine Tochter. Was sie alles erreicht hat, wer sie geworden ist! Ach, wenn er sie nur sehen könnte!
Sabah spürt Wehmut in sich aufsteigen. Sie packt das Bild aus dem Seidenpapier und stellt es zu den anderen Fotos von den Menschen, die ihr wichtig sind und die sie zu der Person machten, die sie heute ist. Ein golden gerahmtes Bild der Eltern steht da. Wie jung ihr Vater darauf aussieht! Vor der Flucht hatte er in der nordsyrischen Hafenstadt Latakia einen kleinen Laden besessen, von dem er später immer erzählte. Latakia mit seinen Stränden und den grünen Hügeln im östlichen Hinterland. Sabah kennt Latakia nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und von den wenigen Bildern, die sie retten und mitnehmen konnten. Und die sie ihr zeigten, die vielen Jahre, die sie zusammen im Flüchtlingslager verbrachten. Im Sommer, wenn es an der syrischen Küste heiß und schwül war, fuhr die Familie mit Freunden in die nahen Berge, nach Slinfah. Dort war es angenehm mild, und klares, kühles Wasser rauschte in kleinen Bächen ins Tal hinab, so erzählte es ihr Vater. Oder sie machten einen Ausflug auf die kleine Insel Aruad vor der Küste, wo man die Fischer beobachten konnte, wie sie früh am Morgen mit ihrem Fang vom weiten Meer zurückkehrten. Ihre Mutter erzählte einmal, am meisten vermisse sie die frischen Pistazien. Man holte sie in riesigen Säcken, rot-grüne Früchte, die man Schicht für Schicht schälen musste, um zum herrlichen Kern zu gelangen.
Ihre Eltern wären gerne in der Heimat geblieben. Aber hatten sie denn eine andere Wahl, als sie zu verlassen? Zuerst war der Krieg weit weg, im Osten des Landes und im Süden. Während woanders Menschen im Bombenhagel starben, lag die Jugend in Latakia am Strand oder traf sich abends an der Corniche, wo es an kleinen Verkaufsständen gegarte Maiskolben gab und man sich auf die Motorhauben der parkenden Autos setzte und Späße machte. Dann kam der Krieg näher. Zuerst bemerkten sie es an den Militärfahrzeugen mit schwerem Geschütz, die durch die Straßen fuhren. Später überflogen die ersten Kampfflieger die Stadt. Dann fielen die Bomben.
Sabah stellt das Bild ihrer Eltern zurück an seinen Platz und lässt die Gedanken schweifen. Vielleicht ist es der Geburtstag des Vaters, jedenfalls denkt sie sonst nur ungern an die Vergangenheit.
Ein kleineres Foto auf ihrem Schreibtisch zeigt einen freundlich lächelnden Mann mit Vollbart. Es ist Muhammad Abd al-Malik, der Imam der al-Dunja-Moschee in Berlin-Neukölln. Als junger Mann kandidierte er in Tunesien für die islamische al-Nahda und kam später als Imam nach Deutschland. Als Sabah ein junges Mädchen war, hat er ihr Halt gegeben. Halt, den ihr die Familie nicht geben konnte, nicht weil die Eltern es nicht gewollt hätten und nicht liebevoll oder besorgt genug um ihre Tochter waren, sondern weil sie kaum Zeit hatten und sich darum kümmern mussten, mit einfachsten Jobs genug Geld für ihre Familie nach Hause zu bringen. Auch verstanden sie die Welt um sich herum kaum, wie hätten sie diese denn ihren Kindern erklären und die Zerrissenheit, die Sabah in Deutschland spürte, lindern können? Zum Beispiel, wenn sie ihren Eltern erzählte, wie sie zum Schwimmunterricht musste und die Lehrer erwarteten, dass sie sich fast nackt zeigte? Die Eltern erzogen sie im Sinne ihrer Religion, sagten ihr, dass sich Mädchen bedecken sollten, und waren froh, als sie sich entschied, den Hijab zu tragen. Erst später begriff sie, dass die Eltern genauso zerrissen waren wie sie. Sie wollten ankommen, dazugehören, alles richtig machen, aber sie wollten doch auch ein gottgefälliges Leben führen!
Muhammad Abd al-Malik hatte Antworten, die sie sonst nirgendwo bekam. Er war nur fünfzehn Jahre älter als sie und darum näher dran an ihrem Leben und den Sorgen und Fragen, die sie hatte. Als sie vom Schwimmunterricht erzählte und ihn fragte, was sie tun solle, machte er ihr klar, dass sie im Recht sei. Eine Muslima dürfe sich nicht den entehrenden Blicken von Jungen und Männern ausliefern.
»Vertrau mir«, sagte er. »Ich regle das.«
Er schrieb einen Brief an die Schule, er forderte, dass Sabah aus Rücksicht auf ihre religiösen Gefühle im Burkini schwimmen dürfe. Die Schule war skeptisch. Abd al-Malik schickte den Brief an die Medien und setzte die Schule unter Druck. Muslimische Verbände, Antidiskriminierungsstellen und die ÖP liefen Sturm, weil ein Mädchen in seiner Religionsfreiheit eingeschränkt wurde, und bald durfte Sabah im Burkini am Schwimmunterricht teilnehmen.
Jeden Freitag ging Sabah mit ihrem Vater und ihren Brüdern in die al-Dunja-Moschee. Er setzte sich mit den Söhnen in den großen Hauptraum, während sie die Predigt auf dem Bildschirm im Frauenbereich mitverfolgte. Später ging sie mit den Schulfreundinnen in die Moschee. Abd al-Maliks Predigten waren konservativ, aber nicht radikal. Er sprach von Keuschheit, Gottesfurcht und Glaubensstärke, er betonte, dass Muslime ein starkes Band bilden müssten, um sich gegen Andersgläubige zu behaupten. Er wies auch darauf hin, dass sich Muslime von den christlichen Feiertagen möglichst fernhalten sollten. Aber nie rief er zu Gewalt auf, und er erklärte regelmäßig, was Dschihad wirklich bedeute. Nämlich nicht, die Ungläubigen zu töten, sondern sie mit Argumenten auf den richtigen Weg zu bringen.
Er wurde zu einem ihrer wichtigsten Berater. Als sie in der Politik anfing, als sie immer stärker getragen und gefördert wurde von Frauennetzwerken und Feministinnen, da ging ihr ein Hadith immer wieder durch den Kopf: »Ein Volk, das seine Angelegenheiten einer Frau anvertraut, wird nie Erfolg haben.« So soll es der Prophet gesagt haben! Sabah fragte sich, was das für sie und ihre Vorhaben bedeutete, für sie, eine gottesfürchtige Frau, die ehrgeizig war und eine Welt voller Möglichkeiten vor sich sah.
An einem Freitag, nachdem die Männer den Gebetsraum verlassen hatten, suchte sie das Gespräch mit Muhammad Abd al-Malik. »Imam«, sagte sie, »ich bin unsicher. Handle ich gegen Gottes Ordnung?«
Sie setzten sich auf zwei Stühle an der einen Seite des großen Gebetsraums nahe dem Eingang. Abd al-Malik sah sie an. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das mit der Familie zum Gebet herkam, sondern eine attraktive Frau, in westlicher Kleidung. Abd al-Malik schlug den Koran auf und las ihr eine Sure vor: »Siehe, dort fand ich eine Frau, die Königin über sie ist. Von allen Dingen wurde ihr gegeben, und sie besitzt einen großartigen Thron.«
»Du kennst die Geschichte, Schwester«, sagte er. »Es ist die Geschichte von Bilkis, der Königin von Saba. Ich erzähle sie dir. Als König Suleiman von Bilkis und ihrem unvergleichlichen Thron hörte, schrieb er ihr einen Brief und forderte sie auf, den Islam anzunehmen und zu ihm zu kommen. Das stürzte Bilkis in ein Dilemma. Der Brief stammte von einem mächtigen Mann, der ihr Land versklaven könnte, wenn sie sich nicht fügte. Aber sie wollte sich auch keinem falschen Propheten unterwerfen. Sie machte sich auf den Weg. Suleiman befahl währenddessen einem Dschinn, Bilkis’ Thron zu holen und ihn so zu verändern, dass Bilkis ihn nicht wiedererkennen konnte. Die Gelehrten sind sich bis heute nicht einig, warum Suleiman das wollte. Als Bilkis bei ihrer Ankunft gefragt wurde, ob der Thron der ihre sei, sagte sie: ›Es sieht so aus, als könnte er es sein.‹ Dann fügt sie hinzu, sie sei als jemand gekommen, der sich Gott bereits unterworfen habe. Bis heute sehen die Gelehrten in Bilkis eine Frau von höchster Intelligenz.«
»Was heißt das für mich?«, fragte Sabah.
»Dass du alles werden kannst, solange du dich Gott unterwirfst.«
Die Worte hallten lange in ihr nach. Sich Gott zu unterwerfen, ist für jeden Muslim und für jede Muslima selbstverständlich. Aber das Gleichnis von Bilkis bedeutete auch noch etwas anderes. Dass Allah alles Handeln bestimmte, auch das politische. Dass sie sich nicht nur als Privatperson Gott unterwarf, sondern immer und überall. Dass Gottes Gesetze über allem standen. Seine Ordnung, seine Regeln. Und das war in Deutschland noch nicht der Fall. Welcher Muslim konnte das Freitagsgebet schon so verrichten, wie er es tun sollte? Das passte immer noch nicht zusammen mit den Arbeitszeiten. Unternehmen ignorierten Gottes Gebote! Wie schwer war es doch, halal zu essen, wenn man unterwegs war! Und dann die sexuelle Freizügigkeit, ein Werk des Schaitan, des Teufels.
Nach Tagen des Nachdenkens war klar: Sie würde sich dafür einsetzen, dass Deutschland auch das Land der Muslime würde, die hier lebten. Damit sie nach ihren Regeln leben konnten. Und sie dachte an die Ökologische Partei, die ihr Anliegen, im Burkini am Schwimmunterricht teilzunehmen, verstand und sie dabei unterstützte. Diese Partei konnte etwas bewirken! Sie setzte sich mit ihren Zielen und ihrem Programm auseinander. Ja, die ÖP müsste die Partei sein, mit der sie das verwirklichen könnte. Sabah hatte ihre Richtschnur gefunden, dank Imam Muhammad Abd al-Malik.
Und dann ist da noch ein Foto von Gerhard Reuter. Es zeigt Sabah und den Bundesinnenminister gemeinsam an Sabahs erstem Arbeitstag im Ministerium, an dem Tag, der ihr Leben verändert hat. Sie sieht Reuter fast täglich, aber seine Bedeutung für sie ist riesig. Er hat ihr geholfen, in kurzer Zeit so weit zu kommen. Sabah kann sich noch genau an den Abend erinnern. Sie saß auf einem Podium zum Thema »Vielfalt konkret«. Sie war eine junge Beamtin, gerade fertig mit der Uni und erst wenige Monate im Job. Eigentlich sollte verhandelt werden, wie gut die deutsche Verwaltung Vielfalt förderte, aber der Moderator interessierte sich vor allem für ihre Kindheit im Flüchtlingslager, für ihre Erfahrung mit Rassismus, für ihre strukturelle Benachteiligung als Frau. Nie zuvor hatte man sie so eingehend dazu befragt, schon gar nicht vor Publikum. Es dauerte etwas, bis sie sich freigesprochen hatte. Bis sie selbstbewusster wurde.
Sabah muss Eindruck gemacht haben auf Gerhard Reuter. Drei Tage später rief er sie an und bot ihr einen Job an. Als stellvertretender Vorsitzender der ÖP und als Bundesinnenminister schuf er für sie den Posten der Sonderbeauftragten für öffentliche Dialoge. Sabah wusste, dass das ihre große Chance war, und nach zwei Wochen bezog sie das Büro mit dem Blick über das grüne Meer des Berliner Tiergartens.
Sonderbeauftragte für öffentliche Dialoge. So wunderbar wolkig der Titel, so wenig definiert war das, was sie tun sollte. Aber das ließ ihr große Freiheiten und die Möglichkeit, sich in fast jede Debatte einzumischen. Reuter ist wie ein Vater für Sabah, er behandelt sie, als wäre sie seine Tochter. Nicht nur ist er einer der einflussreichsten Politiker Deutschlands, altgedient, bestens vernetzt, hoch anerkannt, er steht auch unter Druck. Denn es drängen immer mehr Frauen und Migranten an die Macht. Weiße Männer, zumal in der ÖP, haben einen schweren Stand. Die älteren werden ersetzt, die jüngeren haben kaum Aussicht auf eine Karriere, weil sie nicht vielfältig sind. Reuter konnte sich bisher halten, weil er schon früh massiv auf Vielfalt setzte und die anderen alten weißen Männer längst weggelobt oder einfach verabschiedet hatte. Gerhard Reuter und Sabah telefonieren regelmäßig, und er braucht ihren Rat, wenn es darum geht, wie er auf Islamdebatten reagieren soll, was er nach islamistischen Vorfällen schreiben und sagen kann. Der Glanz des Integrationswunders färbt auch auf ihn ab.
Es klopft, Anna Soll steht in der Tür. Sabah schaut auf.
»Ich bin ein paar Minuten zu spät«, sagt Anna Soll, leitende Politikreporterin im Hauptstadtbüro des Globus, »entschuldige.« Die Frauen kennen sich gut. Ganz selbstverständlich legt Anna die Handtasche auf der Couch ab.
»Natürlich«, sagt Sabah und geht auf Anna zu. »Ich freue mich, dass du da bist.« Sie begrüßen sich mit Wangenküssen. Anna ist auch manchmal privat zu Gast bei Sabah, wenn diese bei sich zu Hause einen Salon hält, wie sie es nennt. Sie kocht für befreundete Journalistinnen und bietet einen geschützten und entspannten Rahmen für angeregte politische und kulturelle Gesprächsrunden.
Nach dem erfolgreichen Video von Dresden hat die Reporterin vorgeschlagen, ein Interview für die Globus-Website aufzunehmen. Anna war in der Presseabteilung der Ökologischen Partei Volontärin und danach ein paar Jahre im Abgeordnetenbüro der ÖP in Brüssel tätig gewesen, bevor sie zum linksliberalen Globus wechselte, dem auflagenstärksten wöchentlichen Nachrichtenmagazin des Landes. Sie schreibt über Rechtsextremismus, Nachhaltigkeit und Feminismus und setzt sich auch in der Redaktion für diese Themen ein. Sie ist in der Leitungsgruppe Diversität aktiv und stolz auf ihr Engagement. Sie zeigt ihre Überzeugungen auch, indem sie sich an die zeitgemäßen nichtbinären, feministischen und antirassistischen Stilvorstellungen hält. Sie trägt den weiten einfarbigen Genderkaftan, der jegliche Körperformen neutral verhüllt und bereits von zahlreichen progressiven Frauen und Männern und Diversen ganz selbstverständlich getragen wird. Nur die Rechten hetzen, der Kaftan ähnele dem einteiligen Männergewand in muslimischen Ländern. Anna hat ihr Haar geschlechtsneutral stoppelkurz geschnitten, und ihre Füße stecken in den von gendersensiblen Experten empfohlenen Unisexboots »Birkendocs«. Die schlichten schwarzen Schuhe mit der orangen Plateausohle sind eine erfolgreiche Kooperation von Birkenstock und Dr. Martens.
»Im Interview sieze ich dich wie immer, einverstanden?«
»Klar«, sagt Sabah.
»Bereit?«
»Schieß los.«
»Frau Hussein, Sie sind Sonderbeauftragte für öffentliche Dialoge und nun auch die aussichtsreiche Kanzlerkandidatin der ÖP. Frau, Muslima, Migrantin. Eine solche Kanzlerkandidatin hat es noch nie gegeben. Wie fühlt es sich an, die sprichwörtliche bunte Hündin zu sein?«
»Das ist nichts Neues. Das ist so, seit ich nach Deutschland gekommen bin.«
»Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass Sie und Ihre Familie wegen Ihrer Herkunft diskriminiert werden?«
»Es gab nicht das eine Ereignis. Es war vielmehr so, dass ich mich als kleines Mädchen in Deutschland gewundert habe, warum weiße Menschen teure Autos fahren, schicke Klamotten tragen und in großen Häusern wohnen. Und wir nicht.«
Anna nickt vielsagend.
»Das habe ich nicht verstanden, bis mir klar wurde: Es liegt daran, dass wir nicht als diesem Land zugehörig akzeptiert wurden. Dass wir arm gehalten wurden und unter dem Rassismus und der Ausbeutung zu leiden hatten, die die Weißen vor Jahrhunderten reich gemacht haben. Und dass diese Ungleichheit sich bis heute fortsetzt.«
Jetzt kommt auch Jette dazu. Sie ist bei Interviews wenn möglich immer dabei. Mal gibt sie Sabah durch eine Geste zu verstehen, besser nichts zu sagen oder nur eine Floskel. Mal greift sie direkt ein und lenkt das Gespräch bei heiklen Fragen in eine unverfängliche Richtung. Bei Anna und dem Globus hat Sabah allerdings nichts zu befürchten.
»Sie engagieren sich gegen Antisemitismus. Woher kommt Ihre Überzeugung?«
»Ich weiß, was es bedeutet, ausgegrenzt zu sein und verfolgt. Im Netz findet eine Treibjagd auf mich statt. Morddrohungen stehen an der Tagesordnung. Die Angst, das Gefühl, nicht sicher zu sein, das ist wie damals, als hier nicht die muslimischen, sondern vor allem die jüdischen Bürger:innen verfolgt wurden.«
»Welcher Hass schlägt Ihnen entgegen seit Ihrer Kandidatur?«
»Der Hass ist extrem, aber das ist er schon so lange, wie ich auf der politischen Bühne stehe. Durch die Kandidatur hat sich die Anzahl an Hasszuschriften einfach deutlich erhöht.«
»Warum ist das so?«
»Wir sehen immer wieder, wie tief verwurzelt Rassismus und Islamophobie in unserer Gesellschaft sind. Wir arbeiten seit einigen Jahren gezielt dagegen an. Aber es verändert sich nur langsam etwas, und bei manchen hält sich der Hass hartnäckig.«
»Wie gehen Sie damit um?«
»Es spornt mich an weiterzumachen. Es zeigt mir, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben, unsere Gesellschaft so zu verändern, dass Menschen, egal welcher Herkunft, Religion oder Hautfarbe, vorurteils- und diskriminierungsfrei hier leben können.«
»Wie wollen Sie etwas verändern?«
»Wir müssen den Menschen zeigen, welche Chancen für unser Land in der Vielfalt liegen und dass jede und jeder profitiert, wenn alle Lebensbereiche so divers wie möglich sind. Deswegen ist die neue Matrix, die morgen von der Regierung vorgestellt wird, auch so wichtig. Jeder Mensch in unserem Land wird in seinem Personalausweis Kategorien stehen haben, die eine klare Aussage machen über den Grad seiner Diskriminierung. Das zwingt uns alle dazu, uns mit unserer persönlichen Situation auseinanderzusetzen. Bin ich privilegiert? Diskriminiert? Ich bin dafür, dass die Idee der Matrix nicht nur wie vorgesehen in Unternehmen greift, sondern dass wir darauf hinarbeiten, alle Lebensbereiche entsprechend zu besetzen. Von der Kita über die Schule und die Ausbildungsstätten, die Universitäten, Krankenhäuser, Polizei, öffentliche Verwaltung, Musik, Kunst und Kultur. Für die Politik soll sie ohnehin gelten. Denn erst wenn überall Vielfalt im Sinne der Matrix herrscht, wenn also Schüler:innen, Lehrer:innen, Schauspieler:innen, Chirurg:innen, einfach alle gleichermaßen aus BIPOCS, Homosexuellen, Diversen, Muslim:innen, Menschen mit Behinderung und allen anderen irgendwie Diskriminierten bestehen, dann kommen wir einer gesellschaftlichen Gerechtigkeit näher.«
Anna drückt auf die Stopptaste des Aufnahmegerätes.
»Wow, Sabah. Das hast du schön gesagt. Das ist gut! Moment, ich schalte wieder ein. Jetzt: ein flammendes Plädoyer für eine offene und vielfältige Gesellschaft. Allerdings schließen sich noch längst nicht alle dieser Haltung an. Gerade eben gab es wieder einen Skandal in der Bundeswehr, der offenlegte, wie hartnäckig sich rechtes Gedankengut bei den Streitkräften hält. Soldaten hatten sich zum Buntfest, dem früheren Fasching, als indianische Ureinwohner verkleidet und für Fotos posiert. Wie wollen Sie dem begegnen?«
»Es ist klar, das kann nicht so stehen bleiben. Es ist an der Zeit, entschlossene Schritte zu gehen. Wir brauchen mehr wirksame Kontrollen. Für die Bundeswehr wollen wir, dass die gesamte private Kommunikation auf Handys, Tablets, Laptops, in den sozialen Netzwerken, auf Twitter, Instagram, TikTok, Clubhouse und so weiter von einer zentralen Stelle einsehbar ist.«
»Für manche könnte das etwas weit gehen.«
»Mag sein. Aber alle bisherigen Ansätze zeigen uns: Es bringt nichts, inkonsequent zu sein. Wir müssen wissen, was Personen schreiben, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Nur so kommen wir rechtsextremen Netzwerken auf die Spur.«
»Welche Rolle spielt die Friedensreligion des Islam für Sie?«
Sabah ist froh, dass ihr die Frage gestellt wird. Sie ist eine Steilvorlage, und Sabah wird den neu eingeführten Begriff gleich noch einmal aufnehmen. Seit zwei Jahren ist die neue Bezeichnung der muslimischen Religion in den Behörden Pflicht, um alte Vorurteile abzubauen und negativem Framing entgegenzuwirken. Auch die meisten Medien verwenden den Begriff inzwischen.
»Ich bin gläubig und halte mich an religiöse Gebote. Die Friedensreligion des Islam gibt mir Kraft.«
»Wie wichtig ist Feminismus für Sie?«
»Ich bin Muslimin und Feministin. Und das ist gut so. Es ist kein Widerspruch, im Gegenteil. Der Islam stärkt die Frauen.«
»Vor zwei Jahren hat Ihre Partei die verpflichtende Diversitätsquote für alle Führungsebenen in deutschen Parteien eingeführt. Welches Fazit ziehen Sie?«
»Es ist ein toller Erfolg. Damit ist unser Land auf dem richtigen Weg.«
»Wie ist es denn um die Gleichstellung im Alltag bestellt?«
»Wir müssen leider feststellen: Die Ungleichheit ist geblieben. Nehmen wir als Beispiel Berlin. Die Mehrheit der Senatsabgeordneten und der Bezirksbürgermeister:innen hat ein Vielfaltsmerkmal. Ungefähr die Hälfte von ihnen sind Muslim:innen. Und trotzdem haben sich die Lebensumstände der Menschen mit Vielfaltsmerkmal in den sogenannten Problembezirken nicht verbessert. Die Ungleichheit im Vergleich zu den wohlhabenden Stadtteilen hat in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen. Was daran liegt, dass sich in weißen Bezirken die Menschen private Schulen und Kindergärten, Kliniken und Sicherheitsdienste leisten können. Die Bewohner:innen in anderen Stadtteilen haben nur die staatlichen Einrichtungen zur Verfügung, die immer schlechter ausgestattet sind, weil reiche weiße Menschen nicht ausreichend besteuert werden. Das hat gravierende Folgen für alle anderen: Die Lebenserwartung in den migrantisch geprägten Bezirken sinkt seit Jahren, weil die Gesundheitsversorgung schlechter ist als bei den weißen Deutschen. Das Bildungsniveau nimmt ab, die Kriminalität steigt, während in den weiß dominierten Stadtteilen die Menschen weiter ihre Privilegien genießen. Das geht so nicht weiter.«
»Was also tun?«
»Wir diskutieren ja bereits, ob allen nur eine bestimmte Pro-Kopf-Quadratmeterzahl zustehen soll. Familien aus ärmeren Bezirken sollen in die wohlhabenden Bezirke umgesiedelt werden. Von einer solchen besseren sozialen Mischung würden alle profitieren. Und dann müssen wir auf die Vermögen schauen und konsequent umverteilen! Wir brauchen eine Weißensteuer. Das Paradoxe ist ja: Trotz aller gesetzgeberischer Initiativen für mehr Gerechtigkeit schließt sich die Kluft nicht. Das reichste Prozent schafft immer mehr Vermögen ins Ausland. Unternehmen, die die Quotenregeln nicht einhalten wollen oder können, gehen nach Polen, Tschechien oder Rumänien, wo nicht nur die Regeln nicht gelten, sondern wo sie auch noch EU-Fördermittel erhalten. Das müssen wir stoppen.«
»Bei dieser Wahl dürfen zum ersten Mal alle Menschen in Deutschland ab sechzehn Jahren mit Aufenthaltsstatus wählen gehen, während Menschen ab siebzig nicht mehr wählen dürfen. Sie haben die Abkehr vom Staatsbürger:innenschaftsprinzip begrüßt und profitieren mit der ÖP massiv in den Umfragen. Was sagen Sie den Skeptiker:innen?«
»Dass ich Politik für alle mache. Die Welt ist heute nun mal eine andere. Bei dieser Wahl werden die Stimmen der Jungen und Migrant:innen eine größere Rolle spielen als je zuvor. Sie sind ja auch das Rückgrat unseres Landes.«
»Kommen wir auch auf die Weltpolitik zu sprechen. Russland stößt immer neue Drohungen aus gegenüber der Ukraine und Kasachstan. Was sagen Sie dazu?«
»Wir dürfen nicht aufhören, darauf hinzuweisen, wie wichtig die Einhaltung von Recht und Gesetz, der Schutz von Minderheiten und die Wahrung von Freiheiten sind. Und zwar überall auf der Welt. Dafür stehen wir.«
»Wie hat die russische Regierung darauf reagiert?«
»Bisher haben wir noch keine Rückmeldung erhalten. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass auch bei uns all das noch nicht vollständig erreicht ist. Wir müssen uns also besonders darauf konzentrieren, hier besser zu werden, eine wirklich gerechte Gesellschaft für alle umzusetzen. Dann können wir ein Vorbild sein für den Rest der Welt.«
»China droht offen, bald in Taiwan einzumarschieren und die dortige Demokratie abzuschaffen. Was können wir zu einer Deeskalation beitragen?«
»Das ist schlimm, sehr schlimm. Wir sind in intensiven Gesprächen mit der chinesischen Seite und weisen dabei immer wieder auf die Bedeutung von Demokratie und Freiheit hin. Aber Peking hat sich eine Einmischung verbeten. Das ist höchst unerfreulich. Zudem hat man mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen Europa gedroht. Wir müssen auf der Hut sein, leider sind wir auf Investitionen und Technologie aus China angewiesen. Außerdem, ich habe es bereits betont, müssen wir uns fragen: Wer sind wir, dass wir uns über andere erheben wollen? Wieso erlauben wir uns eigentlich, Menschen in Russland, in China oder im Nahen Osten zu sagen, wie sie leben sollen? Wenn doch auch bei uns so viele Missstände immer noch nicht beseitigt sind. Wir müssen erst einmal hier die Ungleichheiten beseitigen, bevor wir anderen Ratschläge erteilen.«
»Sabah Hussein, vielen Dank!«
Jette zwinkert Sabah zu. »Ist gut geworden.«
Auch Anna scheint zufrieden und packt das Equipment zusammen. »Lädst du bald wieder zu einem Salon, Sabah? Das wäre schön.«
»Ich weiß, aber der Wahlkampf. Ich komme zu kaum etwas. Ich melde mich! Und danke!«
»Auch so! Auf bald, und viel Glück!«, sagt Anna.
Jette schließt mit nachdenklichem Gesicht die Tür.
»Was ist?«, fragt Sabah.
Jette zögert. Wie untypisch für sie. Sabah sagt wie zu einer Freundin: »Komm schon, was ist es?«
»Ach, wegen des Interviews gerade, das mit der Bundeswehr und der Kommunikation. Dass zentrale Stellen alles mitlesen sollen, vielleicht ist das nicht richtig.«
Sabah schaut sie fragend an.
»Na ja, wie schnell kann man jemandem damit Unrecht antun? Es ist ja nicht immer alles eindeutig. Andererseits … Ich weiß nicht.«
So kennt Sabah ihre Büroleiterin gar nicht, so unsicher. Sie gibt viel auf Jettes Meinung. Wenn Jette Bedenken hat, dann wird es dafür Gründe geben. Und doch, Sabahs linke Klientel wird sie lieben für die harte Attacke gegen die Bundeswehr.
»Ich denk drüber nach, Jette«, sagt Sabah und greift zu ihrem Mantel. »Jetzt komm.«
Es ist Freitagmittag. Sabah will zum Gebet in die Moschee fahren, Jette begleitet sie. Der Dienstwagen steht vor dem Eingang. Jette streckt der Kanzlerkandidatin das Handy hin und zeigt ihr das eben gepostete Interview. »Mutige Kandidatin: Alle müssen endlich erkennen, wie gut Diversität ist.«
In den Kommentaren ergießt sich der übliche Hass der früheren deutschen Mehrheitsgesellschaft.