Читать книгу Algarve ist ja fast Karibik - Corinne Lehfeldt - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеDas Boot wiegte sich auf den Wellen. Das Meer, am Horizont tiefblau und in der Sonne funkelnd, wandelte sich zum Strand hin zu Aquamarin und strich schließlich glasklar über den weichen, weißen Sand.
Die Bucht war einladend, friedlich und verschwenderisch mit Palmen und blühenden Sträuchern ausgestattet. Auf einem kleinen Hügel thronte eine Ansammlung kleiner, in Tutti-Frutti-Farben gestrichener Häuser. Unten am Strand standen fröhlich winkende Gestalten in farbenfrohen Gewändern.
Das Boot näherte sich dem Ufer. Von weit her mischten sich rhythmische Klänge in die Symphonie aus Wind und Wellen. Ella nahm einen tiefen Atemzug und sog die warme, süße Luft mit all den Düften der Südsee ein. Sie war angekommen. Nur eins kam ihr seltsam vor. Sie fragte sich, woher das hohe, schrille Piepsen kam. Noch bevor sie die Augen aufschlug, erkannte sie das Geräusch als ihren Wecker.
Alles löste sich auf.
Sie hatte geträumt.
Der Tag kann jetzt nur noch schlechter werden, dachte Ella, als sie aus dem Bett stieg.
An diesem grauen, verregneten Septembermorgen, mit dem der Tag sich fortsetzte, saß Ella in der S-Bahn. Zu allem Überfluss war es ein Montag. In dem Bewusstsein, dass dies die letzten Minuten des Tages sein würden, die sie für sich hatte, kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Buch. Auf dem Cover prangte ein halbversunkener Tempel im tiefsten Dschungel.
Bücher, deren Einband den Betrachter auf Phantasiereisen in ferne Länder einstimmten, füllten bei Ella zuhause ganze Regale. Einsame Inseln in der Südsee standen dort Schulter an Schulter mit wilden, unberührten Naturlandschaften aus Kanadas Pionierzeit. Chinesische Gärten mit Kirschblüten lehnten an indischen Palästen und venezianischen Kanälen.
Sie hatte die ersten 60 Seiten des Buches hinter sich gebracht und es gefiel ihr nur bedingt. Der weit entfernte, exotische Ort diente hier nur als Bühne für eine endlose Parade der Schrecken auf der Südhalbkugel. Schilderungen von Tropenkrankheiten, giftigen Schlangen und Insekten, Raubtieren und Naturgewalten reihten sich nahtlos aneinander. Das heldenhafte Expeditionsteam, das sich aufgemacht hatte um die Zeugnisse einer versunkenen Kultur zu finden, bereute diese Entscheidung nun schon seit Seite 19. Diese ganze Welt, die sich vor dem Leser entfaltete, war eine vollkommen lebensfeindliche Umgebung, die Ella an ihren Job erinnerte. Es fehlten bloß noch Kannibalen.
Ella war durchaus klar, dass der Realismus literarisch von hohem Wert war. Wahrscheinlich hatte es den Autor viel Arbeit, Hingabe und zahllose schlaflose Nächte gekostet, bis die Atmosphäre des Buches so scheußlich geworden war. Die grüne Hölle war bestimmt sein ganzer Stolz. Mit Sicherheit würde er lachen über Ellas Lieblingsromane mit ihren normalen, harmlosen Konflikten vor exotischer, oft schlecht recherchierter Kulisse, und über die klischeehaften Liebespaare, die sich am Ende ja sowieso kriegen würden. Der absolute Gipfel der Spannung war da vielleicht die junge, hübsche Erbin, die ihre geerbte pazifische Insel vorhersehbar auf der vorletzten Seite retten würde – je nach zeitlicher Ansiedlung entweder vor Piraten oder vor der Zerstörung durch schlipstragende Immobilienhaie. Aber wenn Ella ehrlich war gab sie in der Buchhandlung ihr Geld nicht für Überraschungen aus, sondern um aufgeheitert zu werden. Für die paar flüchtigen Minuten auf dem Weg zur Arbeit wünschte sie sich Lesestoff, aus dem sie so viel Sonne, Freude, Trost und Zuversicht wie nur möglich schöpfen konnte. Sie griff nach jedem Strohhalm, der sich bot, um sich schon vorauseilend von dem bevorstehenden Arbeitstag zu erholen. Das alles brauchte sie dringend, wenn sie nicht schon vor zehn Uhr in eine weinerliche Stimmung abrutschen wollte.
Mit etwas Glück war die Beschreibung einer Karibikinsel, auf der das Schicksal eine neue Wendung nahm, so lebhaft, so farbenprächtig und so zum Greifen nah, dass Ella glaubte die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Wenn sie dann später im Büro war, mit einer langen To-Do-Liste von nicht machbaren Dingen, nicht haltbaren Deadlines und einem Herzschlag jenseits der Intensivstation, schaffte sie es manchmal, sich auf der Toilette zu verstecken und sich ganz fest auf das Bild vor ihrem inneren Auge zu konzentrieren. Das stetige, ruhige Kommen und Gehen der imaginären Wellen am imaginären Strand schlichen sich in ihr Unterbewusstsein und ließen sie glauben, dass es da draußen eine normale Welt gab, der sich ihr Puls langsam wieder anglich.
Manchmal traf sie auch Kollegen in der Bahn. Sie hasste es, wenn das passierte. Es war nicht so, dass sie ihre Kollegen nicht mochte. Die meisten fand sie sogar ganz nett. Das Problem war nur, dass sie alle kein anderes Gesprächsthema hatten als den Job, und Ella verdrängte dieses Thema gern so lange wie möglich. Erfahrungsgemäß gab es bei ihren Kollegen zwei Sorten. Die einen lebten ausschließlich für ihre Karriere (egal, ob sie schon eine hatten oder nur davon ausgingen, dass sie schon noch zu einer kommen würden). Sie genossen es in vollen Zügen sich darüber auszulassen, was in letzter Zeit aufregendes im Büro, auf einer Messe, auf einer Geschäftsreise passiert war. Ella fand das erschreckend und geradezu wider die Natur. Die anderen waren, Ella nicht unähnlich, mit ihren Nerven am Ende und jeden Morgen auf dem Weg ins Büro den Tränen nah. Sie wollten loswerden, dass sie nicht mehr aus noch ein wussten, spätestens seit neulich im Büro, auf der Messe, auf der Geschäftsreise dies und jenes passiert war. Das war fast noch schlimmer, denn ehe Ella sich versah, erlag sie der Versuchung und steuerte ihre persönlichen Geschichten bei. Für den Moment war das befreiend, aber meistens ließ ihr Gesprächspartner sie an der letzten Haltestelle oder spätestens am Büroeingang mit dem Gefühl zurück, dass es eben nicht zu ändern sei. Auch die anderen hatten solche Probleme. Auch die anderen taten nichts dagegen, weil es nämlich nichts gab, was man dagegen tun konnte.
Zwar gab es nicht wenige, die durchaus etwas unternahmen. Kaum hatten sie realisiert, was sie sich eingebrockt hatten, verschickten sie Bewerbungen und verabschiedeten sich nach einem lächerlich kurzen Gastspiel wieder. Deren Gesichter kannte Ella vom Sehen und falls sie sich in der Bahn trafen, grüßten sie sie kurz und wandten sich dann wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu, als hätten sie Angst sich mit der Pechsträhne des Stammteams anzustecken. Ella war es recht. Sie hasste es, sich auch nur eine Minute früher als nötig mit ihrem Job zu beschäftigen.
Die S-Bahn kam mitten auf der Strecke zum Stehen. Eine gemurmelte Ansage teilte den Fahrgästen mit, dass sich die Einfahrt in den Bahnhof verzögern würde. Ella ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Er fiel auf die Bürogebäude, die die Szenerie der Innenstadt verschandelten. Ella hatte heute kein Auge für die scheußliche Architektur, nur für das erleuchtete Fenster in der Mitte des Gebäudes genau gegenüber. Man sagte ja, das Gras auf der anderen Seite sei grüner. Ella kam es so vor, als wäre auch das Büro auf der anderen Seite freundlicher. Es war in gelbes Lampenlicht getaucht, um den grauen Regen auszusperren. Ein paar Leute standen und saßen um gruppenartig angeordnete Schreibtische herum und unterhielten sich. Niemand gestikulierte hektisch, niemand rannte, niemand sah aus, als wäre der Tag um halb neun schon verloren. Ella hätte gern getauscht. Genau so war es ihr auch schon im Spielzeugladen gegangen, in dem sie vor ein paar Tagen für ihre Nichte zum Geburtstag einen x-beliebigen Teddy gekauft hatte. Sie hatte an der Kasse gestanden und die Verkäuferin beneidet. Das war ein ruhiger, freundlicher, harmloser Arbeitsplatz.
Wie immer, wenn sie solche Gedanken überkamen, versuchte sie ihre Gedanken auf erfreuliche Dinge zu lenken. Diesmal war das leicht. Am Mittwoch – also keine 48 Stunden später – würde sie im Flugzeug nach Portugal sitzen. Das war doch mal was.
Katharina, ihre beste Freundin auf der Welt seit sie beide fünf Jahre alt gewesen waren, heiratete an der sonnigen Algarve. Es war Ehrensache, dass Ella dabei sein würde. Sie hatte den Urlaub lange geplant und akribisch vorbereitet. Ihre To-Do-Liste war monströs, aber sie war zuversichtlich, dass sie alles schaffen würde, solange nur nichts Unvorhergesehenes passierte.
Katharina war Reisejournalistin und als solche nie lange am selben Ort. Es kam nicht mehr oft vor, dass Ella die Gelegenheit hatte Zeit mit ihrer besten Freundin zu verbringen. Früher war das anders gewesen, als sie kleine Mädchen gewesen waren und vom Reisen geträumt hatten. Die Orte, zu denen sie sich hinphantasiert hatten, lagen jenseits der Welt, die einem später als Erwachsener offenstand, aber Ella hatte sie nie vergessen.
Mit jeder Reise, mit jedem Artikel wuchs ihr Erfolg. Jeder Schritt, den sie tat, brachte sie ein Stück weiter. Niemand wusste wie sie es machte, aber Katharina kannte in jeder Stadt, in jedem Land die einzigartigsten Orte; die Strände, die Touristen immer um eine Abzweigung verpassten, die Dörfer, die wirklich verwunschen waren und nicht nur so taten um bescheuerte Souvenirs zu verkaufen und die Strandbars, um die die Einheimischen noch keinen großen Bogen machten.
Wie das Leben so spielte, eines Tages war die Zeit gekommen, als sie den Tagträumen und Phantasiereisen entwachsen waren. Es war über Nacht passiert, oder zumindest schien es jetzt so. Vorgestern hatten sie sich vorgestellt, auf einem Floß aus Sofakissen den Amazonas hinunterzufahren, gestern hatten sie sich bei der Uni eingeschrieben und heute gingen sie getrennte Wege. Letztendlich blieb nur, entweder Nägel mit Köpfen zu machen, sich hinauszuwagen, zu sehen, was die wirkliche weite Welt einem bieten würde, oder aber die Luftschlösser aufzugeben und sich mit dem zu begnügen was übrigbleibt.
Katherina hatte den ersteren Weg eingeschlagen, Ella den letzteren.
Ella war immerhin dabei gewesen, als Katharina zu neuen Ufern aufgebrochen war. Dem als Hobby begonnenen Blog über die exotischen Restaurants der Stadt, die sie und Ella zusammen ausprobiert hatten, war ganz selbstverständlich ein Volontariat bei einer Zeitschrift gefolgt, das Katharina abgebrochen hatte, weil man versuchte ihr reinzureden. Sie hatte gejobbt und weiter gebloggt. Dann war mit derselben selbstverständlichen Leichtigkeit eine Kolumne gefolgt und später hatte der Verlag sie fest angestellt. Diesmal war man schlau genug, ihr nicht reinzureden. Man schickte sie nur von A nach B, auf Yogareisen nach Indien, auf Karibikinseln, zum Karneval nach Venedig und zum chinesischen Neujahr. Katharina schrieb über alles, so wie sie es vorfand. Das war natürlich Pech für die verheißungsvollen Orte, die sich als totale Reinfälle entpuppten, wie zum Beispiel die als charmant und idyllisch gepriesenen Fischerdörfer, in denen Katharina auf der Standpromenade an einem Nachtclub nach dem anderen vorbeigeschritten war, in der vergeblichen Hoffnung zumindest noch ein einziges, übriggebliebenes Fischerboot zu finden.
Jetzt heiratete sie – jemanden, den sie auf einer Reise kennengelernt hatte. Phillip war Engländer und Erbe eines ganzen Netzes von Hotels, das sich über den gesamten Erdball spannte. Dazu gehörte auch das Hotel an der Algarve, in dem die Hochzeit stattfinden würde.
Seit sie Phillip kannte, hatte Katharina natürlich noch weniger Zeit als vorher. Wenn sie nicht gerade auf einer neuen Reise war, brachte sie die letzte zu Papier. Es kümmerte die Redaktion wenig, wo sie das tat. Immer wieder setzte sie sich spontan ins Flugzeug, um ihn zu besuchen. Phillip, der das Reisen lange nicht so genoss wie seine Angebetete, war dazu verdammt von Luxushotel zu Luxushotel zu ziehen, um sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er das Ruder übernehmen sollte. Katharina besuchte ihn in jedem einzelnen der Nobelschuppen. Ella hatte bei Katharina schon viele Male „genau den Richtigen“ kommen und gehen sehen. Phillip passte nun wirklich nicht zu Katharina. Er sprach über das Reisen, als hätte er lebenslänglich. Das würde sowieso nicht halten.
Es hielt.
Ella gestand sich selbst durchaus ein, dass sie eifersüchtig war. Sie vermisste Katharina, und es hatte Zeiten gegeben, in denen sie diesen Prince Charming am liebsten in einer Kiste mit Luftlöchern zum entlegensten Außenposten des Commonwealth verschifft hätte. Leider lernte sie Phillip nach sechs Monaten persönlich kennen, und zu ihrem Ärger war es unmöglich ihn nicht zu mögen. Sie verstand jetzt, warum Katharina ihn nicht so einfach wieder gehen lassen wollte wie seine Vorgänger.
Nun war es also soweit. In Portugal läuteten die Hochzeitsglocken.
Ella hatte ihren Flug schon gebucht, noch bevor Katharina ihr Brautkleid ausgesucht hatte. Sie hatte zwei Wochen Urlaub eingereicht. Die Hochzeit würde im letzten Drittel dieser Zeit stattfinden. Vorher waren Jungesellinnenparty und dergleichen abzuhandeln. Ella war so froh, dass sie nochmal so viel Zeit am Stück mit ihrer besten Freundin verbringen konnte.
Ella selbst hatte leider nie so viel Glück gehabt wie Katharina, der ihr Traumberuf in den Schoß gefallen war. Sie hatte sich gesagt, dass es so etwas wie einen Traumberuf vielleicht gar nicht gab, wenn man nicht nur aus Spaß arbeitete. Mit dieser Einstellung nahm sie das Thema Jobsuche in Angriff. Diese Zeit war ihr vor allem als stressig, frustrierend und deprimierend in Erinnerung geblieben. Am Ende hatte sie sich sogar von den Absagen niederschlagen lassen, über die sie sich in einer normalen Welt hätte freuen sollen, weil sie schon die Stellenbeschreibung abschreckend gefunden hatte. Mit der Zeit hatte sich Verzweiflung breitgemacht, und sie hatte ihre Ansprüche tiefer und immer tiefer geschraubt. Irgendwo musste es doch einen Job geben, der nichts Besonderes war, von dem niemand auf der Uni träumte und um den die Konkurrenz nicht so hart war. Irgendetwas musste doch übrigbleiben.
Ein geisteswissenschaftliches Studium war ein Risiko gewesen, und Ella war es bewusst eingegangen. Von der Zeit, in denen sie sich tagein, tagaus in den Instituten für Anglistik und Romanistik herumgetrieben hatte, war es ihr allerdings nicht wie ein Risiko vorgekommen. Die Zweifel hatten sich erst nachträglich wieder gemeldet, als ihr klargeworden war, dass aus Geisteswissenschafts-Studenten Geisteswissenschafts-Absolventen wurden, und dass unheimlich viele von ihnen hofften, dass aus ihnen Journalisten werden würden. Ein entsprechendes Praktikum, das Ella immerhin trotzt der heftigen Konkurrenz ergattert hatte, wurde zu einem absoluten Albtraum. Es lag vielleicht nicht zuletzt daran, dass sie nicht mit der gleichen Leidenschaft dabei gewesen war, mit der andere ausgestattet waren. Sie sah sich selbst nicht vor sich, wie sie mit Engagement über die Verlosung eines Kleinwagens bei einer Baumarkteröffnung schrieb, oder eine Doppelseite zur Lebenswichtigkeit der aktuellen Schuhmode verfasste, nur weil das kleine Schritte auf dem Weg zum großen Ziel waren. So groß erschien ihr das Ziel einfach nicht.
Journalismus fiel also weg, womit es Zeit wurde über Alternativen nachzudenken. Dass ein Startup, das gerade eine Reise-App entwickelte, eine Teamassistentin suchte, war ihr in dieser Verfassung wie ein Zeichen vorgekommen – nicht unbedingt ihr Traumjob, aber ein guter Anfang, nicht völlig aus der Art geschlagen, eine vernünftige Lösung zu der Zeit. Ella hatte sich beworben und war genommen worden.
Zuerst war es nur als vorrübergehende Lösung gedacht. Solche Firmen waren ja heute hier und morgen fort. Diese Firma allerdings überdauerte die Zeit, sie wuchs, und mit ihr wuchsen auch die Anzahl der Apps, die Zielmärkte und Ellas Aufgaben. Es gab Messen zu organisieren, Präsentationen vorzubereiten und Pressemitteilungen zu übersetzen. Ella sprach Englisch, Französisch, Dänisch, Italienisch und Portugiesisch. Sprachen waren ihr immer vor allem als Tore zu anderen Welten vorgekommen. Italienisch war ihr gemeinsames Hobby mit Katharina gewesen. Dänisch sprach sie seit ihrer Kindheit, denn ihre Großeltern wohnten kurz hinter der deutsch-dänischen Grenze und sie hatte oft die Ferien dort verbracht. Portugiesisch war eine Neuerwerbung. Nach dem Ende ihres Studiums hatte sie angefangen Kurse zu belegen, wohl auch um sich zu beweisen, dass die Karten immer noch neu gemischt werden konnten.
Während des zermürbenden Bewerbungsprozesses waren die Sprachen ihr Joker gewesen. Nach jeder frustrierenden Absage hatte sie wie ein Mantra heruntergebetet, welche Sprachen sie beherrschte. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass sie ihr im Zweifelsfall Vorteile verschaffen würden. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass sie ihr in erster Linie Überstunden verschafften. Das Personal war knapp bemessen und viele Kollegen waren einsprachig. So wanderten auch Teile der PR-Arbeit und die Organisation internationaler Messen klammheimlich in Ellas Zuständigkeitsbereich. Das würde nur am Anfang so sein, sagte sie sich, wenn sie wieder nach so einem langen Abend das Büro verließ. Das würde sich schon noch normalisieren.
Es normalisierte sich nicht, denn es war schon längst Normalität.
Ella staunte, dass sie – unentbehrlich obwohl unterbezahlt – offenbar für alles und jeden als Urlaubsvertretung vorgesehen war. Meistens ging es dabei um Kollegen, die länger im Unternehmen waren, höher angesiedelt oder über eine besonders stylische Ausbildung verfügten. Wozu war das alles schließlich gut, wenn es einem nicht das Recht verschaffte, sich als erster den Urlaub auszusuchen. Für Ella blieben dann die weniger begehrten Zeiträume. Man kannte ja diese Zeiten des Jahres in denen irgendwo nicht mehr die schönste Zeit der Saison war, und anderswo das Irgendwas schon längst nicht mehr in voller Blüte stand.
Entsprechend früh hatte Ella diesmal ihren Urlaub eingereicht. Dies waren jetzt die letzten zwei mickerigen Arbeitstage, und sie hatte keine Sekunde zu verlieren, wenn sie ihre To-Do-Liste vollständig abhaken wollte. Sie ließ sich auf ihrem Bürostuhl nieder und spürte sofort ein steifes Gefühl im Rücken. Sie war entschieden zu jung für Rückenschmerzen, dachte sie unwillkürlich. Ihr fehlte das Yoga.
Ursprünglich hatte sie nur mit Yoga angefangen, um sich mit dem Dauerstress irgendwie zu arrangieren, aber dann war sie restlos hingerissen gewesen. Die in Naturfarben gestrichenen Wände, die hohe Decke mit der Holztäfelung, das indirekte Licht und die friedlichen Klänge aus der Stereoanlage hatten eine einladende, heimelige Atmosphäre geschaffen. Die überwiegend heiteren, gelassenen Teilnehmer, die vor Kursbeginn auf mitgebrachten Decken und Handtüchern hockten, hatten Ella an Pyjamapartys aus ihrer Kindheit erinnert. Sie hatte sich wohl gefühlt und war sich nicht einmal dämlich vorgekommen, obwohl sie überzeugt war, die einzige blutige Anfängerin unter lauter Vollprofis zu sein.
Freudig hatte sie sich nach der ersten Stunde eine Decke gekauft – natürlich aus 100 Prozent biologischen Materialien, wie von der Yogalehrerin empfohlen – um sich nicht mehr direkt auf eine geliehene Matte legen zu müssen, auf der vorher die Bauch-Beine-Po-Fraktion die Kalorien rausgeschwitzt hatte. Selbige Decke musste sie allerdings eine Woche später mit hochrotem Kopf und unter den vernichtenden Blicken der ach so entspannten Hobby-Yogis auf eine Matte in der letzten Reihe platzieren.
Sie kam zu spät.
Sie kam viel zu spät, und dabei war sie doch so ein durch und durch pünktlicher Mensch. Das Schlimme daran ein durch und durch pünktlicher Mensch zu sein war nicht etwa die Lebenszeit, die man mit Warten auf andere verbrachte. Das Schlimmste war, dass man keine Übung im Zuspätkommen hatte. Man war nicht in der Lage sich zu geben wie ein waschechter Profi-Zuspätkommer und die Blicke der genervten Yogis mit einem Lächeln zu quittieren das sagte: „Was soll’s. Leute kommen andauernd zu spät. Ich muss es wissen, das ist schon meine zwölfte Verspätung, allein in dieser Woche. Ommmm.“
Ella war es so peinlich, dass ihr völlig entfiel, dass es im Grunde gar nicht ihre Schuld gewesen war. Sie hatte sogar extra einen großzügigen Zeitpuffer eingeplant und war am Vorabend länger im Büro geblieben, um sich die Zeit freizuschaufeln. Schließlich freute sie sich ja schon die ganze Woche auf den Yogakurs. Als sie gerade den Rechner hatte herunterfahren wollen, hatte ihr Telefon geklingelt. Ein Teil ihres Gehirns gab ihr den dringenden Rat nicht ranzugehen, so zu tun, als wäre sie gerade aus der Tür. Leider war das nicht der Teil ihres Gehirns, der die Anweisungen gab. Wie ferngesteuert griff sie zum Hörer. Es war die aufgeregte Grafikabteilung. Schon nach dem dritten Satz wusste Ella, dass ihr großzügiger Zeitpuffer nicht reichen würde. Offenbar gab es einen neuen Text für die neue Website, der in mehreren Sprachen vor Fehlern strotzte. Gott sei Dank war Ella noch da!
Von da an schaufelte Ella sich die ganze Woche über den Freitagnachmittag frei. Alles, was potentiell zu stressigen Pannen hätte führen können, erledigte sie so früh wie möglich und checkte es doppelt. So etwas Peinliches sollte ihr nie wieder passieren. Es passierte ihr jede Woche aufs Neue. Jede Woche kam ein neuer, superdringender Freitagsnotfall und erst, wenn Ella alles geregelt hatte und unaufgewärmt die Position „Herabschauender Hund“ einnahm, kam ihr plötzlich der Gedanke, dass all der Kram auch sehr gut noch bis Montag hätte warten können. Und beim nächsten Mal würde sie das auch sagen! Mit einem freundlichen, unbeeindruckten Lächeln würde sie dem beliebigen Kollegen, der mit dem Projekt des Jahrhunderts vor ihr stand, erklären, dass übers Wochenende auf keinen Fall die Welt untergehen würde, und wenn doch käme es darauf dann auch nicht mehr an. Dann würde sie aus dem Büro schweben und ihr Yoga genießen.
Nach dem fünften Mal brach sie den Kurs ab.
Bei der Erinnerung daran ballten sich unwillkürlich ihre Hände zu wütenden Fäusten. Als hätte sie damit die Götter erzürnt, brach just in diesem Moment der Sturm los. Er brach in Gestalt der neuen Event-Managerin herein, die ins Büro rauschte. Sie trug ein von Aubergine dominierten Outfit, nur Stunden nachdem die Hochglanzmagazine es zur neuen Trendfarbe erhoben hatten. Das nannte man wohl echtes Engagement. Was mochte wohl aus den armen, nicht länger angesagten Textilien in ihrem Kleiderschrank geworden sein, die nicht in Aubergine gehalten waren?!
Es war kein Geheimnis, dass die neue Event-Zicke, wie Ella sie im Geiste nannte, den Job hier als unter ihrer Würde betrachtete. Sie war für Paris, London und New York bestimmt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Universum seinen Fehler bemerken und korrigieren würde.
Anstelle einer langweiligen konventionellen Begrüßung sagte sie zu Ella: „Du musst dir die nächste Woche freihalten. Ich fahre nach Frankreich und du musst hier für mich die Stellung halten.“
„Das geht nicht“, entgegnete Ella, insgeheim froh darüber. Es mochte vielleicht boshaft sein, aber dieser Königin der Zicken einen Gefallen tun zu müssen hätte ihr überhaupt nicht in den Kram gepasst. „Ich bin ab Mittwoch selbst im Urlaub.“
„Ich weiß“, kam die desinteressierte Antwort über den Rand der Mappe hinweg, in der die Event-Zicke betont geistesabwesend zu blättern angefangen hatte. „Aber wir können nicht gleichzeitig Urlaub nehmen, und ich kann meine Pläne auf keinen Fall verschieben. Ich habe schon mit dem Personalbüro gesprochen und die Zeiten getauscht. Ab dem 18. kannst du Urlaub nehmen. Du kannst dich gern erkundigen. Es ist alles geregelt.“
Sie warf Ella ein schlangenhaftes Lächeln zu, das ihr wohl zu verstehen geben sollte, dass sie ihr verdattertes Schweigen als Zustimmung wertete. Dann klappte sie mit einer Hand so geräuschvoll wie nur möglich die Mappe zu (die mit Sicherheit keinerlei Informationen irgendeiner Art enthielt) und schwebte von dannen. Eine Wolke aus teurem Parfüm flatterte wie ein Banner hinter ihr her.