Читать книгу Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli - Страница 8

«Meine Liebe zu Karin machte mich frei.» Eva Schweizer, 74, Aargau

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Eva Schweizer (1941) ist geschieden, Mutter zweier Adoptivkinder und sechsfache Grossmutter. Sie war als Lehrerin, Heilpädagogin und in der Gewaltprävention tätig. Seit 35 Jahren lebt sie glücklich mit Karin zusammen. Nur mühsam hat Eva sich von ihrem engen pietistischen Herkunftsmilieu emanzipiert und zu ihrer Identität gefunden.

Hans verliebte sich sofort in mich. Ich hatte keine vergleichbaren Gefühle für ihn. Wir lernten uns in einem Blaukreuz-Ferienlager kennen. Ich war 17 und er 15. Hans stammt aus einer Chrischona-Heilsarmee-Familie und war felsenfest davon überzeugt, dass wir von Gott für einander bestimmt seien. Er bearbeitete mich so lange, bis auch ich daran glaubte. Schliesslich hatte ich bereits als Zwölfjährige das Versprechen vor Gott abgelegt, in die Mission zu gehen, und er wollte in die Indianermission.

Hans war offensichtlich davon ausgegangen, dass ich vor ihm noch keinen Jungen geküsst hatte. Als er später erfuhr, dass das nicht stimmte, fiel er aus allen Wolken. Mein Eingeständnis stürzte ihn in eine Glaubenskrise. Er haderte mit seinem Gott, der meine Reinheit für ihn nicht bewahrt hatte, und trat mit rigoroser Konsequenz aus der Bibelschule aus. Er ging ins Ausland, um neue Perspektiven für sich zu entwickeln. Später begann er als kritischer Student ein Theologiestudium.

Nach seinem Auslandaufenthalt fühlte ich mich von Hans bedrängt und gequält durch ständige unterschwellige Vorwürfe. Es gab in unserer Beziehung keine Leichtigkeit und keine Fröhlichkeit mehr. Ich wartete vergeblich darauf, dass Gott, wenn er uns schon für einander bestimmt hatte, gefälligst auch noch die Liebe für unsere Beziehung nachliefere. Ich redete mir hartnäckig ein, dass es doch noch gut kommen werde. Als ich dennoch an einen Punkt kam, an dem ich die Beziehung beenden wollte, überredete mich Hans zum Bleiben. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich meine Trennungsabsicht meinen Eltern beibringen könnte. Sie schätzten Hans sehr, besonders in seiner Eigenschaft als angehender Pfarrer.

Zwei Jahre dauerte unsere Beziehung bis zur Verlobung, vier Jahre bis zur Hochzeit. Ich konnte mich aus dieser Schlinge nicht mehr herauswinden. Ich entwickelte Hautallergien und Heuschnupfen. Ich kaute Fingernägel bis aufs Blut. Am Hochzeitstag musste ich einen Kamillendampf machen, weil ich mit völlig verquollenen Augen erwacht war. Ich schluchzte am Hochzeitsfest, als meine Brüder ihre Schnitzelbank sangen. Sehenden Auges ging ich in die Falle, und diese schnappte nun zu. Ich hatte in meiner Naivität «Ja» gesagt. Ich war 25, als ich heiratete.

Der eheliche Vollzug fand statt – von meiner Seite widerwillig und unter Schmerzen. Erst Jahre später erinnerte ich mich wieder, dass meine Mutter manchmal gesagt hatte: «Sie muss dann noch früh genug.» Jetzt verstand ich die Bedeutung dieser Worte: Sie muss früh genug eine Frau werden, einen Mann glücklich machen, Kinder gebären …

Hans und mich verband zwar eine gute Kameradschaft und wir teilten ähnliche Wertvorstellungen, doch das genügte mir nicht. Er war eher der Intellektuelle, der stundenlang mit seinen Theologenfreunden über Gott und über Weltverbesserungsideen reden konnte, während ich als Lehrerin täglich konkret mit herausfordernden Aufgaben konfrontiert war. Ich absolvierte in dieser Zeit berufsbegleitend ein Heilpädagogikstudium und unterrichtete an einer anspruchsvollen Sonderschule.

Als ich 31 Jahre alt war, erfüllte sich Hans seinen Traum, der zu meinem Albtraum werden sollte: Er wollte nur mit mir zusammen den Atlantik in seinem Segelboot überqueren und anschliessend in Südamerika eine Stelle als Pfarrer antreten. Bereits auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln wurde ich schrecklich seekrank, und die Reise wurde für mich unerträglich. Mitten auf dem Atlantik fiel dann auch noch die Selbststeuerungsanlage unserer Yacht aus. Eine Unterlagsscheibe fehlte, und mein Ehering wurde zu ihrem Ersatz. So mussten wir wenigstens nicht pausenlos Wache halten. Gewaltige Stürme fegten später durch die Karibik. Ich litt unter Todesängsten und dachte, das letzte Stündchen habe uns geschlagen. Ich wollte nur noch sterben. Wir kamen beide völlig geschwächt in Kolumbien an. Im Hafen erwartete uns ein Telegramm mit der Nachricht, dass mein Lieblingsbruder sich umgebracht hatte. Mit seinem Tod ging ein Stück meiner Welt unter.

Ich machte mir schwere Vorwürfe, dass ich meinen Bruder vor diesem Schritt nicht hatte bewahren können. Er hatte seine wahren Gefühle hinter einer heiteren Fassade verborgen, eine Tarnkappe getragen, so wie ich sie trug, so wie andere Mitglieder der Familie dies weiterhin taten. Das hatte in der Folge furchtbare Konsequenzen: Mein Grossvater beging Selbstmord, auch der Bruder meiner Mutter und einer ihrer Cousins brachten sich um. Die Umstände dieser Todesfälle wurden aber unter dem Deckel gehalten, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

In Kolumbien fand Hans eine Stelle als Vikar in einer Deutschschweizer Gemeinde. Mein Wunsch war es, Kinder zu haben, obwohl wir keine eigenen bekommen konnten. Ich hoffte, dass sie meinem Leben wieder Sinn geben würden. Ich musste mich entscheiden, entweder an der Deutschen Schule zu unterrichten oder mich um eine Adoption zu bemühen. Ich wählte die Adoption.

1973, sechs Tage nach ihrer Geburt konnte ich Susanne aus dem Kinderheim abholen. Im ersten Jahr war ich eine überglückliche Babymutter. Ich hatte eine unsägliche Freude an dem Mädchen und war selig. Noch ahnte ich nicht, wie anstrengend dieses kleine Persönchen zuweilen sein konnte. Susanne entwickelte sich zu einem äusserst temperamentvollen Kind.

Nach zwei Jahren kehrten wir zurück in die Schweiz, und Hans trat eine Stelle als Pfarrer im Aargau an. Wenig später adoptierten wir Patrick, der ebenfalls aus Kolumbien stammte. Susanne war furchtbar eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder, und ich kam oft an meine Grenzen. Ich arbeitete in dieser Zeit nicht mehr als Lehrerin. Trotz der Kinder wurde ich immer unzufriedener mit meiner Familiensituation.

Am 7. 7. 77 kamen meine Eltern in einem Gewitter ums Leben, als im Berner Oberland ein kleiner Bach die Strasse, auf der sie gerade unterwegs waren, blitzartig in einen wilden Strom verwandelte und ihr Auto mitriss. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in unkritischer Selbstverständlichkeit meine traditionelle Frauenrolle gelebt. Ich hatte versucht, alle um mich herum glücklich zu machen, meine Eltern, meinen Mann und meine Kinder. Doch der plötzliche Tod der Eltern stellte mein ganzes Werte- und Glaubenssystem völlig auf den Kopf. Ich haderte mit Gott. Hans, der Seelsorger, konnte mit meiner Fassungslosigkeit und meiner abgrundtiefen Wut und Trauer nicht umgehen. Ich fühlte mich sehr allein.

Ich verfiel in meinem Innersten in Depressionen. Dennoch hielt ich meine heitere Fassade nach aussen aufrecht. Im privaten Alltag aber hatte ich kaum mehr die nötige Kraft und Geduld für meine Kinder. Ich fühlte mich Susanne gegenüber ständig als Versagerin. Ich, die angesehene Heilpädagogin, kam mit den eigenen Kindern oft nicht zurecht. Ich, die Fachfrau, die gelernt hatte, im Beruf ihre Wut zu beherrschen, war im häuslichen Kreis sehr oft ärgerlich und unzufrieden. Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Schliesslich beanspruchte ich psychiatrische Hilfe. Ich hatte Angst, völlig den Boden unter den Füssen zu verlieren.

Dank der ärztlichen Unterstützung und dank der Psychopharmaka, die ich erhielt, fühlte ich mich 1979 wieder imstande, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich begann im Alter von knapp vierzig Jahren eine Ausbildung zur Erwachsenenkursleiterin. Dieser Schritt brachte die Wende in meinem Leben, da er mich mit meiner späteren Lebenspartnerin zusammenführte. Karin faszinierte mich sogleich. Mir gefielen ihr selbstbewusstes Auftreten und die Offenheit, mit der sie ihre Liebe zu Frauen bekannte. Dass jemand zu seinen Gefühlen stehen kann, war eine ganz neue Erfahrung für mich. Wenn Karin wütend war, zeigte sie ihre Wut, und wenn sie traurig war, zeigte sie ihre Trauer. Im weiteren Verlauf der Ausbildung öffnete sich mir eine neue und attraktive Welt. Ich stand im Austausch mit vielen Frauen, die eine bessere Selbstwahrnehmung und einen freieren Zugang zu ihren Gefühlen hatten als ich, und ich bewunderte sie dafür.

Schliesslich kam der Tag, an dem mir Karin die Frage stellte, die mein Leben verändern sollte: «Was steckt eigentlich hinter deinem immerwährenden heiteren Lächeln?» Diese Frage und die Erkenntnis, dass diese Frau meine Fassade durchschaut hatte, liessen meine seelischen Dämme brechen. Meine ganze Verzweiflung, meine unterdrückte Wut und meine fassungslose Trauer hatten bei Karin Platz. Ich fand bei ihr mit all meinen inneren Konflikten und mit all meinen ungeordneten Gefühlen Gehör und Verständnis.

Es ist mein Glück, dass ich heute mit einer Frau und gerade mit dieser Frau zusammenleben darf. Meine Liebe zu Karin machte mich frei, endlich konnte ich die Frau sein, die ich bin. Die Frau, die in Ordnung ist, so wie sie ist, die Frau, die liebesfähig ist. Ich hatte mir vorher jegliche Liebesfähigkeit abgesprochen, da ich es nicht geschafft hatte, einen in den Augen vieler Menschen idealen Mann zu lieben. Nicht lieben zu können, war mein tiefster Schmerz – und heute darf ich solche Freude erleben! Doch bis dahin war es ein langer Weg.

Meine Kindheit im Baselland war geprägt von pietistischen Strömungen. Als ich zwölf Jahre alt war, schwappte eine von Billy Graham angeführte Evangelisationswelle von Amerika her über ganz Europa. Da mein Urgrossvater väterlicherseits seinen Hof wegen seiner Trunksucht verloren hatte, waren meine Eltern aus Überzeugung beim Blauen Kreuz und mit ihnen das halbe Dorf.

Meine Geschwister und ich bekehrten uns gemeinsam in der Dorfkapelle und versprachen, unser Leben Gott zu widmen. Ich war im Bibellesebund aktiv. Dieser Bund organisierte auch sogenannte Venner-Ferienlager für Jugendliche, wo es ebenfalls zu Bekehrungen und zu Sündenbekenntnissen kam. Noch lange danach rechnete ich mit einem strafenden Gott, der alle Verfehlungensieht und ahndet. Mir steht noch ein Bild vor Augen vom Jüngsten Gericht mit dem schmalen Pfad zum Himmel und dem breiten Weg der Sünder zur Hölle. Dieses Bild hatte grossen Einfluss auf mich. Ich lebte ständig mit Schuldgefühlen, und nach der Bekehrung suchten mich nachts jahrelang apokalyptische Träume heim, weil ich mich ständig, nach jeder kleinen Lüge und nach harmlosesten Verfehlungen, als Sünderin fühlte.


Eva, 16, Konfirmation

Mein Vater stammte aus einer Erfinderfamilie. Schon der Grossvater hatte seinerzeit Wasser über den Berg in unser kleines Dorf gebracht. Kein Mensch hatte geglaubt, dass das funktionieren könnte. Er schaffte es auch, Elektrizität in das zuvor recht verkommene Nest zu bringen. Danach entwickelte er kleine Elektromotoren für Posamenter-Webstühle. Die Seidenbandindustrie war damals eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Menschen in der Gegend. Mein Vater seinerseits erfand im Jahr 1950 einen Kombiherd, der gleichzeitig Holz- und Elektroherd war. Er belieferte in der ganzen Schweiz und im nahen Ausland Hotelküchen und Bauerngüter. Vater wurde Fabrikbesitzer. Daneben war er Schulpflegepräsident und Feuerwehrkommandant. Man kann sagen, dass meine Eltern im Dorf den Ton angegeben haben.

Meine Mutter amtete als Kirchenpflege- und Frauenvereinspräsidentin. Sie stammte aus einer Lehrerfamilie. Ihr Vater nahm mich schon als kleines Mädchen mit in sein Schulzimmer. Bereits als Fünfjährige durfte ich mitmachen, wenn mein Grossvater unterrichtete. Von Anfang an war für mich sonnenklar, dass ich Lehrerin werden würde. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich endlich zur Schule gehen durfte. Von der ersten bis zur fünften Klasse war ich die Hilfslehrerin meines Klassenlehrers. Ich übte mit den schwächeren Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen. Wenn der Unterricht mich langweilte, las ich unter dem Pult heimlich ein Buch.

Erst viel später wurde mir klar, dass mich der Grossvater, den ich so sehr liebte, sexuell ausgebeutet hat. Unterdessen glaube ich zu verstehen, warum ich bis heute auf Zuwendung häufig misstrauisch und zurückweisend reagiere.

Ich habe vier jüngere Brüder. Sie kamen im Jahresabstand zur Welt, was eine grosse Belastung für meine Mutter war. Mich ärgerte zutiefst, dass es jedes Mal wieder ein Bruder war und nie eine Schwester. Als ich dreieinhalb Jahre alt war und mein dritter Bruder zur Welt kam, wusste man lange nicht, ob meine Mutter sich von der Geburt wieder erholen würde. Sie war ein halbes Jahr lang gelähmt, musste wochenlang im Spital bleiben und auch nachher daheim im Bett liegen. Mich brachte man in dieser Zeit bei den Grosseltern unter. Dort müssen Grossvaters Übergriffe geschehen sein. Kaum sass ich jeweils im Auto, um wieder zu den Grosseltern zu fahren, schnürte es mir den Hals zu.

Damals war ich auch einige Wochen bei meiner Gotte in Basel in den Ferien. Ende 1944, Anfang 1945 sah ich die Kriegsfeuer im Elsass, was mir furchtbare Angst machte. Diese Ängste verstärkten sich noch durch die Ängste meines Vaters vor dem Krieg. Er war nicht militärtauglich, er war eben ein sensibler Erfinder, weder gross noch kräftig. Er zeigte uns Kindern Bombenlöcher von versehentlich im Baselbiet abgeworfenen Bomben.

Mein Vater war ein Patron alter Schule. Er beschäftigte immer auch Behinderte im grösser werdenden Betrieb. Meine Mutter war die Sozialarbeiterin des Dorfes und kümmerte sich auch um randständige Familien. Sie war trotz ihren fünf Kindern keineswegs auf ihre Mutterrolle beschränkt und lebte mir ihre breite Kompetenz und ihre Tüchtigkeit auch vor. Sie erledigte meist in der Nacht noch die Buchhaltung für das florierende Geschäft mit den Kombiherden, das sie mit meinem Vater führte, und nahm eine wesentliche Position in der Geschäftsleitung ein. Alles, was mit Planungsarbeit zu tun hatte, fiel in ihr Ressort. Das machte sie stolz und selbstbewusst, belastete sie aber auch.

Als Älteste übernahm ich schon früh freiwillig viel Verantwortung. Ich wollte immer ein Vorbild für meine Brüder sein. Es war mir wichtig, den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen. In der Folge setzte auch ich mich mein Leben lang für sozial benachteiligte Menschen ein.

Die Eltern gaben sich Mühe, uns Kinder gleich zu behandeln. Ich musste als Mädchen nicht besonders viel Haushaltsarbeit übernehmen. Meine Mutter sagte im Gegenteil immer wieder: «Sie muss dann noch früh genug.» Wie ein Damoklesschwert hingen diese Worte jahrzehntelang über mir: Mein Frau-Sein wurde mir durch sie zum belastenden Muss. Meine Mutter hat erst mit 28 Jahren geheiratet. Vorher teilte sie ein unbeschwertes Leben mit ihrer Schwester. Mit ihr war sie viel gereist, was damals noch ungewöhnlich war. Gerne wäre meine Mutter Lehrerin geworden. Sie musste aber eine kaufmännische Ausbildung machen, weil ihren Eltern klar war, dass sie einmal heiraten würde. Ich spürte immer mehr, wie unzufrieden meine Mutter mit ihrem Leben war, besonders mit ihrer Ehe, in der sie allein zuständig war für alle Familien- und Erziehungsaufgaben.

Uns Kindern wurde sehr früh vermittelt, dass wir mehr Glück als alle anderen Kinder um uns herum hätten, weil es uns eben besonders gut gehe. Darüber hinaus gab es nichts zu wollen. Mir und meinen Brüdern wurde so das Wünschen gründlich abgewöhnt. Ich musste vierzig und älter werden, bis ich lernte, eigene Wünsche ernst zu nehmen. Erschwerend war auch, dass mir die Mutter viele Aufgaben aus der Hand nahm und diese selbst erledigte. Dadurch war es mir auch verwehrt, aus Fehlern zu lernen. Heute sehe ich in diesem Umstand eine der Erklärungen für meine häufigen Handlungsblockaden. Schritt für Schritt lernte ich später, zu mir zu stehen, zu handeln und zu ertragen, dass es zum Leben gehört, Fehler zu machen. Heute kann ich Fehler als wichtige Lernchancen akzeptieren.

Unsere Eltern waren auf der einen Seite unglaublich hilfsbereit und engagiert in der reformierten Kirche sowie im Blauen Kreuz. Auf der anderen Seite praktizierten sie in der Familie rigorose Erziehungsmethoden. Ich erlebte, wie hart mein ältester Bruder bestraft wurde, wenn er nicht gehorchte. Mein Grossvater, Lehrer und Pädagoge, sagte meinen Eltern, dass der Wille des Bürschleins gebrochen werden müsse – und zwar von Anfang an, sonst hätten sie später keine Chance mehr, sich durchzusetzen.

Durch solche Erfahrungen kam ich zum Schluss, dass ich meine Wut und meine Gefühle herunterschlucken und auf die Zähne beissen müsse, um nicht anzuecken.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass in einem meiner Lieblingsmärchen die Tarnkappe, mit der ein Büblein andere Menschen überlisten konnte, eine entscheidende Rolle spielte. Ich versteckte mein wahres Gesicht sehr lange unter einer imaginären Tarnkappe.

Mit sechzehn machte ich die Aufnahmeprüfung für das Evangelische Lehrerseminar Unterstrass in Zürich. Dafür setzte sich meine Mutter ein. Sie stellte sich gegen die Meinung der Verwandtschaft, die fand, dass ich ein Mädchen sei, das später heiraten werde, während andererseits noch vier Buben da seien, die studieren sollten. Ich bin meiner Mutter für ihre Unterstützung bis heute unendlich dankbar. Ich trat unter Direktor Konrad Zeller, einem strenggläubigen Calvinisten und Pietisten, in das Seminar ein, das für Mädchen noch nicht lange offenstand. Viele der Seminaristinnen und Seminaristen liessen sich durch den strengen Verhaltenskodex, der gelehrt wurde, unter Druck setzen. Insbesondere Erotik und Sexualität waren stark tabuisiert. Wer sich verliebte, musste sich im Büro des Direktors unter Umständen peinlichen Befragungen und Ermahnungen aussetzen und Verhaltensweisen, die als sündig galten, konnten zum Ausschluss aus der Schule führen, wenn jemand erwischt wurde.

Ich war sehr lange diesem calvinistischen Denken verpflichtet. Vorehelicher Sex war für mich undenkbar. Mit Rico, einem Mitschüler, war ich etwa ein halbes Jahr lang eng befreundet. Aber zu mehr als zu Küssen und Spaziergängen Hand in Hand kam es zwischen uns nicht. Die Grenzen waren für mich ganz klar: Hätte er mehr von mir gewollt, hätte ich mich sofort von ihm getrennt.

Im Verlauf der Ausbildung fand eine Projektwoche in Zoologie unter der Leitung unseres Biologielehrers statt. Er trug die gleiche Art Schnauz wie mein Grossvater. Dadurch müssen unbewusste Erinnerungen an die sexuelle Ausbeutung in mir aufgekommen sein. Denn kurz bevor diese Intensivwoche begann, bekam ich plötzlich vierzig Grad Fieber. Man brachte mich ins Krankenzimmer, wo ich halluzinierte und Lähmungserscheinungen hatte. Der Kurs fand ohne mich statt. Wenn ich jetzt über dieses Erlebnis spreche, fühle ich mich erneut wie gelähmt. Das widerfuhr mir schon lange nicht mehr: Eine Mattscheibe, Erinnerungsfetzen, die hochkommen und mir den Hals zuschnüren …

Diese lange zurückliegenden Übergriffe waren mir damals noch nicht bewusst. Deshalb verstand ich auch nicht, warum dieser Lehrer so heftige Reaktionen in mir auslöste. Den Zusammenhang begriff ich erst, als ich mich viel später, mit über vierzig Jahren, in einer Therapie mit dem Thema auseinandersetzen konnte.


Eva, 33, mit ihrer Tochter

Nicht nur die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit sind teilweise schmerzhaft, sondern auch jene an meine Verlobungszeit und an die 15-jährige Ehe. Immer wieder habe ich mich krampfhaft angepasst. Ich glaubte, die Erwartungen der Aussenwelt und besonders diejenigen der Eltern erfüllen zu müssen. Doch wo blieb ich mit meinen eigenen Bedürfnissen und Träumen?

Während der Ausbildung zur Erwachsenen-Kursleiterin lernte ich nicht nur Karin kennen, ich lernte vor allem auch mich neu kennen. Endlich spürte ich wieder Energie und Lust, etwas anzupacken. Ich fing an, an mich zu glauben, lachte viel mit den inspirierenden Frauen meiner Ausbildungsgruppe und fühlte mich wahrgenommen und angenommen. Ich nahm meine Arbeit als Heilpädagogin wieder auf und konnte in eine Praxisgemeinschaft mit Psychologinnen eintreten. Die Arbeit ausser Haus und der Austausch mit den Kolleginnen taten mir gut.

Der Zufall wollte es, dass Karin und ich in einer Ausbildungswoche im gleichen Zimmer untergebracht waren. Ich fühlte mich ausgesprochen wohl in ihrer Gegenwart. Niemand kannte mich inzwischen besser als sie. Am Ende der Woche sassen wir beide ein letztes Mal auf dem Bett im gemeinsamen Zimmer. Karin gab mir einen sanften Kuss auf den Mund. Ich war elektrisiert und verzaubert. Aber es machte mir auch Angst. Daheim schrieb ich umgehend einen Brief an Karin, in dem ich versuchte, mich von ihr und dem Geschehenen zu distanzieren. Karin gab vor, meine Bedenken und Ängste zu verstehen, war ich doch verheiratet, und sie sei in einer langjährigen Frauenbeziehung gebunden.

Vordergründig glaubten wir beide unseren Versicherungen. Dennoch telefonierten wir häufig, und ich fuhr fortan mit Karin in ihrem roten Honda Cabriolet an die Wochenendkurse. Immer mehr widerstrebte es mir nach den Wochenenden, daheim wieder auszusteigen, und ich mochte auch gar nicht mehr erzählen, wie gut es mir ergangen war.

Dann kam der unwirkliche und unvergessliche Abend im Januar 1981, zwei Monate vor meinem vierzigsten Geburtstag. Karin sass mir in meiner Wohnung gegenüber. Hans war in Frankreich und machte die neue Segelyacht bereit für seinen jüngsten Traum: eine Weltumsegelung mit Frau und Kindern. Ich hatte Karin gebeten, vorbeizukommen statt nur zu telefonieren. Sie kam, hatte aber keine Lust zu reden. Sie wollte einfach da sein, bei mir. Beim Abschied umarmte und küsste mich Karin – im selben Moment ging im ganzen Städtchen das Licht aus, und wir sassen beim Schein einer Kerze im Dunkeln. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen, dass eine Katze sich ins Transformatorenhäuschen verirrt und so den Stromausfall verursacht hatte …

In der Anfangszeit mit Karin war ich wieder froh um meine Tarnkappe, denn unsere Beziehung musste zunächst im Verborgenen stattfinden. Ich spürte aber deutlich, dass ich die Geheimhaltung nicht lange ertragen würde. Nachdem ich Karin körperlich nähergekommen war, sass ich an einem Sonntag in einer Predigt in der vordersten Kirchenbank. Während des Abendmahls fiel plötzlich ein Sonnenstrahl durch das Kirchenfenster genau auf mich. Für mich gab es keinen Zweifel mehr: Meine Liebe zu Karin, die ich als so überwältigend erlebte, konnte nur ein Geschenk Gottes sein. Kurz danach legte ich Hans gegenüber alles offen. Glücklicherweise hatte er sich gleichzeitig in eine meiner Freundinnen verliebt, wenn auch nur platonisch.

Es kam die schönste Zeit meines bisherigen Lebens: Ich strahlte vor Glück und wollte und konnte das nicht mehr verstecken. Karin und ich liefen in gelben Stiefeln durch den Regen – an der Hand die Kinder, die eine ganz neue Mutter kennenlernten. Ich erlebte mit Karin zum ersten Mal auch sexuelle Erfüllung.

In diese Zeit meiner Rückkehr auf seelisches Festland fielen die letzten Vorbereitungen für die kühne Unternehmung von Hans, die Welt zu umsegeln, nur mit Frau und Kindern in einer kleinen Yacht auf hoher See. Ich, die mit Karin endlich Freiheit zu entdecken begann, dachte in panischer Angst an diese Reise, an das Eingesperrtsein auf dem engen Boot, zusammen mit dem Mann, den ich zwar schätzte, jedoch nicht liebte. Die Kinder, die bald aus ihrem Beziehungsnetz herausgerissen werden sollten, waren inzwischen acht und sechs Jahre alt. Der Gedanke, ihnen auf mich allein gestellt während zwei oder drei Jahren Lehrerin und Mutter sein zu müssen, war für mich furchtbar, insbesondere auch weil ich wusste, dass ich auf dem unablässig schwankenden Boot schwer seekrank werden würde.

Während der letzten Vorbereitungsmonate nahm ich innert kürzester Zeit elf Kilogramm ab. Hans belastete mich mit einer eigenartigen Geschichte von einem Mann, der vom Bürgenstock heruntergesprungen sei, weil sich seine Frau von ihm trennen wollte. Ich litt unter Todesängsten und stand unter einem unerträglichen Druck. Ich fürchtete, dass ich auf dem Schiff in Verzweiflung über Bord gehen oder verrückt werden könnte. Karin war damals wie ein Anker für mich. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass Verrücktwerden nicht Schicksal, sondern eine Wahl sei, und sie versicherte mir, dass ich diesen Weg nicht wählen werde. Da hatte ich einen wichtigen Traum: Ich stand an einem Scheideweg in einer eiskalten Winterlandschaft. Alles war gefroren und schneebedeckt. Auf der einen Seite sah ich meinen toten Bruder Heiri, der wollte, dass ich mit ihm gehe. Auf der anderen Seite stand Anna, ein Nachbarskind, in einem farbigen Mäntelchen. Sie wünschte, dass ich sie heimbegleite, da sie den Heimweg nicht kenne. Ich entschied mich, das Mädchen heimzubegleiten. Ich bin überzeugt davon, dass diese Entscheidung im Traum für mich lebensrettend war.


Eva, 45

Der Plan zur Weltumrundung nahm konkrete Form an. Hans beabsichtigte, mit den Kindern vorerst bis Alicante zu segeln. Ich sollte nachreisen und bis Madeira mitsegeln. Ein Bekannter mit Hochseeerfahrung wollte Hans und die Kinder über den Atlantik begleiten, während ich im Sinn hatte, von Madeira aus in die Schweiz zurückzukehren. Das hatte ich mir so ausbedungen. Geplant war, dass ich später in die Karibik fliegen, die Kinder besuchen und sie je nach ihrem Befinden eventuell sogar in die Schweiz zurückholen werde. Doch alles kam anders.

Zwischen Gibraltar und Madeira wurde ich wieder heftig seekrank. In der anschliessenden Nacht wendete Hans das Boot. Er hatte eingesehen, dass die geplante Segelreise meine Kräfte übersteigen würde. Er schlug vor, in der Schweiz gemeinsam einen Neuanfang zu wagen. Für mich gab es an diesem Punkt jedoch kein Zurück mehr, kein Zurück in diese Ehe.

Irgendwie brachte ich die Kraft auf, mich damals mitten auf dem Ozean klar für mich zu entscheiden. Im letzten Moment hatte ich realisiert, dass mein Leben auf dem Spiel stand. Es ging um Sein oder Nichtsein. Ich traf die folgenschwere Entscheidung, die Familie trotz schwerster Schuldgefühle – vor allem den Kindern gegenüber – zu verlassen. Selbst wenn mein Beschluss Hans und den Kindern grossen Schmerz zufügte.

Hans segelte nach unserer Trennung mit den Kindern und seinem Freund weiter über den Atlantik. Von der Karibik aus teilte er mir mit, dass er mit den Kindern allein zur Weltumsegelung aufbrechen werde. Es bestehe schliesslich keine Wahrscheinlichkeit mehr, dass ich zur Familie zurückkehren werde.

Kaum war ich zurück in der Schweiz, bereitete ich die Scheidung vor. Das bedeutete aber auch, dass ich es aushalten musste, die Kinder mehr als zwei Jahre lang nicht zu sehen, dass ich zu ertragen hatte, dass Hans mit ihnen allein weitersegelte durch Piratenmeere und Stürme. Bewusst war mir ebenfalls, dass während der langen Reise die Beziehung der Kinder zum Vater sehr eng werden würde. Ich ahnte bereits, dass ich die Kinder nach ihrer Rückkehr nicht einfach wieder zu mir zurückholen könne. Die Befürchtung, dass sie künftig beim Vater leben würden, versuchte ich allerdings so lange wie möglich zu verdrängen.

Während die Kinder auf der Reise waren, schickte ich ihnen an jede Hafenadresse postlagernd Briefe mit Tonbändern, auf denen ich ihnen Geschichten erzählte.

Ohne Therapie und ohne Karin hätte ich es nicht geschafft, mit meinen schweren Schuldgefühlen umzugehen und weiterzuleben. Dennoch war mir klar, dass ich auf gar keinen Fall in meine alte Existenz zurückkehren konnte. Ich begann wieder mit einem vollen Pensum als Heilpädagogin zu arbeiten und übernahm eine Einschulungsklasse.

Im Hinblick auf die spätere Rückkehr der Kinder war Karin und mir klar, dass wir mehr Wohnraum brauchten. Recht unbedarft schauten wir uns nach einem geeigneten Haus in unserer Region um. Wir wurden schnell fündig. Dieser rasche Entscheid zum Hauskauf nach so kurzem Zusammenleben mit Karin war für mich ein grosser und gewagter Schritt. Doch meine Bedenken erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet. Wir gestalteten unser neues Heim gemeinsam. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Das war der Himmel auf Erden für mich! Ich verfügte frei über einen eigenen Lohn, nicht nur über ein Taschengeld. Zusätzlich war ich getragen von einem schwesterlichen Freundeskreis.

Die Zeit nach der Rückkehr von Hans und den Kindern nach mehr als zwei Jahren Abwesenheit war für alle nicht einfach. Hans und ich vereinbarten, dass die Kinder zusätzlich zu Ferienaufenthalten alle 14 Tage das Wochenende mit Karin und mir verbringen sollten. Zunächst versuchten die Kinder auf ihre je eigene Weise, wieder eine Beziehung zu mir aufzubauen. Susanne reagierte eher mit Trotz und Verweigerung. Patrick behielt seinen Schmerz tief in seinem Innersten und reagierte mit medizinisch unerklärlichen Fieberschüben. Ich versicherte den Kindern immer wieder, dass ich mich nicht ihretwegen, sondern meinetwegen von Hans getrennt hatte. Mit einer suizidalen oder psychisch kranken Mutter wäre den Kindern nicht gedient gewesen.

Hans und ich schafften es glücklicherweise, respektvoll miteinander umzugehen. Hans zeigte Grossmut. Er liess mich gehen, ohne meinen Schritt zu verstehen. Trotzdem verzieh er mir mit der Zeit. Wichtige Entscheidungen, welche die Kinder betreffen, haben wir seither gemeinsam getroffen, obwohl Hans das Sorgerecht hatte.

Hans lernte später seine heutige Frau kennen. Für mich war das eine grosse Erleichterung. Heute pflege ich mit beiden einen guten Kontakt. Unterdessen haben Susanne und Patrick eigene Kinder und ich bin sechsfache glückliche Grossmutter! Am liebsten treffe ich die Enkelkinder einzeln zu Unternehmungen, die individuell auf jedes Kind zugeschnitten sind. Wir kochen gemeinsam, gehen gelegentlich ins Kino oder an eine Ausstellung, diskutieren und malen ganz besonders gern in einem Malatelier. Karin und ich geniessen es immer, die Kinder zu treffen und an ihrer Entwicklung teilzunehmen. Karin hat eine einzigartig prägende Beziehung zu beiden jungen Familien. Sie ermutigt alle, ihre individuellen Wege zu verfolgen. Gerne erzählt sie von Erlebnissen aus ihrer eigenen Geschichte, in der sie sehr oft aus eigenen Fehlern lernen musste.

Karin und ich haben durch unseren Beruf als Lehrerinnen viele Gemeinsamkeiten. Wir ergänzen uns wunderbar. Ich liess mich anstecken von Karins Liebe zur Kunst, zur Malerei und zur Lyrik. Meine schulischen Schwerpunkte waren Heilpädagogik, Methodik und Didaktik. Zudem engagierte ich mich in der Gewaltprävention, wovon Karin ihrerseits profitierte. Im privaten Alltag durchlebten wir anfänglich eine äusserst symbiotische Phase, denn wir hatten beide schwere seelische Verletzungen mit in die Beziehung gebracht. Wir pflegten gegenseitig unsere Wunden. Heute nennen wir die erste Zeit unserer Beziehung eine Spitalbeziehung. Wunden konnten in dieser Zeit zwar heilen, aber wir wurden nicht in eigener Verantwortung erwachsen. Es war für uns deshalb wichtig, die je eigene Geschichte mithilfe einer Therapeutin aufzuarbeiten.

Daneben erlebten wir auch Rivalität: Ich beneidete Karins Sprachgewandtheit, ihre Fähigkeit, sich kurz und klar auszudrücken. Häufig ging es bei Konkurrenzthemen um Beachtung. Oder um sichtbare Unterscheidung: In Sachen Kleidung und Farben hatten wir einen ähnlichen Geschmack. Wenn die eine Rot tragen wollte, hatte die andere garantiert auch Lust auf Rot. Und wir beide in Rot, das ging gar nicht, glichen wir uns doch äusserlich schon genug. Zwar hatte ich mir als Kind sehnlichst eine Schwester gewünscht – ein doppeltes Lottchen. In der Realität hatte eine solche Nähe aber gelegentlich auch ihre Schattenseiten. Heute gibt es glücklicherweise nur noch selten Momente der Empfindlichkeit. Viel mehr Gewicht hatten befreiende Erfahrungen: Ich musste plötzlich wieder Nägel feilen, weil ich sie mir nicht mehr abbiss. Ich hatte keine Menstruationsbeschwerden mehr, und später wurde ich auch meine Allergien grösstenteils los. Auch suchte ich nicht mehr aufwendig nach der einzig richtigen Lösungen für Alltagsfragen: «Gut ist gut genug», pflegt Karin zu sagen. Insgesamt bin ich viel flexibler geworden.


Eva, 47

Dass ich wieder in meinem Beruf, der auch meine Berufung war, tätig sein konnte, half mir generell und in der Partnerschaft zu mehr Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein. Ich hatte endlich etwas zu sagen. Welch ein Zugewinn!

Ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Schultätigkeit war die Präventionsarbeit. Schon an meiner ersten Stelle hatte ich die sexuelle Ausbeutung an einer meiner Schülerinnen aufgedeckt. Im Frauenzentrum Baden lernte ich andere von sexueller Ausbeutung betroffene Frauen kennen, gründete mit ihnen die Fachstelle Limita und entwickelte mit einer Psychologin zusammen ein Präventionsprogramm für Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen. Es war mir ein besonderes Anliegen im Schulalltag, Mädchen in ihrem Selbstwert zu stärken und Buben ihren Gefühlen näherzubringen.

Meine Liebe zu Karin lebe ich offen. Ich erzählte im Teamzimmer an der Schule von unseren Ferien wie andere auch. Doch ich hausierte nie damit, lesbisch zu sein. Wer es wissen wollte, der wusste es.

Meiner Herkunftsfamilie gegenüber verhielt ich mich von Anfang an völlig transparent. Nach meiner Rückkehr von der Yacht und der Trennung von Hans packte ich als Erstes mein Köfferchen, reiste von Bruder zu Bruder und erzählte, welch dramatische Veränderungen sich in meinem Leben abspielten. Alle waren sie zwar überrascht, da sie Hans und mich immer als ideales Paar erlebt hatten, doch ich spürte seitens aller Brüder auch Offenheit und Verständnis. Karin war von Anfang an willkommen. Alle waren neugierig, sie kennenzulernen.

Am meisten staune ich auch heute noch über meine ehemalige Schwiegermutter. Sie liebte mich bis zu ihrem Ende von Herzen, obwohl ich ihrem Lieblingssohn so wehgetan hatte.

Ein grosses Geschenk machte mir meine Gotte Emmi: Sie vertraute mir an, dass sie vermute, dass auch meine Mutter gerne mit einer Frau gelebt hätte. Einmal erzählte sie mir von einem Traum und überbrachte mir Grüsse von meiner Mutter.

Den Kindern und später den Enkelkindern gegenüber kommunizierten wir von Anfang an, dass Karin und ich ein Paar sind und dass Frauen sich auch in Frauen verlieben können, genauso wie Männer sich in Männer. Die Hauptsache sei, jemanden lieben zu können. Lustig war das bei den Enkelkindern. Ich fragte sie einmal direkt, wie sie es finden, dass ihr Grossmami mit einer Frau, also Karin, zusammen sei. Der kleine Justin sagte nur: «Ja, normal dänk!» Kürzlich wurde die sechsjährige Enkelin von der Schulpsychologin gefragt, wann sie Geburtstag habe. Stolz gab sie Antwort und fügte bei: «Und im Fall, d’Karin hett au am glyche Tag Geburi.» Auf die Frage, wer Karin sei, erklärte sie: «Ich han halt zwei Grossmami – sie wohned mitenand.»

Die Bezeichnung lesbisch mag ich eigentlich nicht. Ich ziehe es vor, zu sagen, dass ich mit einer Frau lebe, und ich spreche von Frauenliebe.

Wenn ich zurückdenke, wusste ich früher zwar schon, dass es Schwule und Lesben gibt, aber trotzdem existierten sie irgendwie nicht in meiner Wahrnehmung. Ich schwärmte für Frauen, aber wirklich bewusst war mir diese Zuneigung nicht. Als Jugendliche verehrte ich in einem Bibellesebund-Ferienlager eine Leiterin. Oder da gab es eine ältere Cousine, die ich schön fand und für die ich schwärmte. Erst sehr viel später konnte ich diese Gefühle einordnen.

Mit Karin nahm ich in den Achtzigerjahren an einer Lesben-Tagung im Zentrum Boldern teil. Im Gegensatz zu ihr brachte es mich aber nicht aus der Fassung, als ich die vielen schönen Frauen sah. Für mich war das einfach selbstverständlich und erfreulich. Ich hatte keinerlei Berührungsängste.

Gelegentlich verkehrten wir im Frauenzentrum Baden. Doch die angebotenen Lesbenabende interessierten uns wenig. Wichtig war mir nur, dass ich andere frauenliebende Mütter traf. Es war für mich wesentlich zu sehen, dass es auch andere Frauen mit Kindern gab, die in einer Frauenbeziehung lebten.

Von 1991 bis 1994 war ich Grossrätin der SP. Spontan hatten damals fünf Frauen des Frauenzentrums Baden beschlossen, für den Grossen Rat zu kandidieren. Zwei von uns wurden auf Anhieb gewählt, so auch ich. Der Werbeslogan lautete: «Brave Mädchen kommen in den Himmel, aufmüpfige in den Grossen Rat.» Lange blieb ich jedoch nicht im Parlament. Das Hickhack, das Einander-nicht-Zuhören und die Unfähigkeit zu handeln wurden mir schnell unerträglich. Ich büsste bald jeden Grossratstag mit einer Migräne und wusste, dass ich mir das nicht mehr lange antun wollte.

Heute leben Karin und ich eine reiche, glückliche Gegenwart: Der Alltag in unserer schönen grossen Wohnung mit Blick über das Reusstal, der prachtvollen Aussicht auf die Berner Alpen, die gute Nachbarschaft, die Ferienwohnung am Genfersee bringen uns hohe Lebensqualität. Auf unseren unzähligen Urlaubsreisen bin ich die Fotografin und gestalte mit Freude Fotobücher, heute natürlich digital.

Täglich feiern Karin und ich unser Leben, und wir wachsen immer noch aneinander. Ich, eher Pragmatikerin mit dem «Talent», Unangenehmes zu verdrängen, habe von Karins Gespür für Unausgesprochenes, im Untergrund Lauerndes, viel gelernt. Bis heute führt mich ihre Frage: «Wie geht es dir jetzt, und was würdest du jetzt tun, wenn du allein wärst?» immer wieder zu meinen eigentlichen Wünschen, zum Überdenken festgefahrener Muster, zu mehr Flexibilität und Freiheit.

Wir gehen sehr offen mit dem «Rest unseres Lebens» um, reden über unsere Vorstellungen, wie ein würdiges Ende für jede von uns zu gestalten wäre, tauschen unsere Gedanken zur Endlichkeit aus und weichen nicht aus vor den sichtbaren Zeichen des Älterwerdens.

Nun gehen wir seit 35 Jahren unseren Weg gemeinsam, und wir haben diesen Entscheid keinen Tag bereut. Seit 2009 leben wir ausserdem in einer eingetragenen Partnerschaft und feiern unseren Hochzeitstag jedes Jahr. Wir haben beide sehr viel gewonnen an Selbstbewusstsein und an Freiheit im Umgang mit anderen.

Seitdem wir eine Zweitwohnung am Genfersee haben und wir beide pensioniert sind, geniesse ich auch die Freiräume, die wir uns gegenseitig geben. Es ist mir wichtig, einfach einmal eine Woche für mich zu sein und nach meinen eigenen Strukturen und Programmen zu leben. Gleichzeitig dürfen wir darauf vertrauen, dass wir immer wieder dort anknüpfen können, wo wir stehen geblieben sind: Ich verliere Karin nicht, und sie verliert mich nicht.


Eva, heute

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert

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