Читать книгу Wunschaholics - Corinne Lehfeldt - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеAls Chrissy stolperte und den Halt verlor lief alles ganz langsam vor ihren Augen ab, wie ein Film, mit dem sie eigentlich gar nichts zu tun hatte. Als wäre sie nicht mehr sie selbst, sondern eine andere, eine viel geschicktere Person, die das Unheil kommen sah. Sie beobachtete es aus der Ferne und sie wäre ohne weiteres in der Lage gewesen es zu verhindern.
Die Torte fiel so langsam, dass Chrissy sicher war, sie hätte sie auffangen können. Stattdessen verbrachte sie den vorbeifliegenden Moment, in dem die Torte in der Luft hing, damit sich auszumalen, wie die Torte auf den Boden klatschen würde. Getreu der Schwerkraft tat sie das dann auch.
Alles, was nach diesem Augenblick passierte lief wieder in Echtzeit ab, ohne die Chance auf Wiederholung, ohne eine Chance zurück zu spulen bis zu der Stelle gerade eben, an der noch alles in Ordnung gewesen war. Jetzt war jetzt. Jetzt war der Moment, in dem die rosafarbenen Zuckerrosen traurig über das Linoleum kullerten. Jetzt war alles umsonst gewesen. Jetzt war es zu spät – völlig zwecklos in die Backstube zurück zu hasten. Zu spät! Selbst um etwas anspruchsloses wie einen Marmorkuchen zusammen zu rühren. Die Zeit war um!
Das einzige, wofür es nicht zu spät war, war der Bescherung den Rücken zu kehren, zu den Waschräumen zu rennen, die Klotür hinter sich zuzuschlagen und abzuwarten wie es weitergehen würde – wenn es überhaupt weitergehen würde.
Der lange Gang war plötzlich nicht mehr lang, sondern unendlich. Rechts und links von ihr standen die Anderen. Sie fing deren Blicke auf, die wortlos flüsterten: „Sie hat wohl im Ernst geglaubt, sie hätte eine Chance. War doch klar, dass so was passiert. Sie schafft es nie“
Als Chrissy von ihrem Kopfkissen hochschreckte und im dunklen Zimmer die Umrisse des Fensters wahrnahm, stieß sie zuerst einen wohligen, erleichterten Seufzer aus. Sie war nur froh, dass sie den höhnisch grinsenden Fratzen entronnen war und dass sowohl der Flur als auch die geplättete Torte aus ihrem Blick verschwunden waren.
Die Erleichterung war allerdings nur von kurzer Dauer. Nach ein paar Atemzügen fiel ihr wieder ein, dass ihr Albtraum auf einer wahren Begebenheit basierte. Vielleicht war die Torte, die sie im wirklichen Leben hatte fallen lassen, im Augenblick davor nicht ganz so strahlend schön gewesen wie die in ihrem Traum. Als Matsch hatten allerdings beide relativ gleich ausgesehen. Die unverhohlen schadenfrohen Gesichter der anderen waren vielleicht auch nicht ganz so offensichtlich, aber bestimmt nicht minder schadenfroh gewesen. Sie hörte noch das Tuscheln und wusste nicht, ob diese Erinnerung aus ihrem Traum oder aus der Wirklichkeit kam. Sie wollte es auch nicht wissen, nur einfach nicht mehr daran denken.
Können vor Lachen!
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Chrissy kannte das schon. Diese Albträume verfolgten sie schon länger als nur eine Nacht.
Sie knipste die Nachttischlampe an und warf einen wenig hoffnungsvollen Blick auf ihren Wecker – Zehn vor vier!
Wie man hört ist das so ziemlich die ungünstigste Uhrzeit um wach zu sein. Wenn man für sich festgestellt hat, dass Schäfchenzählen nicht funktioniert, wenn man sich weigert Schlaftabletten zu nehmen und wenn man nicht mehr an das Sandmännchen glaubt, dann bleibt nur noch eins. Dann steht man am besten auf, trinkt einen Kräutertee, hört Musik oder tut sonst etwas, bis man merkt, dass man wieder schläfrig wird. Herumliegen und die Augen krampfhaft geschlossen halten führt dagegen in der Regel nicht zum Ziel.
Als Chrissy mit einer warm und tröstlich nach Kamille duftenden Tasse am Fenster stand und hinaus auf die nächtliche Straße sah, kam es ihr einen Moment lang so vor, als wäre sie in eine geheime, geborgene Welt geraten, in der weder sie noch sonst jemand irgend welche Probleme hatte. All die anderen Fenster waren dunkel. Die Menschen, die hinter ihnen lebten, schliefen. Was gestern hatte getan werden müssen war getan, was morgen getan werden musste, konnte warten. Ein paar Taxis zogen gemütlich ihrer Wege, sonst war weit und breit niemand zu sehen.
Aus dem Augenwinkel sah Chrissy ein einziges erleuchtetes Fenster schräg gegenüber in einem der Häuser auf der anderen Straßenseite, wie ein Spiegelbild ihres eigenen. Dort stand jemand, eine junge Frau in Chrissys Alter. Sie wohnte gegenüber, aber Chrissy kannte sie nicht, war ihr nie begegnet. Vielleicht war sie auch jemand, der heute Nacht nicht schlafen konnte, vielleicht war sie vor Aufregung so früh auf, weil sie im Begriff war auf eine Reise zu gehen. Sie sah Chrissy am Fenster stehen und winkte ihr fröhlich zu, als wären sie zu dieser Stunde genau hier verabredet gewesen. Dies war eine freundliche, sorglose, nächtliche Welt.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis Chrissy wieder einfiel, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Von einem Augenblick auf den anderen rückte es ihr wieder ins Bewusstsein, so dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie dem hätte entgehen können, wenn sie den letzten Wimpernschlag vermieden hätte, oder die Bewegung, mit der sie sich die Haare aus der Stirn gestrichen hatte. Dann wäre der ruhige, flüchtige Moment vielleicht nicht verflogen.
Aber nein, es war alles wieder da. Es fiel ihr so schlagartig wieder ein, dass sie nicht mehr verstand, wie sie es auch nur kurz so erfolgreich hatte verdrängen können.
Tja, sie war durchgefallen. Nicht gerade eben erst, es lag schon Monate zurück, im vergangenen Sommer. Es war auch vorerst nicht die Frage, wie es weitergehen sollte. Sie konnte die Prüfung ja wiederholen. Der Termin stand schon fest – kein Problem.
Das Problem war, dass sie es niemals schaffen würde.
Nicht etwa, dass sie nicht backen konnte. In der Konditorei ging ihr nie etwas schief. Sie wusste alles, was sie wissen musste, um auf diese Art ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber wenn sie sich beobachtet fühlte, gingen ihr die Nerven durch, und die Abschlussprüfung war eine unüberwindliche Hürde.
Die Konditorei mit ihrem Belle Epoque Charme, ihrem Eingangsbereich, der dem Foyer eines Theaters würdig gewesen ware, mit den hohen Säulen, dem Marmor, den Spiegeln aus Kristall und den Lampen, die – obwohl elektrisch – täuschend echt den Gaslampen der vorletzten Jahrhundertwende nachempfunden waren, war ein alter Familienbesitz und hatte einen Ruf zu verlieren. Chrissy wusste das und es hatte ihre Leidenschaft für diesen unglaublichen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien nur noch gesteigert. Natürlich würde sie die Nachfolge ihrer Tante Lucille antreten und die Konditorei eines Tages übernehmen.
Die Kunden waren anspruchsvoll, aber sie sparten nicht mit Lob, wenn sie Chrissys Kreationen probierten. Wenn sie für Bestellungen backte, folgte auf die Auslieferung unweigerlich ein überschwänglicher Kommentar auf der Website – dem einzigen Zugeständnis des Cafés an die modernen Zeiten. Wenn sich aber die positiven Kommentare häuften kam es gelegentlich zu einer wohlwollenden Erwähnung oder sogar einem Artikel in einem Blog oder einem Magazin. Das war dann natürlich eine Katastrophe! Chrissy erkannte Blogger und Kritiker schon in dem Moment, in dem sie das Café betraten. Sie schwor, dass das Geräusch der antiken Glocke über der Tür bei solchen Leuten anders war, obwohl ihre Freundin Fiona immer wieder sagte, dass sie dazu ein Golden Retriever sein müsste. Jedenfalls war es in dem Moment völlig aus. Chrissy hörte nur das Glöckchen, und was immer sie gerade in den Ofen schob fiel in sich zusammen.
Das allein war noch nicht weiter tragisch, denn das Café war eine solche Traumwelt aus Karamell und Zuckerguss, dass sich ein paar ruinierte Törtchen auch mal verstecken ließen. Niemand war der Meinung gewesen, dass Chrissys Unfähigkeit, in einer wichtigen Situation die Konditoreikunst im Griff zu behalten, unbedingt sofortiges Handeln verlangte. Das würde sich schon noch geben, mit der Zeit…
So war Chrissy dann eines Tages sogar bei den Vorbereitungen für eine Hochzeit eingespannt worden. Das war vielleicht was gewesen! Die Braut hatte sich als Spinatwachtel mit blondierten Haaren und hecktischen Flecken im Gesicht herausgestellt, die bei ihrer Brautkleid-Diät nicht nur die letzten 4 Kilo bis zur Größe 34, sondern auch jeden Funken Humor verloren hatte. Als sie zur ersten Vorbesprechung in der Konditorei erschienen war, hatte sie mehr als deutlich ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob jemand wie Chrissy tatsächlich geeignet war, an der Vorbereitung eines Jahrhundertereignisses wie ihrer Hochzeit mitzuwirken – oder ob sie nicht sicherheitshalber der Konditorei fernbleiben sollte, bis die Torte fertiggestellt, ausgeliefert und wohlbehalten angekommen war.
Chrissy hatte bis dahin einigermaßen in ihrer Mitte geruht. In den vorangegangenen Monaten hatte sie große Fortschritte gemacht und sich auf das Projekt Hochzeit sogar ein wenig gefreut. Davon träumte ja schließlich jede Konditorin.
Wie auch immer, damit war es natürlich sofort wieder vorbei. Die Bedenken der Braut wurden zu ihren eigen. Was war, wenn alles schief ging? Was, wenn sie dem nicht gewachsen wäre? Was, wenn die gruselige Braut sie ganz richtig einschätzte?
Am Ende sahen Chrissys Marzipanrosen eher aus wie Kohlköpfe und mussten in letzter Minute ausgetauscht werden. Dies geschah glücklicherweise noch bevor die Braut sie gesehen hatte, denn sonst hätte sie Chrissy wahrscheinlich mit dem traditionellen blauen Strumpfband erdrosselt.
So ging die Hochzeit ohne Zwischenfälle vonstatten – zumindest ohne Zwischenfälle, für die die Konditorei verantwortlich gewesen wäre. Bald dachte niemand mehr daran – niemand außer Chrissy.
Es blieb dabei. Alle ignorierten, dass sie niemals die Prüfung schaffen würde. Selbst wenn sie es geschafft hätte die Torte in einem Stück bei den Prüfern abzuliefern, hätte sich wahrscheinlich herausgestellt, dass sie Zucker mit Salz verwechselt hatte oder irgendetwas in der Art. Dass sie zur Nachprüfung angemeldet war, war nur eine reine Formsache. Eine echte Chance hatte sie nicht.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass es leichter werden würde, nachdem sie diese Tatsache akzeptiert hatte. Das wurde es aber ganz und gar nicht. Sie wollte die Zukunft einfach nicht, die vor ihr lag, nachdem sie vielleicht mit Ach und Krach und mit wer weiß wie vielen Wiederholungen die Prüfung schaffen würde. Sie sah sich selbst schon am Fließband einer industriellen Konditoreifirma stehen oder als Hilfskraft in irgend einer Großbäckerei. Alles, nur das nicht!
Sie wollte bleiben wo sie war. Hier war sie richtig. Sie konnte sich etwas anderes nicht vorstellen.
Als sie ihre Ausbildung gerade angefangen hatte, hatte sie sich als waschechtes Naturtalent erwiesen. Niemand hatte mehr darüber gestaunt als sie selbst.
Eine Praktikantin, mit der sich Chrissy befreundet gewesen war, hatte ihr eines Tages völlig aus heiterem Himmel vorgeworfen, sie würde bloß angeben wollen. Chrissy war gerade eine Whiskey-Torte mit perfektem Schachbrettmuster gelungen, und sie hatte es nicht mal nötig gehabt hatte, die Marzipan-Schachfiguren mit Zahnstochern zu stabilisieren. Chrissy war wie vor den Kopf geschlagen gewesen, hauptsächlich weil sie ganz kribbelig gewesen war, denn sie war vorher nicht sicher gewesen, ob sie es überhaupt schaffen konnte. Sie hatte es eher ihrem Glück zugeschrieben, dass sie es hinbekommen hatte.
Danach war die Praktikantin nicht mehr Chrissys Freundin gewesen und bald auch nicht mehr Praktikantin in der Konditorei. Ihre Begeisterung schien sich plötzlich abgekühlt zu haben.
„Die sind wir los!“, war Tante Lucilles Resümee gewesen. „Gott sei Dank!“
Chrissy war derselben Meinung gewesen, obwohl sie natürlich auch traurig war ihre Freundin verloren zu haben. Konditorin zu werden war ihr so viel wichtiger und ihre ersten kleinen Erfolge machten sie glücklich.
Chrissy sah hinüber zur anderen Straßenseite. Das Fenster war dunkel.
Die Menschenleere um vier Uhr morgens, die ihr gerade noch so wundervoll beruhigend erschienen war, ließ sie sich jetzt einsam fühlen. Natürlich ist vier Uhr morgens nicht nur die ungünstigste Zeit um selbst wach zu sein, sondern auch eine unmögliche Zeit, um irgendjemanden anzurufen. Dabei kannte Chrissy sogar jemanden, der wahrscheinlich zu dieser Stunde wach war.
Ihre Freundin Gwen hatte gerade erst eine Beziehung von hurricanartiger Intensität und dreimonatiger Dauer hinter sich gebracht und sie noch nicht ganz überwunden. Gwen war eine klassische Schönheit, aber bereits nach kurzer Bekanntschaft hatten ihre inzwischen besten Freundinnen Fiona und Chrissy beschlossen, ihr das nicht weiter übel zu nehmen, denn sie war auch ein sehr netter Mensch. Gwens gutes Aussehen verschaffte ihr zwar Chancen ohne Ende und es konnte immer sein, dass sie von einem Tag auf den anderen wieder vergeben war. Haltbar waren ihre Beziehungen allerdings selten, und wenn sie wieder einmal solo war schlief sie oft überhaupt nicht.
In den durchgemachten Nächten (die man ihr nicht im geringsten ansah – eine weitere Tatsache, die ihre Freundinnen ihr nicht verübelten), entstanden ihre besten Arbeiten. Gwen war Illustratorin und ihre Hauptaufmerksamkeit galt der Bebilderung von Werken, die sich wahnsinnig schwer in Schubladen stecken ließen, die aber wohl am ehesten als Gothic-Komödien durchgehen konnten. Gwen hatte vor Jahren, als sie ihr Studium noch gar nicht beendet hatte, das Erstlingswerk eines Autors illustriert, der damals unbekannt gewesen war und inzwischen längst nicht mehr. Von der Aufmerksamkeit hatte Gwen profitiert, obwohl es in eingeweihten Kreisen viele gab, die meinten, es sei eher so gewesen, dass die Zeichnungen die Aufmerksamkeit erregt hatten, von der das Buch letztendlich profitiert hatte.
Diese Zeichnungen, und alle, die ihnen gefolgt waren, waren skurril ohne grotesk zu sein, eigenwillig und gleichzeitig von einer zerbrechlichen Schönheit. Sie waren einmalig. So war es gekommen, dass Gwen schon das besaß, was sich Chrissy und Fiona so sehnlich wünschten und worum sie jeden Tag aufs Neue kämpften. In den Jahren nach der Veröffentlichung dieses Erstlingswerkes hatte sie sich zu der einzigen in ihrem Dreiergespann entwickelt, die in ihrem leidenschaftlich geliebten Traumberuf tatsächlich schon erfolgreich war und fest im Sattel saß – und selbst daraus machten ihr Fiona und Chrissy keinen Vorwurf.
Chrissy konnte Gwen förmlich vor sich sehen, wie sie in Pyjama und Bademantel am Zeichentisch saß, in einem kreativen Rausch, der wie eine Naturgewalt war, und den nichts und niemanden aufhalten konnte bis er sich entladen hatte und Gwen zufrieden – und vielleicht auch ein wenig erstaunt über sich selbst – auf ihre Arbeit blicken konnte.
Wenn Chrissy sie jetzt anrufen würde, würde sie vielleicht sagen: „Ich rufe dich gleich zurück! Ich bin gerade in der heißen Phase!“
Ihre Stimme würde fröhlich klingen, euphorisch, voller Tatendrang. Sie würde sich nicht wundern, das Chrissy um diese Zeit wach war. Sie würde es nicht dreist finden, dass sie sie um diese Zeit anrief und sie würde nicht das Gefühl haben erklären zu müssen, dass sie um diese Zeit „in der heißen Phase“ war. Alles völlig klar.
Auch wenn sie das alles so klar und deutlich vor sich sah, konnte sie sich doch nicht überwinden. Sie traute sich nicht. Was wäre, wenn Gwen, nachdem sie ihr fröhlich und enthusiastisch mitgeteilt haben würde, dass sie gleich zurückrufen würde, den Faden verloren hätte? Chrissy nahm an, dass so etwas passieren konnte und sie wollte nicht der Grund sein, dass das Cover des nächsten Buches ein verkrüppeltes, unvollendetes Fragment bleiben würde wie…wie… eine zermatschte Torte. Immerhin war es ja auch möglich, dass Gwen sich von ihrer dramatischen Trennung diesmal schneller erholt hatte als gewöhnlich. Dann schlummerte sie jetzt gerade friedlich.
Oh nein, das Risiko war zu groß. Nur weil sie nicht schlafen konnte, war das kein Grund Gwen auch noch aus dem Bett zu holen, dabei hätte sie so gern mit ihr gesprochen. Gwen hatte ein Talent alles wieder in die richtige Perspektive zu rücken und einen mit dem Gefühl zurück zu lassen, dass man sich lächerlich gemacht hatte, indem man überhaupt jemals besorgt gewesen war. Danach fühlte man sich lächerlich, aber gut aufgehoben. Dieses Gefühl hielt bei Chrissy zwar nie lange an, aber sie konnte dennoch schwer darauf verzichten.
Statt dessen richtete sie den Blick wieder auf die schlafende Welt draußen vor dem Fenster, hinweg über die Reihe der friedlich träumenden Häuser auf der anderen Straßenseite und hin zu einem Stern am Himmel. Plötzlich fielen ihr Fragmente von Geschichten über Wunschsterne ein. Auch wenn es ein kindischer Gedanke war, wäre ein Wunschstern genau das gewesen, was sie gebraucht hätte. Dann fiel ihr ein, dass es in den Geschichten immer der Abendstern war, und dass sie ihn demnach schon längst verpasst haben musste. Wieder mal typisch.
Die Prüfung lag Monate zurück, und man hätte mit Recht fragen können, warum ihr das jetzt noch zu zusetzte. Die Antwort, die sie niemandem außer sich selbst gegeben hätte war, dass ihre Kusine Nadine ungebeten in ihrem Leben aufgetaucht war. Als Nadine verkündet hatte, dass sie, genau wie Chrissy, eine Ausbildung zur Konditorin machen würde, hatte Chrissy das noch für einen Scherz gehalten. Niemand in der Familie hatte gewusst, dass Nadine sich dafür interessierte, und das tat sie wohl auch nicht, nicht wirklich zumindest. Ihre Ausbildung hatte sie in einer anderen Konditorei in einer anderen Stadt gemacht, und wenn sie zu Besuch kam wurde sie es nicht müde zu betonen, wie gut sie dort klarkam, so dass man dort kaum noch auf sie verzichten konnte. Wenn sie hier im Café aushalf zeigte sich allerdings schnell, dass das eine sehr wohlwollende Schilderung ihrer eigenen Fähigkeiten war, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Sie war von Anfang an mittelmäßig gewesen und hatten über die Zeit hinweg eher noch nachgelassen. Sie konnte nur nach Rezept backen, war völlig einfallslos, wenn es darum ging, sich neue Kreationen auszudenken, und ihre Dekorationen waren so langweilig, dass man dumm gewesen wäre, sich nicht lieber für eine Fototorte von einer Online-Bäckerei zu entscheiden – die waren wenigstens billiger und man konnte das Motiv erkennen. Sie hatte das Talent offenkundig nicht geerbt und genau so wenig war es denkbar gewesen, dass sie das Café erben würde, denn sie gehörte einem weit abgelegenen, wildwuchernden Zweig der Familie an. Chrissys Kusine war sie nur um mehrere Ecken herum.
Nadine war allerdings von Mutter Natur nicht völlig vergessen worden. Was ihr an Talent und an Begeisterung fehlte, das machte ihr Aussehen leider wieder wett. Unfairerweise war das auch in der Konditorei ein unschlagbarer Vorteil. Wenn sie auch nur auftauchte, ganz selbstverständlich, als würde sie mit natürlichem Recht dorthin gehören, wurde alles andere ignoriert. Meistens klaute sie sich noch Chrissys Kittel, natürlich ohne vorher umständlich zu fragen, und knotete ihn sich irgendwie avantgardistisch um die Teile, wie um zu demonstrieren, dass sie zweimal reingepasst hätte. Von ihrem lichtblonden Haar, das sie in der Konditorei als Hochsteckfrisur trug – zweifellos nur um zu beweisen, dass die Farbe bis hin zum Ansatz echt war, bis hin zu ihren großen, veilchenblauen Augen, die schließlich mit Fug und Recht nur in Romanen gestattet waren. Alles war perfekt, und Nadine schien keinen Augenblick lang zu glauben, die Natur wäre ihr dieses Geschenk nicht schuldig gewesen. Es gab ja Menschen, denen das Glück einfach zufiel, aber Nadine wäre glatt imstande gewesen, es beim Universum einzuklagen, wenn es ausgeblieben wäre.
Ihre knappe Kleidergröße 34 schien jedem Beweis genug zu sein, dass Schokolade, Zucker und sogar Marzipan völlig zu Unrecht im Verdacht standen die Figur zu ruinieren. Jedenfalls vermutete Chrissy, dass das der Grund war, warum doppelt so viel Pralinen & Co. über die Theke gingen, sobald Nadine dahinter stand. Natürlich konnte sich Tante Lucille stundenlang begeistert über diesen Effekt auslassen und Chrissy wusste, dass es keinen Sinn haben würde darauf hinzuweisen, dass sie es schließlich gewesen war, die die Pralinen gemacht hatte, und zwar nach einem Rezept, das sie selbst erst kürzlich kreiert hatte. Chrissy glaubte, dass sie sich auch ohne die wandelnde Werbetafel Nadine hätten verkaufen lassen, aber dass sie es glaubte, verzweifelt glauben wollte, war längst nicht so viel wert wie Nadines gelassene Gewissheit, dass sie schön war, und dass deshalb für sie niemals dieselben Regeln gelten würden wie für die Normalsterblichen.
Es war auch egal, ob Chrissy die Anerkennung für die Pralinen für sich beanspruchte, denn es kümmerte sowieso niemanden, was sie dachte. Deshalb gönnte sie sich nur manchmal den Spaß darauf hinzuweisen, dass eher zweifelhaft war, ob Nadine wirklich trotz Schokolade & Co. so schlank blieb. Vom Loch Ness Monster gab es immerhin Fotos, aber niemand konnte behaupten, er hätte gesehen, wie Nadine irgendetwas Süßes aß – also noch kein Grund die Medien zu benachrichtigen. Chrissy selbst war eher pummelig, nicht wirklich dick, aber man glaubte ihr die Konditorin ohne weiteres. Wer hätte gedacht, dass das ein Nachteil war.
So sehr sich Chrissy immer über Nadine, ihre selbstgefällige Art, ihr überdimensionales Ego und ihre dennoch idiotensichere Beliebtheit geärgert hatte, wirklich besorgt war sie ihretwegen nicht gewesen. Früher war sie lediglich lästig wie Heuschnupfen gewesen, aber nicht bedrohlich.
Jetzt war das anders. Plötzlich erkannte Chrissy ihre eigene Zukunft nicht mehr wieder. Es hatte begonnen, nachdem Chrissy durch die Prüfung gefallen war. Tante Lucille war entschlossen gewesen sie aufzuheitern. Das war doch schließlich kein Beinbruch! So eine kleine Panne würde doch nicht der nächsten Generation im Weg stehen. Bald würde sich schon niemand mehr daran erinnern. Eines Tages würde Chrissys Geschichte sogar eine Inspiration sein, eine Geschichte, die man der übernächsten Generation erzählen würde – sogar sie hatte in ihrem Leben einmal die Prüfung vergeigt!
Allerdings zeigte sich bald, dass nach der verpatzten Prüfung auch ihr letztes Bisschen Selbstvertrauen dahin war. Es wurde immer schwieriger und ihre prüfungsangstbedingten Aussetzer wurden immer häufiger. Schon bei kleineren Anlässen, wenn sie sich beobachtet fühlte, oder wenn eine Bestellung für einen besonderen Anlass war, gingen ihr die Nerven durch. Je mehr sie versuchte dagegen anzukämpfen, desto schneller erwischte es sie. Es war hoffnungslos.
Mit der Zeit schien auch Tante Lucille es zu bemerken, und ihre Aufmunterungsversuche wirkten hölzerner. Chrissy konnte sich an den Tag erinnern, an dem ihr klar wurde, dass Tante Lucille nicht mehr daran glaubte, dass sie es schaffen konnte. Da konnte man nichts machen. Sie würde aufgeben.
Und als Sahnehäubchen auf dem ganzen Elend hatte Nadine im Sommer die Prüfung bestanden.
Es half alles nichts! Obwohl Chrissy sich kein bisschen schläfriger fühlte als vorhin ging sie zurück ins Bett, um den Rest der Nacht und die blassblauen Morgenstunden vor sich hin zu dösen.