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1.2 Die Vielfalt des Alters – motivierend oder limitierend für den Zugang zur digitalen Welt?
ОглавлениеDie Ausdifferenzierung des Alters führt zu veränderten Bildern vom alten Menschen, seinem Erscheinungsbild, den ihm zugeschriebenen Verhaltensweisen und Eigenschaften sowie seinen Lebenswelten und -bezügen. Altersbilder sind damit immer soziale Konstruktionen, deren individuelle und kollektive Ausgestaltung von gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen, Rahmenbedingungen, Erwartungen und ermöglichenden Rahmenbedingungen abhängig sind. Sie sind mit unterschiedlichen Deutungen und Bewertungen verbunden, die das Ausmaß der Pluralität einer Gesellschaft widerspiegeln.
Die Differenziertheit und Diversität des Alters zeigt sich in Deutschland deutlich in den verschiedenen thematischen Orientierungen der Altersberichterstattung des Bundes, die seit 1993 regelmäßig in jeder Legislaturperiode erstellt wird. In diesem Kontext werden jeweils aktuelle seniorenpolitische Themenschwerpunkte und Fragestellungen, die mit dem Prozess des Alterns eng verbunden sind, aufgegriffen, analysiert und in Berichtsform bearbeitet. Zum jeweils aktuellen Themenschwerpunkt wird eine Kommission aus Sachverständigen gebildet und damit beauftragt, einen Altersbericht zu erstellen, der dann im Deutschen Bundestag präsentiert, beraten und beschlossen wird. Diese Form der Altersberichterstattung ist mittlerweile eine gute Tradition geworden und stellt eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Seniorenpolitik des Bundes dar. Inzwischen sind acht solcher Berichte erschienen ( Tab. 1.1)
Tab. 1.1: Die Altersberichterstattung des Bundes – Erscheinungsjahr und Themenschwerpunkte
ReihenfolgeTitelErscheinungsjahr
Der aktuelle Achte Altersbericht widmet sich dem hochaktuellen Thema »Digitalisierung und ältere Menschen«. Er wurde von der dazu berufenen Expertenkommission erarbeitet und über das zuständige Bundesministerium (BMFSFJ) an die Bundesregierung übergeben, die dazu eine Stellungnahme erarbeitet hat. Im August 2020 konnte der Achte Altersbericht vom Bundeskabinett beschlossen und dem Deutschen Bundestag zugeleitet werden, der sich damit im November 2020 abschließend beschäftigt hat. Bei der Bildung und Beauftragung der entsprechenden Sachverständigenkommission konnte noch niemand ahnen, wie viel Brisanz das gewählte Thema im Kontext der weiteren Entwicklungen durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie erhalten würde. Sind Online-Konferenzen, Homeoffice und Online-Lehre zwischenzeitlich aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken, bestimmt die Digitalisierung als prägender Megatrend auch die aktuellen Debatten um soziale und digitale Teilhabe im Alter maßgeblich mit. Die Frage des individuellen Zugangs zur digitalen Welt wird so zu einem wichtigen Bedingungsfaktor für ein gelingendes Altern. Insofern ist der Titel dieses Buches zwar sehr zugespitzt und provokativ, verweist aber auf die große Bedeutung von digitalen und analogen Netzwerken. Es geht also darum, gut vernetzt zu sein, um im Alter nicht sozial abgehängt zu werden.
Maßgeblich mitbestimmt durch die Altersberichte entstehen neue und in Teilen sehr voraussetzungsvolle Erwartungen und Orientierungen an die Lebensphase Alter. So sollen die älteren Menschen heute Mitverantwortung übernehmen und ihre Potenziale zum Wohl von »Wirtschaft und Gesellschaft« vielfältig einbringen. In dieser Weise formulierte es bereits der Fünfte Altenbericht als eine übergreifende Zielsetzung ( Tab. 1.1; BMFSFJ, 2005) und er stand damit für eine neue Ausrichtung und deutliche Gegenposition zu früheren Schwerpunktsetzungen der Altersberichte. Auch in den nachfolgenden Legislaturperioden knüpften diese an die eher potenzialorientierte Sichtweise auf das Alter an, die sich explizit mit den Altersbildern in der Gesellschaft (Sechster Altenbericht; BMFSFJ, 2014) und mit Sorge und Mitverantwortung in der Kommune und dem Aufbau und der Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften beschäftigen (Siebter Altenbericht; Deutscher Bundestag, 2016). Insgesamt wurde so in den letzten 15 Jahren ein wachsender Erwartungshorizont an die älteren Generationen formuliert und medial vermittelt.
Dies ist einerseits sehr zu begrüßen, beinhaltet aber durchaus andererseits die Gefahr, dass wir das materiell gut abgesicherte und an eher bürgerlichen Werten orientierte Altern für verbindlich erklären, es also generalisieren. Und es birgt hohe Risiken, weil dadurch große Gruppen in der Altersbevölkerung eher ausgeschlossen werden, obwohl wir darum wissen, dass das Erleben sozialer Ungleichheit einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität im Alter hat.
Besonders bei den über 60-Jährigen, deren Bildungs- und Erwerbsbiografien von lebenslanger Benachteiligung geprägt sind, wie bei Menschen mit Migrationshintergrund, solchen mit brüchigen Erwerbsverläufen und mit langen Zeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen, muss vor diesem Hintergrund von einer doppelten sozialen und strukturellen Ungleichheit ausgegangen werden. Diese kann zur multidimensionalen Ungleichheit werden, weil auch die Kompetenzen in Bezug auf Selbstreflexion und Partizipation ungleich verteilt sind und stark von Bildungsabschluss und Status beeinflusst sind.
Von den positiven neuen Altersbildern profitieren also in erster Linie die Älteren, die in ihrem Lebensverlauf ohnehin zu der Gruppe der Privilegierteren zu zählen sind. Bei den unter eher defizitären Bedingungen gealterten Bevölkerungsgruppen dominiert hingegen eine negative Form der Selbstzuschreibung, die von einem Mangel an Kompetenzüberzeugung und von einem sehr eingeschränkten Erleben von Selbstwirksamkeit geprägt ist. Dieses Phänomen wird im Kontext der Debatte um Alter und Technik als Gefahr der digitalen Spaltung der Gesellschaft (Digital Divide) beschrieben. Es kann aber auch als »interventionsgerontologisches Dilemma« bezeichnet werden (Rüßler, Heite & Stiel, 2013, S. 306 f.). Damit wird beschrieben, dass von den gerontologischen Interventionen, die auf Stärkung von Selbstorganisation, soziale Teilhabe und Partizipation zielen, häufig eher die Personengruppen profitieren, denen es daran viel weniger mangelt. Das gilt auch in ähnlicher Weise für Ansätze und Projekte, die die digitalen Einstellungen und Kompetenzen älterer Menschen positiv beeinflussen sollen.
Das Konzept der »Lebensphasen« differenziert den Lebenslauf in eine kontinuierliche Folge von regelmäßig auftretenden, unterscheidbaren Abschnitten, die unser Leben strukturieren (vgl. Kricheldorff 2020b, 2011). In der Gerontologie wird, je nach Autorenschaft mehr oder weniger ausdifferenziert, vom Dritten und Vierten Alter oder darüber hinaus auch noch vom Fünften Alter gesprochen (Laslett, 1995; Kricheldorff, 2020b). Diese Form der Periodisierung bezieht sich auf Zeiträume, die nicht zwingend dem kalendarischen Alter folgen, sondern in denen die Veränderungen der äußeren Bedingungen, des Verhaltens und der Einstellungen eine größere Relevanz erhalten. Es handelt sich also um soziale Alterskategorien, die die lange Lebensphase Alter in der folgenden Logik unterteilen ( Abb. 1.2).
Übergänge zwischen diesen Lebens- oder Altersphasen werden theoretisch und empirisch unterschiedlich gefasst. Sie werden als »Statuspassagen«, »Statusübergänge« oder auch als (kritische) Lebensereignisse beschrieben (Kricheldorff, 2011; Sackmann, 2007). Mit dem Konzept der Statuspassagen wird einerseits aus einer Makroperspektive die Verknüpfung des individuellen Lebens mit der Gesellschaft und ihren Institutionen thematisiert. Andererseits beschreibt es aus einer Mikroperspektive die subjektive Seite der Bewältigung von Übergängen durch einzelne Personen und ihr soziales Umfeld.
Abb. 1.2: Soziale Alterskategorien zur Strukturierung des Lebens im Alter
Dabei geht es auch um das Herstellen einer individuellen Balance in Bezug auf die sog. neuen Freiheiten in der nachberuflichen Phase. Diese sind in einer Art Trias, die sich zwischen der Aktualisierung der eigenen Identität, dem gewünschten Ausmaß sozialer Bezüge und den gesellschaftlich formulierten, normativen Erwartungen an die wachsende Gruppe älterer und alter Menschen verortet, immer wieder neu auszuloten. Wobei dabei immer stärker, wie oben schon ausgeführt, die Logik einer gesellschaftlichen Nützlichkeitsdebatte in den Blick kommt ( Abb. 1.3).
Vor dem Hintergrund des Spannungsfelds, das sich für den Prozess des Alterns aus dieser Trias ergibt, lassen sich deutliche Bezüge zu gelingender vs. gescheiterter Teilhabe älterer Menschen ableiten, die im Kontext der Digitalisierung auch zur digitalen Teilhabe führt oder diese verhindert. Das Konzept der Identität im Lebenslauf verweist auf die Notwendigkeit, dass die Nutzung neuer Technologien und Medien für ältere Menschen vor allem dann als sinnstiftend erlebt wird und attraktiv ist, wenn diese in der Logik des Selbstbezugs für die Gestaltung und Bewältigung des eigenen Alltags als hilfreich erlebt werden. Wenn also Technik das eigene Leben erkennbar erleichtert
Abb. 1.3: Altern in der Trias zwischen Selbstbezug, Sozialbezug und gesellschaftlichen Erwartungen
oder bereichert, wenn sich der ältere Mensch in der Logik neuer Rollen und Aufgaben, die das Ergebnis von Reflexion und Selbstvergewisserung sind, neu positionieren kann und als handlungsfähig erlebt, wenn er sich in seinen Anliegen ernst genommen fühlt, wird er seinen individuellen Prozess des Alterns in der digitalen Welt als motivierend erleben und auch Spaß daran haben. Damit können ganz konkrete Erfahrungsräume und gelingende Anwendungen als wirkungsvolle Push-Faktoren gewertet werden. Der Erfolg gängiger Kommunikations-Apps entspricht genau dieser Logik, denn sie sind einfach zu erlernen, sie funktionieren gut, vermitteln Erfolgserlebnisse und sie erleichtern und bereichern den Alltag.
Damit haben diese Anwendungen auf den gängigen mobilen Endgeräten wie Smartphones, Tablets und PCs auch eine wichtige Funktion für den Sozialbezug, denn sie ermöglichen aktive Teilhabe und vermitteln das Gefühl von Zugehörigkeit und sozialer Einbindung. Das heißt, dass digitale Technik vor allem dann als motivierend erlebt wird, wenn sie die Vergemeinschaftung unterstützt. Der Zugang zur digitalen Welt ist damit an die Verfügbarkeit von technischen Geräten und an erfolgreiche Erfahrungsräume gekoppelt, was gleichzeitig die limitierenden Faktoren skizziert. Wer sich aus ökonomischen oder strukturellen Gründen, also weil die notwendigen finanziellen Mittel fehlen oder das Wohnumfeld (z. B. das Pflegeheim) keine digitale Infrastruktur bietet, gegenüber den digitalen Entwicklungen mental verschließt beziehungsweise verschließen muss, wird sich auch durch öffentliche Kampagnen nicht der wachsenden Gruppe der »Onliner« anschließen können.
Die normativen und gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber der digitalen Teilhabe und Kompetenz Älterer sind von deutlicher Ambivalenz geprägt. Sie schwanken zwischen Zutrauen, Erwartungsdruck und Motivierungskampagnen auf der einen Seite und mangelnder Beachtung der spezifischen digitalen Bedürfnisse älterer Menschen auf der anderen Seite. Vor allem im Hinblick auf ihre Partizipation bei der Entwicklung digitaler Technik, die dann auch stärker anwendungsorientiert wäre und damit realen Bedarfen stärker entsprechen könnte, ist in der Praxis noch wenig umgesetzt. Dabei zeigt sich, dass dort, wo partizipative Technikentwicklung in Projektkontexten erprobt wird, ältere Menschen als »Experten in eigener Sache« wichtige Hinweise und Impulse liefern können (Dickel & Müller, 2018; Grates & Krön, 2016).
Die neue Vielfalt des Alterns zeigt inzwischen durchaus deutliche Wirkungen auf die Selbstwahrnehmung älterer Menschen, die den Merkmalen des Dritten Alters entsprechen. Sie wurden in der jüngeren Vergangenheit in vielfältiger Weise mit öffentlich geförderten Kampagnen und Programmen adressiert, die »Senioren ins Netz« bringen sollen. Inzwischen hat sich die reale Zahl der älteren »Onliner« kontinuierlich erhöht ( Abb. 1.4), auch weil Jahrgänge in die Altersphase kommen, die biografisch anders vorgeprägt und deutlich technikaffiner sind.
Gleichzeitig zeigt sich aber bei den Personengruppen, die – orientiert am kalendarischen Alter – in der nachberuflichen Phase
Abb. 1.4: Zugang zum Internet nach Altersgruppen zu fünf Erhebungszeiträumen 2002–2017 (eigene Grafik auf Datenbasis BMFSFJ, 2020, S. 62)
sind, dass der Bildungsabschluss einen deutlich limitierenden Faktor beim Zugang in die digitale Welt darstellt. Das ist bei jüngeren Altersgruppen deutlich weniger ausgeprägt der Fall ( Abb. 1.5).
Die Vielfalt des Alters kann – das wird unübersehbar – also schnell zu verstärkter sozialer Ungleichheit im Alter führen und sich dort manifestieren, weil der Zugang zum Netz ein zentraler Schlüssel für soziale Teilhabe ist, nicht nur in Pandemiezeiten. Insgesamt erweist sich, dass die inzwischen hohen gesellschaftlichen Erwartungen an ältere Menschen in Bezug auf ihre digitale Anschlussfähigkeit immer auch Gefahren in sich bergen. Denn diejenigen unter ihnen, die diesem normativen Druck nicht entsprechen können oder wollen, sind ganz schnell abgehängt und eben nicht gut vernetzt.
Abb. 1.5: Zugang zum Internet nach Altersgruppen (43–84 Jahre) und Art des Bildungsabschlusses in 2017 in %