Читать книгу Algarve ist ja fast Karibik - Corinne Lehfeldt - Страница 5

Kapitel 2

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Auszeit, dachte Ella, als sie die Tür der Toilettenkabine hinter sich verriegelte. Bevor sie sich wieder in die freie Wildbahn wagen konnte, musste sie runterkommen, einen klaren Kopf wiedererlangen und einen Plan machen.

Einen klaren Kopf!

Einen Plan!

Erstmal können vor Lachen!

Dabei sah sie so glasklar vor sich was getan werden musste. Der Moment um auf den Tisch zu hauen war JETZT!

Diese Erkenntnis war wie ein elektrischer Impuls, der Ella aus ihrer zusammengekauerten Haltung auf dem Klodeckel herauskatapultierte. Sie würde es der Welt da draußen zeigen, und zwar jetzt! Geradezu bildlich konnte sie vor sich sehen, wie sie mitten in einem Meeting in den Konferenzraum rauschte, Klartext redete und im Handstreich gleich noch dafür sorgte, dass die Event-Management-Stelle wieder vakant wurde. Das waren Aussichten!

Der Energiestoß reichte allerdings nicht einmal bis zum Entriegeln der Klotür, die Ellas geschützten Zufluchtsort vom Rest der Welt trennte. Die übrige Energie beschloss dann auch umgehend, sich anderweitig nützlich zu machen und in den Betrieb der Stimme in Ellas Kopf zu fließen, die sagte: „So einfach geht das nicht.“

Von der umfassenden Weisheit dieser Aussage überzeugt ließ Ella sich auf den Klodeckel zurücksinken. Gott sei Dank hatte sie noch nichts Überstürztes getan. Sie war darauf nicht vorbereitet, nicht qualifiziert dafür spontan zu sein und sich ihren Urlaub mit fliegenden Fahnen zurückzuerobern. Die Ella in ihrer Vorstellung war ein vollkommen anderer Mensch. Ihre aufrechte Haltung war keineswegs nur äußerlich und sie war in einer Position, die es ihr erlaubte Sätze zu sagen wie: „Ich würde nur ungern ein anderes Angebot in Erwägung ziehen.“

Leider war die echte, wirkliche Ella nicht vorbereitet. Sicher, sie war sich darüber im Klaren, was sie tun musste. Sie durfte die Event-Zicke keines Blickes mehr würdigen und musste das Ganze auf eine höhere Ebene verlegen. Unangemeldet und notfalls direkt an der Event-Zicke vorbei musste Ella ins Büro ihres Chefs stolzieren und mit der Situation Ein- für Allemal aufräumen. Der Fall war klar. Sie hatte den Urlaub eingereicht, pünktlich, korrekt und zu einem Zeitpunkt, als niemandem in seinen wildesten Albträumen eingefallen wäre, dass diese Event-Zicke im Bewerbungsverfahren auch nur in die engere Wahl gezogen werden könnte. Es war einfach eine Farce!

Ella sah es in so leuchtenden Farben vor sich, dass sie noch einen Moment länger in dieser glücklichen Vision verharrte. Aber es half natürlich nichts. Sie wusste ja selbst, dass sie bis zu dem Wort „Farce“ nie im Leben kommen würde. Ihr Chef würde ihr gar nicht erst zuhören. Wie kam sie überhaupt darauf, es könnte irgendjemanden interessieren, dass sie die älteren Rechte hatte, oder dass sie sich an die Regeln gehalten hatte. Das waren keine Karten, die sie zu ihrem Vorteil ausspielen konnte. Urlaub war hier sowieso ein Unwort, ein lästiges Anhängsel, das jeder Arbeitsvertrag mit sich brachte. Ihr Chef fand sich damit mehr schlecht als recht ab, solange alles reibungslos lief. Wahrscheinlich würde diese Szene vorhin im Flur der Event-Zicke noch Pluspunkte einbringen. Wie umsichtig von ihr Ella darauf hinzuweisen, dass sie jetzt besser nicht die Stadt verließ! Wenn Ella ihrerseits auf die Einhaltung ihrer Pläne pochte, würde automatisch sie das Problem sein. Wo blieb ihre Flexibilität? Wo war ihre Teamfähigkeit? Sie würden sich eben einigen müssen. „Sich einigen“ bedeutete in diesem Fall: Ella sollte nachgeben. Das wäre schließlich für alle – außer natürlich für sie selbst – die beste Lösung.

Tatsächlich brachte es der Event-Zicke in der Regel Pluspunkte ein, dass sie so rücksichtslos war. Durch ihre Dreistigkeit würde sie es noch sehr weit bringen. Gegenüber jemandem wie Ella, die kein Rückgrat hatte und nur halbherzig versuchte darüber hinwegzutäuschen, würde die Event-Zicke bestimmt keine Zugeständnisse machen – warum auch. Ella war ja schließlich nur das Faktotum der Firma, das für die Events einfach mitverantwortlich gewesen war, bis jemand gekommen war, der Visitenkarten hatte. Ella gehörte auch nicht zu diesen glücklichen Menschen, die von Mutter Natur mit einem Autopiloten ausgestattet worden waren, der sich einschaltete, sobald jemand versuchte ihnen die Butter vom Brot zu nehmen. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass sie sich nicht auf eine magische Inspiration verlassen durfte, die ihr im richtigen Moment die perfekten Worte schenken würde. Die perfekten Worte mussten vor dem Spiegel geübt werden, oder noch besser in einer beispielhaften Szene mit Katharina.

Ja, Katharina würde wissen, was man sagte, wie man sich gab und wie man jemanden wie die Event-Zicke in ihre Schranken wies. Sie würde die perfekten Worte finden, sie würde Ella versichern, dass sie wirklich keinen Schritt zu weit ging, und sie würde darauf bestehen, dass Ella es durchzog. Allerdings musste dann erst noch darauf gewartet werden, dass ein zweiter perfekter Moment kam. In der Regel kam er nie wieder. Außerdem war Katharina ja weit weg. Unter der warmen, freundlichen portugiesischen Sonne plante sie ihre Märchenhochzeit und ließ es sich nicht träumen, dass ihre Trauzeugin, die nur die eine Aufgabe hatte sich rechtzeitig am Flughafen einzufinden, gerade in diesem Moment nicht die blasseste Ahnung hatte, wie sie das bewerkstelligen sollte.

Ella sah immer klarer, wie tief sie in der Tinte saß.

Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Aus ihrem Hinterkopf meldete sich ein Erinnerungsfetzen zu Wort. Vor Monaten hatte Ella etwas über Urlaub in einem Zeitungsartikel gelesen. Sie war sicher sich zu erinnern gelesen zu haben, einmal genehmigter Urlaub könne nur in begründeten Ausnahmefällen wieder zurückgenommen werden, und zwar nur dann, wenn die Firma andernfalls in ernsthafte Schwierigkeiten käme. Dass der Gesetzgeber damit Frankreich-Urlaube von Event-Zicken gemeint haben könnte, die ins Wasser fielen, bezweifelte Ella stark. Das war ihre Trumpfkarte, die sie umgehend im Personalbüro auf den Tisch legen würde. Immerhin war ihr Urlaubsantrag im System, das konnte ihr dort jeder bestätigen.

Ach nein, das ging ja nicht.

Der Grund, warum das nicht ging war Linda aus der Personalabteilung. Sie ging fast jeden Tag mit der Event-Zicke zum Mittagessen – zwei Clowns aus dem Modezirkus zusammen in der Manege. So überraschend es war, dass auch Zicken untereinander befreundet waren, Ella war sicher, dass Linda sofort an den Eintragungen im System drehen würde, sobald sie wusste, dass es darauf ankam. Vielleicht war das sogar schon passiert. Ella hatte noch im Ohr, wie die Event-Zicke gesagt hatte: „Es ist alles geregelt.“

Das Licht ging aus.

Ella wusste zuerst nicht, was passiert war. Dann fiel ihr ein, wie jede moderne Firma auch diese natürlich mit Lampen in den Toiletten ausgestatten waren, die durch Bewegungsmelder im Waschraum aktiviert wurden. Offenbar hatte sie die Zeit überzogen, die das System ihr zugestand, um sich die Hände zu waschen und an den Schreibtisch zurückzueilen.

Sie entriegelte die Tür und tappte in den fast völlig dunklen Waschraum, bis der Sensor sie erfasst hatte und das Licht wieder anging. Sie hatte Glück. Es war immer noch niemand da. Niemand hatte sie gesehen.

Und plötzlich ging ihr noch ein ganz anderes Licht auf als das des Waschraums. Das war es! So würde sie es machen! So ein Irrsinn zu glauben, sie würde nicht an die Algarve kommen, Katharinas Hochzeit verpassen, und das alles nur, weil so ein Event-Früchtchen meinte hier die Primadonna geben zu müssen! Lächerlich!

Sie wirbelte in den Flur, diesmal ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob jemand sie sah, dem sie verdächtig aufgewühlt erscheinen konnte. Fast wäre sie mit Sascha aus der Buchhaltung zusammengeprallt, als sie um die Ecke bog. Egal!

Jetzt kam es nur auf eins an. Fast schon freudig erregt rief sie ihre Seite im firmeneigenen Urlaubstool auf. Lud dieses Ding eigentlich immer so langsam? Zum Verrücktwerden! Und das im 21. Jahrhundert! Skandalös! Wo blieb denn diese nervige, aufdringliche Digitalisierung mit ihren „Alles Überall Sofort“-Dogmen, wenn man sie dann wirklich mal brauchte?!

Die Seite öffnete sich. Da stand es. Ellas Urlaub war nach wie vor eingetragen, ordnungsgemäß, klar und versehen mit dem Erstelldatum, das vier Monate in der Vergangenheit lag. Offensichtlich hatte sich noch niemand daran zu schaffen gemacht. Tja Linda, dachte Ella, während sie auf „Drucken“ klickte. Wer schläft verliert.

Sie faltete die unscheinbare Seite zusammen und schob sie in ihre Handtasche, die unter dem Schreibtisch stand. So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie den Firmendrucker noch nie für private Zwecke benutzt. Diese Überkorrektheit kam ihr zwar selbst lächerlich vor, während ihre Kollegen munter Konzerttickets, Wellnessgutscheine und private Bahnverbindungen durch den Firmendrucker jagten, die sie natürlich auch allesamt während der Arbeitszeit recherchiert und gebucht hatten. Wie dem auch sei, Ella konnte nicht aus ihrer Haut. Gleich nach ihrem Eintritt ins Berufsleben hatte sie aus Versehen einen Bericht über Leute im Fernsehen gesehen, die wegen ähnlicher Banalitäten gekündigt worden waren. Das hatte sie so dauerhaft verfolgt, dass sie sich jetzt selbst wunderte, wie leicht es ihr fiel, wo es um alles oder nichts ging. Irgendwann war wohl immer das erste Mal. Jetzt erst kam ihr die Idee, sich ebenso gründlich wie unauffällig umzusehen und sich zu vergewissern, dass sie niemand dabei beobachtete. Falls ja wäre es jetzt zu spät, dachte sie und ein heißes Kribbeln durchfuhr sie bei dem Gedanken. Aber sie hatte Glück. Niemand schien bemerkt zu haben, dass sie überhaupt wieder ins Büro gekommen war. Perfekt. So würde sie sich verhalten in den anderthalb Tagen, die noch blieben: Unauffällig. Ihre Spezialität.

Die Idee war so simpel und gleichzeitig so untypisch für Ella, dass sie ihr wie ein Geschenk vorkam. Niemand hatte das Gespräch zwischen ihr und der Event-Zicke mit angehört. In Ellas bisheriger Welt hätte das lediglich den schwachen Trost für sie bedeutet, dass zumindest niemand darüber lästern konnte, wie sie sich mal wieder wie ein verhuschtes Mäuschen hatte abfertigen lassen. In ihrer neuen Welt, in die sie jetzt den ersten Schritt setzte, bedeutete das etwas ganz Anderes. Niemand hatte das Gespräch mit angehört, und das bedeutete, es hatte nie stattgefunden.

Sie würde das jetzt eiskalt durchziehen. Sie würde tun, als sei nichts gewesen. Nach einem Blick auf die Zeitanzeige links unten auf ihrem Monitor rechnete sie die verbleibenden Arbeitsstunden bis zu ihrem Urlaubsbeginn aus und kam auf 11. Sie addierte zwei zusätzliche Stunden. Wie sie es gewohnt war, würde sie an den beiden Abenden länger bleiben, aber nicht so viel länger, dass man denken könnte, sie würde vorarbeiten, um alles für einige Tage Abwesenheit vorzubereiten. Sie würde mit niemandem mehr über Urlaub, die Algarve oder die Hochzeit ihrer besten Freundin sprechen. Am nächsten Tag in der Mittagspause würde sie entgegen ihrer Gewohnheit nicht mit selbstgemachten Sandwiches ins Büro kommen, sondern allein in eine asiatische Nudelküche ein paar Straßen weiter gehen. Diese war bei ihren Kollegen viel weniger beliebt als die Pizzeria, der Bäcker oder die durchgestylte Sushi-Bar. Dort musste sie nicht damit rechnen jemandem zu begegnen. Die Event-Tussi würde sich voreilig in ihrem Sieg sonnen und sich nichts dabei denken, wenn Ella am Dienstagabend in den Feierabend entschwand.

Zufrieden machte Ella sich klar, dass der Plan nur einen einzigen Haken hatte: Sie würde am Mittwoch nicht da sein um das dumme Gesicht der Event-Tröte zu sehen, wenn ihr klarwerden würde, dass Ella nicht kam. Leider hatte sie vergessen zu fragen, aber sie war eigentlich ganz sicher, dass die weltbewegende Reise nach Frankreich frühestens für das Wochenende geplant war. Schließlich hatte sie gesagt, Ella solle sich die „nächste Woche“ freihalten. Tja, es würde sich zeigen, ob es wirklich so unmöglich war, Frankreich nach hinten zu verschieben. Schließlich hatte die Event-Zicke ja selbst mit bewundernswertem Scharfsinn festgestellt, dass sie beide nicht gleichzeitig in Urlaub gehen könnten. Sowas nannte man vollendete Tatsachen par excellence.

Den ganzen Montagnachmittag hindurch schwebte Ella wie auf Wolken. Sie hätte sich niemals zugetraut derart ausgekocht zu sein, und sie genoss das Gefühl in vollen Zügen. Nach der Mittagspause kam sie zurück ins Büro. Zwei Kollegen standen am Kopierer und unterhielten sich angeregt. Als Ella durch die Tür trat, wandten sie sich um, und als sie sahen, dass nur sie es war, wandten sie sich ohne Umschweife wieder ihrer Unterhaltung zu. Ella war es recht. Keine Aufmerksamkeit war genau so viel Aufmerksamkeit, wie sie jetzt wollte. Voller Stolz rekapitulierte sie sich selbst im Stillen immer wieder ihren genialen Plan. So vergnügt war sie bei der Arbeit noch nie gewesen.

Das Hochgefühl hielt auch nach Feierabend an. Zuhause angekommen rief sie zuerst Katharina an und versicherte ihr, dass alles glattgehen würde. Ella konnte an Katharinas Stimme hören, dass sie sich über den Anruf etwas wunderte. Warum sollte denn auch nicht alles glattgehen? Schließlich war sie ja nicht eingeweiht und konnte sich also natürlich auch nicht mit Ella über ihren Geniestreich freuen. Ella hätte sie zu gern ins Vertrauen gezogen, aber etwas hielt sie zurück. Ganz plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Katharina vielleicht nicht in den Jubel über den Geistesblitz einstimmen würde. Sicher, wenn Ella erstmal vor Ort wäre und sie sich bis spät in die Nacht über die Neuigkeiten in ihrem Leben austauschen würden, würde diese Geschichte bestimmt den ersten Platz erobern. Ella, in deren Leben in letzter Zeit buchstäblich gar nichts passiert war, würde froh sein so ein Prunkstück von Anekdote zu haben, und Katharina würde begeistert sein. Sie würde ihr sagen, dass sie genau das Richtige getan habe, dass sie selbst es nicht hätte besser machen können. Daran bestand kein Zweifel. Allerdings war Ella nicht so sicher, dass Katharina sie auch jetzt schon bestärken würde, jetzt, wo noch nichts passiert war. Sie kannte Ella länger als die meisten anderen und oft besser als sie sich selbst. Sie würde ahnen, dass Ella – nicht unbedingt der risikofreudigste Mensch der Welt – früher oder später von den ersten Zweifeln heimgesucht werden könnte. Am Ende würde Katharina wohlmöglich sagen, dass sie Ella nicht in Schwierigkeiten bringen wolle und ob sie denn auch wirklich bereit sei, nur für ihre Hochzeit das Risiko einzugehen. Das würde Ella nicht vertragen. Wenn es tatsächlich soweit käme, dass die verwegene Katharina den Gedanken aufwarf, Ella könnte zu weit gehen, dann bliebe ihr ja gar nichts anderes übrig als nochmal in aller Ruhe darüber nachzudenken. Und im Nachdenken war sie Profi.

Jetzt erst merkte Ella, dass ihre Gedanken abgeschweift waren, während Katharina weitergeredet hatte und jetzt offenbar eine Antwort auf eine Frage erwartete, die Ella gar nicht mitbekommen hatte.

„Ella?“

„Äh, ja… ‘tschuldige. Was sagtest du?“

„Bleibt es bei Deiner Ankunftszeit? Ich schicke jemanden los, der am Flughafen auf dich wartet.“

„Ja“, sagte Ella. „Ja, es bleibt bei meiner Ankunftszeit.“

„Okay“, sagte Katharina fröhlich. „Dann ist ja alles klar und wir sehen uns übermorgen. Ich freu‘ mich, dass du kommst.“

Damit war alles gesagt.


Am Dienstagmorgen, keine vierundzwanzig Stunden vor dem Abflug, wachte Ella mit einem ganz anderen Gefühl auf. Die Euphorie des Vorabends hatte sich offenbar bei Nacht und Nebel davongemacht. Den Hausschlüssel hatte die Euphorie fürsorglicherweise den altbekannten Zweifeln übergeben. „Keine Sorge“, hatten diese versichert. „Hier ist wohl kurzzeitig das Chaos ausgebrochen, aber wir bringen das wieder in Ordnung. Wir wissen was zu tun ist.“

Tatsächlich wussten die Zweifel genau, auf welche Knöpfe man bei Ella drücken musste, damit sie wieder Vernunft annahm.

Konnte sie das überhaupt machen?

Wusste sie, was sie tat?

Würde man nicht auf ihrem Handy anrufen, und müsste sie dann nicht alles erklären?

War ihr nicht klar, dass sie nach den zwei Wochen nicht mehr zurückzukommen brauchte?

Würde es das wirklich wert sein?

Ella unternahm nichts, um die Zweifel zu verjagen. Schließlich waren sie nicht irgendwelche unerwünschten Eindringlinge, sondern alte Bekannte. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihnen als mit ihrem Freund. Statt dagegen anzukämpfen, setzte sie sich auf das Bett und ließ sich all die Fragen nochmal durch den Kopf gehen. Dabei fielen ihr noch ganz andere Facetten ein.

Wenn sie abreiste, würde sie schließlich der Event-Zicke das Feld überlassen. Sie und Linda aus dem Personalbüro würden die Chance nutzen und Ella in die Pfanne hauen. Wenn sie selbst dann mit zweiwöchiger Verzögerung versuchte alles richtig zu stellen, würde es sowieso zu spät sein.

Dann würde alles wieder von vorne anfangen. Sie würde Bewerbungen schreiben und täglich davon in Kenntnis gesetzt werden, dass es andere Bewerber gab, die „unseren Vorstellungen noch idealer entgegen kamen“. Sie brauchte dann nicht damit zu rechnen, dass Alex, ihr Freund, sie verstehen oder ihr Mut machen würde. Er war ein Workaholic wie er im Buche stand und würde wohl kaum verstehen, wie man Prioritäten setzen konnte, die nicht zugunsten des Jobs gingen. Sie hatte ihm nie so direkt gesagt, dass sie in ihrem Job immer noch die ewige Aushilfe war. Es war ihr so peinlich, dass sie ihm in glühenden Farben die Projekte schilderte, die Messen und die spannenden Themen, allerdings ihre Handlangertätigkeiten verschwieg. Da hatte sie sich vielleicht was eingebrockt. Jetzt würde sie doch dastehen, wie eine dieser dämlichen Weiber, die eine so vielversprechende Karriere wegwarfen, weil sie unbedingt einen Brautstrauß fangen mussten. Das würde ihre Beziehung nicht überleben.

Glücklicherweise hatte sie noch nichts Unüberlegtes getan – bisher.

Oje! Katharina!

Ella erinnerte sich dunkel, sie am Vorabend noch angerufen zu haben. Übermütig, wie in einer Schnapslaune, hatte sie behauptet, sie würde natürlich wie geplant am Mittwoch ankommen. Was für ein unglaublich blöder Fehler! Wie spät war es jetzt? Viertel nach sieben. Eindeutig zu früh am Morgen, um jemanden anzurufen, der keine festen Arbeitszeiten hatte. Hinzu kam, dass es in Portugal jetzt sogar erst Viertel nach sechs war.

Also half es nichts. Sie musste bis nach Feierabend warten, bevor sie Katharina die schlechte Nachricht überbrachte – keine 12 Stunden vor dem geplanten Abflug, aber was sollte sie tun? Von der Arbeit aus anzurufen kam nicht in Frage. Ella wollte zumindest in Ruhe mit Katharina sprechen können. Sie würde es sicher verstehen, wenn Ella ihr erklärte, was passiert war. Oder vielleicht auch nicht. Egal. Was blieb ihr übrig?

Dabei hatte sie sich das alles doch schon so genau vorgestellt. Sie hatte sich schon selbst dort gesehen. Was hatten Reisen nur an sich, dass man glaubte, man würde an einem anderen Ort ein anderer Mensch sein? Natürlich passierte das nie. Ella war immer noch ihr altes Ich. Wenn sie an diesem Abend wie an jedem Abend ins Bett ginge, ihren Wecker auf sieben Uhr stellte (was genau eine Stunde nach dem Start ihres Flugzeugs war) und sich auf den Weg ins Büro begab, wäre das letzte Wort in der Sache gesprochen. Daran war nichts zu ändern. Sie selbst würde sich nicht ändern.

Sie hätte es wissen müssen, denn es lief immer so. Sie konnte sich noch gut an die letzte Weihnachtszeit erinnern. Vielmehr wusste sie noch, dass es nichts zum Erinnern gegeben hatte. Nachdem sie ihr Leben lang alles an der Vorweihnachtszeit geliebt hatte, hatte sie sie im letzten Jahr einfach verpasst. Die Einführung einer neuen App hatte unmittelbar bevorgestanden und im gesamten Team war Weihnachten daraufhin zum Unwort erklärt worden. Wenn Ella, nachdem sie das nötigste erledigt hatte, spät abends nach Hause gekommen war, war sie zu geschafft gewesen, um überhaupt noch an Weihnachtsmärkte, Lebkuchen, Glühwein, Weihnachtslieder oder Tannengrün zu denken. Erst nach Weihnachten bemerkte sie wieder den Adventskalender, in dem nur das erste Türchen geöffnet war. Da Alex entweder auf Reisen oder auch wahnsinnig beschäftigt war, hatten sie nicht mal einen Weihnachtsbaum gehabt.

Ella atmete tief durch und stellte verblüfft fest, dass sie nicht weinerlich wurde, so wie sonst, wenn sie daran dachte. Es war, als wäre ein ohrenbetäubender Alarm plötzlich verstummt. Jetzt war alles klar. Es konnte so nicht weitergehen.

Aber diesmal war es nicht nur die magische, aber doch jährlich wiederkehrende Weihnachtszeit. Es war auch nicht nur betreutes „Ohmmm“ am Freitagabend. Diesmal war es etwas Unwiederbringliches, Katharinas Hochzeit. Egal, was sie danach tun würde, wie viele Weihnachtsmärkte sie besuchte, wie lange sie im Lotussitz verharren konnte und wie viele Jobs sie noch haben würde; wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie auf immer und ewig auf Katharinas Hochzeit gefehlt haben. Sie konnte nicht schon wieder all ihre Pläne aufgeben, nur damit an ihrem Arbeitsplatz einen weiteren Monat lang alles reibungslos verlief.

Diesmal wollte sie nicht verzichten.

Algarve ist ja fast Karibik

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