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Einleitung

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«Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert», erzählte mir Rita Kappeler. Sie war 22 Jahre alt, als sie sich in eine Frau verliebte. Die heute 73-Jährige empfand diese Liebesnacht wie ein Eintauchen in eine neue Welt. Die Ostschweizerin wusste seitdem, dass sie Frauen liebt, und suchte sich ihren Weg – jenseits der gesellschaftlichen Zwänge und Ideale.

In diesem Buch werden zum ersten Mal überhaupt die Lebensgeschichten von älteren frauenliebenden Frauen in der Schweiz zugänglich gemacht. Elf Frauen über siebzig blicken auf ihr Leben zurück. Es sind Zeugnisse einer bisher nicht wahrgenommenen Generation von Frauen. Während jüngere lesbische Frauen heute Hand in Hand durch die Strassen spazieren, gemeinsam Kinder haben, sich in TV-Serien küssen oder als Politikerinnen offen reden, sieht man die ältere Generation nicht. Oft wurde mir gar die Frage gestellt: Gibt es lesbische Seniorinnen überhaupt? Ja, es gibt sie, und sie haben etwas zu erzählen.

Die Geschichte frauenliebender Frauen in der Schweiz ist kaum erforscht. Man weiss von einer Organisierung lesbischer Frauen in den 1930er-Jahren in Zürich. In den 1940er- und 1950er-Jahren ging sie wieder verloren. In einer Schweiz, die vor bürgerlicher Enge strotzte, die das Ideal einer Kleinfamilie mit der Frau als Ehefrau, Mutter und Hausfrau hochhielt, gab es keinen Platz für eine lesbische Öffentlichkeit. «Ich kämpfte mich alleine durch dieses Dickicht. Frauenliebe gab es nicht. Es gab mich nicht», sagte Karin Rüegg (77), eine der Frauen aus dem Buch, über die Zeit, als ihr ihre Liebe zu Frauen bewusst wurde. Frauenliebende Frauen waren bis weit in die 1980er-Jahre weder gesellschaftlich akzeptiert noch sichtbar.

Die Lebensgeschichten älterer lesbischer Frauen sind vorhanden, sie müssen nur gesehen werden. Mit dieser Überzeugung machte ich mich auf die Suche und kam in Kontakt mit Frauen, die mir eine neue Welt eröffneten. Ich stiess auf Geschichten, die noch nie erzählt wurden. Wie war es, Mitte der 1950er-Jahre als Frau eine Frau zu lieben? Wie gestalteten diese Frauen ihr Leben angesichts der bürgerlichen Ideale, mit denen sie aufgewachsen sind? Wie lernten sie andere Frauen kennen? Welche Widerstände spürten sie – in sich selber und in ihrem Umfeld? Wie viel Öffentlichkeit war möglich? Wie leben sie heute?

Auch wenn meine Anfrage an die Frauen, ob sie mir aus ihrem Leben berichten würden, für sie ungewöhnlich war – bisher hatte sich kaum jemand in dieser Intensität für ihre Biografie interessiert –, waren die meisten schnell für ein Gespräch bereit. Mit einer grossen Offenheit, lebhaft und mit viel Charme erzählten sie ihre Geschichten, die berührend und faszinierend sind. Der Fokus der Gespräche lag aber nicht auf ihrem «lesbischen Leben», sondern auf dem freien Erzählen aus ihrer gesamten Biografie. Ich liess den Gesprächspartnerinnen offen, über was und wie sie reden wollten. Chronologisch, sprunghaft oder assoziativ. Jede in ihrem Tempo, in ihrer Eigenart, in ihrem Dialekt und aus ihrer Erinnerung.

Mit der Zeit entstand die Idee, aus den Gesprächen ein Buch zu machen. Elf Frauen entschieden sich dafür, mitzumachen. Darunter gibt es zwei Paare, Karin und Eva aus dem Aargau und Berti und Elisabeth aus Zürich. Der gemeinsame Lebensabschnitt liest sich aus zwei verschiedenen Perspektiven, denn jede Frau erzählt ihre eigene Geschichte.

Zum Buchprojekt ja zu sagen, war für die Frauen ein schwieriger Entscheid und ein grosser Schritt. Keine hatte selbst die Öffentlichkeit gesucht. Gewisse Frauen entschieden sich für ein Pseudonym, eine Frau wollte ganz anonym bleiben und auch ohne Bild erscheinen. Jede Frau entschied sich aus unterschiedlichen Motiven so, wie es für sie stimmte. Durch die Erzählungen dieser Frauen wird es möglich, mehr über die Lebensrealitäten lesbischer Frauen in der Schweiz zu erfahren – und über die Gesellschaft, in der sie leben. Wo Zeugnisse fehlen, die etwas über die Vergangenheit aussagen, ist es ein Glück, wenn sich Menschen finden, die ihre eigenen Erfahrungen weitergeben können. Diese Frauen sind lebendige Quellen, sie sind die Expertinnen ihres Lebens. Sie zeigen nicht nur ein unerforschtes Stück weiblicher Geschichte, sondern auch ein Stück Schweizer Geschichte. Und das wollte ich sichtbar machen.

In diesem Band kommen Frauen über siebzig zu Wort. Denn sie, anders als die jüngeren Frauen, wurden mehrheitlich ihr ganzes Leben lang nicht als lesbisch gesehen und lebten ihr Leben teils fernab der heutigen Konzepte von lesbischen Beziehungen und lesbischer Selbstwahrnehmung. Sie suchten sich ihren Weg in einer Zeit, als eine Frauenbeziehung noch keine mögliche gesellschaftlich akzeptierte Lebensform war. Diese Frauen haben die rasante gesellschaftliche Entwicklung von der Tabuisierung bis zum heute öffentlichen Zelebrieren des Lesbischseins an lesbisch-schwulen Paraden miterlebt.

Das Nachdenken und Erzählen über die eigene Biografie löste bei einigen Gesprächspartnerinnen einen Reflexionsprozess aus. Es war eine intensive Auseinandersetzung, die schmerzhafte und erlösende Momente zur Folge hatte. Manche Frauen schilderten mir Dinge, die sie bislang niemandem anvertraut hatten. Sie sprachen von schwierigen Situationen in ihrem Leben, von Momenten des Scheiterns oder grösster Unsicherheit. Sie teilten aber auch Augenblicke des Glücks und der Hoffnung mit. Es ist ein Geschenk, dass ich diese Lebensgeschichten hören durfte und einige Frauen ein Stück auf ihrem Weg begleiten kann. Meine Achtung und mein Respekt davor, wie sie ihr Leben leben, ist gross.

Ich entdeckte in den Frauen Vorbilder in vielerlei Hinsicht: für das Leben von Frauenbeziehungen oder für die Gestaltung des Lebensabends als lesbische Frau. Aber auch für das Einstehen für seine Wünsche, für Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Diese Begegnungen stellen neue Bezüge zu meiner eigenen Zukunft her und eröffnen gleichzeitig den Blick in die Vergangenheit. Zusätzlich vermittelt mir der Austausch über Generationen hinweg auch eine neue Ebene in der Gegenwart.

Die Biografien der elf Frauen sind so unterschiedlich wie die Frauen selbst. Doch was sie alle verbindet, ist ihre Liebe zu Frauen. Wie diese Liebe bemerkt wurde, wie sie gelebt wurde und wird und wie die Frauen heute darüber sprechen, ist sehr verschieden. Jede dieser Frauen lebte und liebte innerhalb eines Handlungsspielraums, der gesellschaftlich vorgegeben war. Die Möglichkeiten, diesen Spielraum auszuloten, nutzten sie ganz individuell. Manche Frauen hatten mehr, andere weniger Freiheiten in der Gestaltung ihres Lebens. Unter den porträtierten Frauen sind solche, die geheiratet haben und Kinder bekamen, sich auf einmal in eine Frau verliebten und sich von ihrem Ehemann scheiden liessen. Frauen, die unehelich schwanger wurden, sich aber nicht an einen Mann gebunden haben. Dann wiederum gibt es Frauen, die schon als Mädchen wussten, dass sie nie einen Mann heiraten wollten. Frauen, die eine lange Beziehung zu einer Frau führen und andere, die alleine leben. Oder eine Frau, die sich als lesbisch bezeichnet, heute aber mit einem Mann verheiratet ist. Es sind Feministinnen, die aktiv an der Frauenbewegung teilnahmen, und andere, die nach einem Besuch im «Milieu» nie mehr dorthin zurückkehrten. Mit der Jazzmusikerin Irène Schweizer ist auch eine Person aus der Öffentlichkeit porträtiert.

Es kommen Frauen zu Wort, die sich als lesbisch bezeichnen, und andere, die diesen Begriff von sich weisen. Der Begriff «lesbisch» wurde erst mit der Lesbenbewegung in den 1970er-Jahren als positive Selbstbezeichnung genutzt – aber dann meistens als Kampfbegriff. Weil sich nicht alle Frauen damit identifizieren können, wählte ich bewusst die Bezeichnung «frauenliebende Frauen» im Untertitel dieser Publikation.

Bei der Auswahl der Gesprächspartnerinnen folgte ich weder soziologischen noch geografischen Kriterien. Dennoch sind Frauen aus allen Schichten, verschiedenen Kantonen der Deutschschweiz und mit unterschiedlichen familiären Hintergründen zusammengekommen. Auffallend ist, dass die meisten der Frauen heute in einer Stadt leben – zumeist in Zürich. Frappant ist zudem, dass fünf der elf Frauen den Beruf Lehrerin gewählt haben. Einen Beruf, der angesehen war, eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit liess und der genug Geld zum Leben einbrachte, ohne dass sie von einem Mann abhängig wurden.

Als Basis für die Gesprächsführung diente mir die in der Geschichtswissenschaft angewandte Methode der Oral History. Die auf Schweizerdeutsch geführten mehrstündigen Gespräche wurden ins Hochdeutsche übertragen. Einige schweizerdeutsche Ausdrücke wurden beibehalten und sind im Glossar erklärt. Mein Ziel war, dass der individuelle Sprach- und Erzählstil spürbar bleibt und der Text gleichzeitig klar und verständlich ist. Das Erzählte mit der nötigen Distanz sowie der nötigen Nähe niederzuschreiben, war eine grosse und spannende Herausforderung. Mit jeder Frau besprach ich die Texte, strich gewisse Aussagen und ergänzte andere. Es war eine gute und wichtige gemeinsame Arbeit am Text.

Der rigiden Gesellschaftsstruktur zum Trotz war den Frauen gewissermassen im Schatten des Patriachats einiges möglich. Das System der Tabuisierung nicht heterosexueller Lebensformen liess Freiräume entstehen, nach dem Motto: «Was nicht sein darf, ist nicht.» Zwei Frauen, die sich nahe sind, müssen also Schwestern oder gute Freundinnen sein, etwas anderes konnte gar nicht gedacht werden. Je sichtbarer die lesbische Lebensweise war, desto eher wurde sie auch verfolgt, das gilt bis heute in den meisten Ländern. Auch in der Schweiz haben junge lesbische Frauen, die in konservativen oder stark religiösen Kontexten aufgewachsen sind, bis heute grösste Mühe, sich selber Gefühle für Frauen einzugestehen, geschweige denn sich in der Familie zu outen.

Dieses Buch soll einen Beitrag leisten, die kulturell geprägten Bilder von Frauen allgemein wie auch von lesbischen Frauen zu entlarven. Gleichzeitig fördert die Sichtbarkeit lesbischer Seniorinnen das Bewusstsein für die Existenz von älteren Frauen im nicht heterosexuellen Kontext. Ihre Geschichten dehnen die starren patriarchalen Machtstrukturen aus und stellen sie in Frage. Dadurch ergibt sich ein erweitertes Verständnis für die Vielfalt eines Frauenlebens. Mit den Erzählungen werden zudem die mehr oder weniger subtilen Formen von erlebter Diskriminierung, welche die Frauen ihr Leben lang aushalten mussten, sichtbar wie auch die gesellschaftlichen Zwänge, denen sie ausgesetzt waren, und die Strategien, die sie angewendet haben, um ihr Leben zu gestalten. Zusätzlich wird eine neue Sicht auf Alterungsprozesse und alternative Bedürfnisse im Alter gewonnen. Das Buch soll aber ebenso jungen wie alten Menschen Mut machen, einen selbstbestimmten Weg zu gehen und den eigenen Träumen und Wünschen zu folgen.

Und ganz zum Schluss noch: In diesem Band fehlen die Geschichten von älteren frauenliebenden Frauen, die heute abhängig und pflegebedürftig sind, ein isoliertes oder verstecktes Leben führen und aus Angst vor Diskriminierung ein Leben lang nicht über ihre Liebe oder ihr Begehren sprechen konnten. Das hinterlässt eine grosse Lücke. In der Schweiz leben mehr als 500 000 Frauen, die über siebzig Jahre alt sind, davon viele frauenliebende Frauen. Das sind eine Menge Geschichten, die noch nicht erzählt wurden … Wer mir ihre Geschichte erzählen möchte, melde sich bei der Autorin unter corinnerufli@bluewin.ch oder Corinne Rufli, Stichwort: Wie verzaubert, Verlag Hier und Jetzt, Langacker 16, Postfach, 5405 Baden (ab Juli 2015: Kronengasse 20, 5400 Baden). Jede Anfrage wird mit grösster Diskretion behandelt.

Corinne Rufli

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert

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