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Kapitel 1

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Fiona betrat das Theater. Es war nicht größer als ein normales Wohnhaus – ein Altbau, der in einer Häuserzeile zwischen zwei Stadtvillen gequetscht war. Die großen Fenster im oberen Stock waren bis auf Kopfhöhe von Sichtblenden verdeckt, über denen an diesem trüben, regnerischen Tag warmes Lampenlicht fiel. Dort war das Refugium der Kostümbildner. Auf den meterlangen Kleiderstangen hingen prächtige Renaissanceroben, Pseudo-Uniformen, asiatische Kimonos aus farbenfroher Kunstseide und schneeweiße Gespensterlaken in einer Eintracht nebeneinander, die es nur in einem Theater gab. Die schwere Eingangstür führte in einen Raum mit schwarzweißem Schachbrett-Fliesenboden, der gerade groß genug war, um das Foyer zu sein. Die Fensterscheiben waren aus Milchglas, ließen nur diffuses Tageslicht hinein, so dass man sich vorkam, wie in einer von allem losgelösten Traumwelt.

Eine Doppeltür aus honigfarbenem Holz verbarg die Treppe, die hinauf zum Zuschauerraum führte. Noch war sie geschlossen, so dass das an der Außenseite befestigte Plakat von „Was Ihr Wollt“ sichtbar war. Fionas Name war der Mittlere von dreien in der unteren Zeile. Die Hauptrolle war ihre. Endlich! Sie konnte es immer noch kaum glauben und jedes Mal, wenn sie das Plakat sah, machte ihr Herz einen übermütigen Sprung nachließ.

Fiona dacht an einen anderen Theaterabend vor Jahren. Das Theater allerdings war wesentlich größer gewesen als dieses – imposanter. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass auch in diesem Theater „Was Ihr Wollt“ gespielt worden war. Fiona war damals vierzehn Jahre alt gewesen und hatte sich auf den ersten Blick in das Theater verliebt.

Als sie dann Jahre später dieses Theater gefunden hatte, an dem sie jetzt war, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Es war wie geschaffen für sie. Hier wurden häufig Klassiker gespielt, nicht selten Shakespeare. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis „Was Ihr Wollt“ seine Spielzeit bekam. Sie hatte für die Rolle der Viola vorgesprochen und sie war die erste Wahl gewesen. Es war zu schön, um wahr zu sein!

Der Wecker klingelte.

Fiona setzte sich im Bett auf.

Schon wieder dieser Traum!


Schlaftrunken wankte Fiona in die leidlich aufgeräumte Küche. Ihre Freundin Chrissy, mit der sie sich die Wohnung teilte, war Konditorin in der Ausbildung und um diese Tageszeit schon längst auf und davon.

Noch vor der Kaffeetasse griff sie, wie jeden Morgen, zur Horoskop-Seite der Zeitung.

„Versuchen Sie nicht, den Lauf der Dinge zu beeinflussen“, rieten ihr die Sterne. „Es ist alles vorherbestimmt.“

Hinreißend!

Missmutig schob Fiona die Zeitung von sich weg.


Kurze Zeit später schloss Fiona ihr Fahrrad am Eisengitter vor dem Theater an und ging die Treppe zu der schweren Tür hinauf. Das Theater war noch an Ort und Stelle, nur der Traum, die andere Wirklichkeit, in der alles perfekt gewesen war, war verflogen. Dies war die Realität, die die Sterne vorherbestimmt hatten und mit der sie sich nur so schwer abfinden konnte.

Das Foyer war menschenleer. Fionas Schritte machten klackende Geräusche auf dem Schachbrettmuster-Linoleum. Der Raum mit den weißgetünchten Wänden, den hölzernen Fensterrahmen, den Lampen, die außerhalb des Sichtfeldes unter den hohen Decken hingen und den schlichten Schaukästen, in denen diverse Plakate aushingen, war eine groteske Kreuzung aus Theaterfoyer, Schule und Polizeirevier.

Es war noch früh, noch viel zu früh, aber Fiona war oft vor allen anderen da. Die meisten ihrer Schauspieler-Kollegen dachten, sie ginge in den Kulissen zum hunderttausensten Mal ihren Text durch. Sie hielten sie für eine Perfektionistin, was in diesem Fall Spinnerin bedeutete – als würde sie immer noch glauben, selbst sie könnte alles erreichen, wenn sie sich nur mehr reinhängen würde. In Wirklichkeit wollte sie nur für eine Weile mit dem Theater allein sein.

Das Plakat an der Eingangstür zum Zuschauerraum würdigte sie keines Blickes. Ihren Namen suchte man vergeblich darauf.

Sie nahm dem Hintereingang zur Bühne. Es war nur eine kleine, und unter den Brettern, die die Welt bedeuteten erstreckte sich ein sehr übersichtlicher Zuschauerraum. Offenbar um in dieser Schuhschachtel von Theater Platz zu sparen verliefen darüber drei Ränge mit weiteren Sitzplätzen. Als Fiona zum ersten Mal aus den Garderoben auf die Bühne getreten war, hatte die Architektur sie an Shakespeares Zeit erinnert: kein Platz weit weg von der Bühne, jeder Winkel perfekt genutzt. Die Ränge reichten bis zur Decke, nur das diese nicht nach oben hin offen war. Statt des Himmels sah man dort ein atemberaubendes Buntglasfenster.

Die Kulissen und die Requisiten waren Handarbeit und so detailreich, dass die Illusion perfekt war. Ein magischer Ort. Immer wenn sie hier stand, besonders in Momenten wie diesen, wenn sie ganz allein war in dem leeren Theater, das ihr unhörbar seine Geschichten zuflüsterte, konnte sie kaum fassen, dass es so etwas noch gab. Ein schwacher Funken der Freude aus dem Traum kehrte zurück, als sie dort stand und die Atmosphäre der Bühne in sich aufsaugte. Auf dieser kleinen Fläche würde das verwunschene Illyrien entstehen, eine Welt, in der alles möglich war und in der keine Grenze unumstößlich war, wenn man den Mut hatte, sich darüber hinweg zu setzen.

Celia Harriot fand natürlich eher, dass das Theater zu klein war, zu versteckt, fernab der Zivilisation (was in Celias Vokabular Innenstadt bedeutete) und vor allem nicht modern genug. Fiona grollte innerlich, wenn Celia ihre dämlichen Witze über ihr geliebtes Theater riss („Ein Theater, das aussieht wie ein ausgeklappter Werkzeugkasten findet man nicht alle Tage“ oder auch „Manchmal weiß ich morgens nicht, ob ich schon im Theater bin oder noch in meinem begehbaren Kleiderschrank“). Noch mehr grollte Fiona, wenn alle Anwesenden über derartigen Schwachsinn in Gelächter ausbrachen. Sie versuchte ihre Gegenkommentare à la „tja, das liegt dann entweder an Cocktails mit bunten Schirmchen oben drauf oder an den Mottenkugeln“ witzig und nicht bissig klingen zu lassen, aber das spielte keine Rolle, denn sie verhallten sowieso ungehört.

Celia Harriott war Fionas Kollegin am Theater und gleichzeitig ihr Schreckgespenst. Sie war Kanadierin, sprach aber akzentfrei Deutsch (und soweit Fiona wusste noch ein paar andere Sprachen) und bekam immer die Rollen, die sie wollte. Meistens waren das genau die, die Fiona auch wollte. Deshalb kultivierte Fiona einen leidenschaftlichen Groll gegen Celia, der inzwischen den Rang eines Lieblings-Hobbys hatte und der von Celia vollkommen unbemerkt blieb.

Im Theater war Fiona von Anfang an zu Celias Schatten ernannt worden, als wäre das von Thalia, der Muse des Theaters, höchstpersönlich so angeordnet worden. Immer wieder wurde sie Celias Zweitbesetzung und spielte sonst nur Rollen in den weniger begehrenswerten Stücken der Spielzeit.

Aber als „Was Ihr Wollt“ für die nächste Spielzeit angekündigt worden war, war es ihr vorgekommen, als würde die Stimme der Vorsehung ihr sagen, dass das Blatt sich jetzt wenden würde. Wer hätte die Viola mehr verinnerlicht als Fiona? Es war die Rolle, von der sie geträumt hatte, seit sie mit vierzehn Jahren beschlossen hatte Theaterschauspielerin zu werden. Beinah freudig erregt war sie zum Vorsprechen gegangen. Sie war wie in einen Rausch verfallen. Es hätte nicht besser laufen können.

Celia war erst nach ihr dran gewesen, und nachdem sie kaum die Hälfte des Monologs hinter sich gelassen hatte, hatte Fiona gewusst, dass sie verloren hatte. Sie würde die Viola nicht spielen. Dafür würde sie Celia Harriot dabei zusehen müssen. Hatte sie dafür all die Jahre ihr Ziel verfolgt, all die Zweifel in den Wind geschlagen, gekellnert, um sich die Schauspielschule leisten zu können und die drei bis vier Rollen gespielt, die sie gar nicht hatte haben wollen?

Das Schlimmste an Celia war, dass sie kein gutes Haar an diesem wundervollen, einmaligen Theater ließ, in dem ihr alles in den Schoß fiel. Sie tat so, als wäre es gerade so eben zufriedenstellend, mangels einer besseren Alternative. Sie wurde es nicht müde allen zu erzählten, wo sie lieber wäre. Andauernd schwärmte sie von einem überkandidelten Theater in Kanada. Nach allem was sie erzählte war es ein neues Gebäude auf einer Fläche, die für eine Schwimmhalle gereicht hätte und als solche wohl auch sinnvoller genutzt gewesen wäre. Offenbar war es so ein lagerhallenartiger Bau mit einer zu allen Seiten offenen Bühne, auf der sich Celia in Gedanken schon unter einem eisblauen Scheinwerfer stehen und eine auf ultramodere Art wahnsinnige Lady Macbeth verkörpern sah. Fiona konnte solche Theater nicht ausstehen, in denen das Bühnenbild aus einer Leiter und einem Wassereimer bestand und in denen sich Regisseur und Bühnenbildner dafür feiern ließen, dass sie einfach mal gar nichts gemacht hatten.

Auf dieses kleine Theater hier sah Celia nicht nur deshalb mit Geringschätzung herab, weil es so klein war und weil echte Arbeit im Bühnenbild steckte, sondern auch, weil hier fast nur Komödien gespielt wurden – völlig unter Celias Würde! Warum sollten die Leute auch lachen, wenn man statt dessen drei Stunden lang vor ihnen damit angeben konnte, wie pathetisch man war.

Celia war die Pest! Und Celia hatte ihre Rolle.


Fiona hörte ein Rumpeln hinter der Bühne und drehte sich um. Philip war der einzige (außer dem Pförtner) der oft noch vor Fiona im Theater war. Er kümmerte sich um die magischen Kulissen. Er erschuf die Wunder auf diesem begrenzten Raum der Bühne.

Er stand in blauer Arbeitskleidung, auf der sich bunte Farbkleckse tummelten wie Himmelssterne am Firmament, auf einer Leiter und pinselte an einer überirdisch schönen Parklandschaft herum, die den Hintergrund für das aktuell laufende „Viel Lärm um Nichts“ war. Es war nur ein Bild, das die Rückwand der Bühne bedeckte, aber jeder, der es sah musste sich unwillkürlich wünschen in das Bild zu schlüpfen und für Stunden durch diesen Park zu streifen. Selbst die umwerfende Celia Harriot musste Mühe haben sich gegen diesen Hintergrund zu behaupten.

Phillip, Perfektionist wenn es um seine Arbeit ging, war natürlich keineswegs zufrieden. Unbeirrt brachte er überall Verbesserungen an, die sonst niemand für nötig erachtet haben würde.

„Hallo Fiona“, sagte er, als sie den Raum betrat, ohne allerdings den Blick von der Leinwand abzuwenden um zu sehen, wer da war. Wer hätte es auch sonst sein sollen. Dann versetzte er jedoch einer der Säulen, die den Park optisch einfassen einen letzten, entschlossenen Pinselstrich und drehte sich auf der Leiter um und warf ihr ein verschwörerisches, koboldhaftes Lächeln zu. In seinen Augen lag ein Funkeln wie bei jemandem, der mit Leidenschaft bei der Sache ist.

„Gut, dass du da bist. Ich wollte dir noch etwas zeigen, bevor das Gesindel sich hier breit macht.“

Phillip sprang mit einem halsbrecherischen Satz von der Leiter und machte sich daran, auf der anderen Seite des Raumes einen Vorhang beiseite zu ziehen. Fiona wandte den Blick von dem märchenhaften Park ab. Die weibliche Hauptrolle der Beatrice in „Viel Lärm um Nichts“ würde natürlich – Trommelwirbel – Celia Harriot spielen. Da Fiona wieder mal die Zweitbesetzung war, war für sie noch nicht einmal die Rolle der schweigsamen Kusine drin gewesen. Dafür spielte sie jetzt in einem Stück, dass „Ivory Tower“ hieß und das ihr hätte gestohlen bleiben können. Ihre Niedergeschlagenheit über diesen Umstand wurde nur durch Philips ansteckende Begeisterung gemindert. Philip war überhaupt der einzige am Theater, für den sie nicht unsichtbar wurde, sobald Celia auf der Bildfläche erschien. Es war auch kaum denkbar, dass Celia sich ihn zum Freund gemacht hätte. Wenn es nach ihr ging wäre seine ganze Arbeit wahrscheinlich durch eine Gießkanne ersetzt worden, die zur Verwirrung des Publikums genau in der Mitte der Bühne gestanden hätte.

Er präsentierte ihr stolz die Kraterlandschaft aus dem zweiten Akt von „Ivory Tower“. Die lehmfarbenen Mini-Vulkane, die scheinbar ohne vorgegebenes Muster von Zeit zu Zeit weißen Bühnen-Rauch verströmten, kannte Fiona zwangsläufig. Neu waren die Lichter in Schattierungen von Dunkelrot bis Bernsteinfarben, die in einem filigranen Wechselspiel aus den Kratern aufstiegen. Widerwillig ließ Fiona den Gedanken zu, dass das auf der Bühne sehr atmosphärisch aussehen und die ganze Szene aufwerten würde – was diese bitter nötig hatte.

Phillip las die kaum sichtbare Regung in ihrer Mimik.

„Es gefällt dir?“, fragte er. In seiner Stimme klang Stolz mit.

„Du hast das Beste aus dem gemacht, was „Ivory Tower“ dir zur Verfügung gestellt hat“, entgegnete sie betont trocken. „Das ist mehr, als der Autor von sich behaupten kann.“

Dann ging sie in die Garderobe , um dem Klischee zu entsprechen und tatsächlich noch einmal ihren Text durchzugehen. Shakespeare wäre kein Problem gewesen, aber den Text von „Ivory Tower“ zu behalten fiel ihr manchmal immer noch schwer.



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