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Homers Wiedergeburt in Kalabrien
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Name: Quintus Ennius
Lebensdaten: 239/38–169 v. Chr.
Literarische Gattung: Epos, Komödie, Tragödie u. a.
Werke: „Annalen“ (Annales)
Jede Literatur hat nicht nur ihre Höhen und Tiefen, sondern selbstverständlich auch ihre Wurzeln und Anfänge bzw. das, was als solches wahrgenommen wird. Als Urvater der römischen Dichtung galt im alten Rom einer, dessen Bedeutung im krassen Gegensatz dazu steht, wie bekannt er heute noch ist – und wie viel von ihm überliefert ist: Ennius.
Wer war das?
Der Name dieses Dichters sagt heute kaum noch jemandem etwas, man muss sich schon intensiver mit der lateinischen Literatur beschäftigen, um auf ihn aufmerksam zu werden. Und dennoch haben ihn Generationen von Schulkindern lesen müssen – freilich zu einer Zeit, als die heutigen lateinischen Schulautoren selbst noch Zeitgenossen waren (oder noch gar nicht auf der Welt).
Quintus Ennius wurde in Kalabrien geboren (der „Spitze“ des italischen „Stiefels“), in einer Gegend, die zu seiner Zeit dreisprachig war: Man sprach Lateinisch, Griechisch und das dort ansässige Oskisch. Vor allem aber die Begegnung mit dem Griechischen und mit der griechischen Literatur muss den meisten Eindruck auf ihn gemacht haben.
Im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) war er beim Militär als Hilfssöldner u. a. auf Sizilien stationiert, wo er Cato d. Ä. kennenlernte. Der riet ihm dazu, nach Rom zu gehen. Er fand dort adlige Gönner, die ihn unterstützten, darunter der Konsul des Jahres 189 v. Chr., Marcus Fulvius Nobilior. Nach dessen Konsulat hat Ennius wahrscheinlich begonnen, sein Hauptwerk, die „Annalen“, zu verfassen.
Was schrieb er?
Ennius gilt als einer der vielseitigsten römischen Dichter. Er schrieb Tragödien, Komödien, Satiren, Epigramme – und dann jenes eine Werk, das ihn für die gesamte spätere römische Dichtung unentbehrlich machen sollte: die „Annalen“ (Annales).
Die „Annalen“ sind – nein, besser: waren ein Epos im Umfang von 18 Büchern, das die römische Geschichte von ihren Anfängen bis zu Ennius’ Zeit darstellte. So weit, so gut – der Clou jedoch kommt erst noch: Geschrieben waren die „Annalen“ im daktylischen Hexameter.
Obwohl von den „Annalen“ nur Fragmente überliefert sind (insgesamt etwa 600 oft auch noch unvollständige Verse), hat man doch eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie das Werk aufgebaut war – auch durch Zeugnisse anderer Autoren. Die „Annalen“ beschrieben die römische Geschichte in 18 Büchern, von der mythischen Vorzeit, beginnend (wie es sich für einen „zweiten Homer“ wohl ziemt) mit dem Fall Trojas und Aeneas’ Reise nach Italien, über Romulus und Remus bis zur Königszeit, der Gründung der Römischen Republik, den Punischen und Makedonischen Kriegen bis zur Gegenwart. Das Erzähltempo verlangsamt sich dabei stetig, je näher der Autor seiner eigenen Zeit kommt.
Eine weitere Besonderheit der „Annalen“ sind ihr stilistischer und ihr motivischer Reichtum, den auch Cicero noch zu bewundern wusste (der ohnehin die meisten Verweise und Anspielungen auf Ennius in seinem Werk aufweist). Beides erhebt ihn über die nüchternere Sprache des Naevius. Allein schon im Proömium des Werks wähnt man sich weit entfernt von trockener Geschichtsschreibung, wenn Ennius erzählt, wie Homer ihm im Traum erschienen sei, um ihm zu sagen, dass er seine, Homers, Nachfolge antreten solle.
Simia quam similis turpissuma bestia nobis.
„Der Affe, das hässlichste aller Tiere – wie gleicht es uns.“
Wie ist das alles überliefert worden?
Cicero redet noch oft seine Adressaten im guten Glauben an, ein jeder kenne seinen Ennius – doch hundert Jahre später hätte er damit wohl keinen Erfolg mehr gehabt. Dass Vergil und Ovid ab der Zeitenwende Ennius schnell überschatteten und sein Werk auch im Schulunterricht als Lektüre zu verdrängen begannen, hat dafür gesorgt, dass heute nur noch Fragmente der „Annalen“ erhalten sind (und ein paar seiner anderen Dichtungen).
Folgerichtig war Ennius im Mittelalter so gut wie gar nicht mehr bekannt. Erst die Humanisten interessierten sich wieder für ihn, die erste Ausgabe von Ennius-Fragmenten stammt bereits von 1564. Mehr als Fragmente hatten das „dunkle Zeitalter“ ja leider nicht überlebt.
Der Hexameter – ein Versmaß prägt die Dichtung
Der daktylische Hexameter ist das Versmaß, in dem schon Homer seine Epen „Ilias“ und „Odyssee“ verfasst hatte. In der griechischen Dichtung war es also bereits seit etwa 500 Jahren verbreitet – doch erst Ennius machte es in der lateinischen Dichtung heimisch. Der „Daktylus“ besteht aus einer Länge und zwei Kürzen (die wiederum durch eine Länge ersetzt werden können) – sechs (griech.: hexa) solcher „Versfüße“ ergeben einen Hexameter, wobei der letzte die Form lang – lang hat.
Dies ist der Vers, schematisch dargestellt in Längen (–) und Kürzen (U), hier illustriert an der klassischen Übersetzung der ersten zwei Verse der „Ilias“:
– UU | – – | – U U | – –|– U U | – –
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
– UU | – U U | – U U | – U U | – U U | – –
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte.
Myriaden von Schülern, vom republikanischen alten Rom bis zum modernen Latein-Grundkurs am Gymnasium, lesen fast ausschließlich lateinische Dichtung, die in diesem Versmaß verfasst ist: dem daktylischen Hexameter (i. d. R. umgangssprachlich verkürzt zu „Hexameter“). Vergils „Aeneis“, Ovids „Metamorphosen“, Lukrez’ „Über den Ursprung der Dinge“ … Selbst das ab der späten Republik (also etwa ab Cicero und Caesar) zweitbeliebteste Versmaß, das elegische Distichon, besteht aus eben einem solchen Hexameter und einem Pentameter im Wechsel (s. S. 94). Die fettgedruckten Buchstaben in unserem Beispiel deuten jedoch den Unterschied der lateinischen (und griechischen) zur deutschen Sprache bereits an: Wir lesen einen Vers mit betonten und unbetonten Silben, der Lateiner las lange und kurze Silben. Das nachzuahmen (und gleichzeitig die natürliche Betonung eines Wortes beizubehalten) ist äußerst schwierig, und meist versucht man dies auch gar nicht erst. Zumindest nicht in der Schule.
Doch wie sah es aus, bevor Ennius auf den Plan trat? Die bekanntesten römischen Dichtungen vor ihm waren die Odusia des Livius Andronicus (eine Übertragung der „Odyssee“) und das Historienepos Bellum Punicum des Naevius, beide noch in den ur-römischen Saturnier-Versen verfasst. Ennius aber sah sich selbst ja als alter Homerus (als „zweiten Homer“), gleichsam wiedergeboren und beauftragt, das große Epos zu verfassen, das die römische Dichtung prägen und revolutionieren sollte. Und dazu gehörte, dass er von Homer nicht den Stoff übernahm, sondern (neben stilistischen Einzelheiten) das Versmaß.
Die „Annalen“ waren so erfolgreich und einflussreich, dass sie auch in der lateinischen Sprache selbst für Veränderungen sorgten: Die antiken Versmaße unterscheiden nach Länge oder Kürze eines Lautes (nicht nach Betonung wie z. B. die deutsche Sprache). Und Ennius musste oftmals Wörter anders schreiben und die Laut-Längen neu verteilen, um überhaupt Hexameter in lateinischer Sprache verfassen zu können. Oft verwendete er dafür archaische oder neu konstruierte Formen, z. B. dem Griechischen entlehnte Wortzusammensetzungen. Der „Imperator“ z. B. ist bei Ennius ein „induperator“, der sich nur so in den Hexameter einfügen lässt (lang – kurz – kurz – lang – lang) – eine einzelne kurze Silbe [im-pe-rator] passte nun einmal nicht in den Vers …
Romulus und Remus gründen Rom:
Großes im Sinn, wollen beide nun König werden und
Besorgen sorgfältig Vogelschau und Seherzeichen.
Remus saß auf einem Hügel und wartete auf einen für ihn
Günstigen Vogel. Aber der schöne Romulus saß auf dem hohen
Aventin und betrachtete von dort die hoch oben Fliegenden.
Sie stritten sich: Sollte die Stadt nun Roma oder Remora heißen?
Alle Bewohner sorgten sich: Wer von beiden würde Imperator?
Sie warteten wie auf den Konsul, der das Zeichen geben soll,
Und alle sehen mit gespanntem Blick auf die Absperrseile im Circus,
Die endlich die bunten Wagen freigeben zum Rennen.
So stand das Volk und wartete bangend, wem nun von beiden
Der Sieg über große Reich zuteil werden würde;
Unterdessen zog sich die Sonne zurück in das Dunkel der Nacht.
Dann kam mit strahlendem Schein das Licht des Tages heraus,
Und gleichzeitig flog aus großer Höhe ein ganz prächtiger Vogel
Von links aus heran. Als sich dann die goldene Sonne erhob,
Näherten sich zugleich vom Himmel die heiligen Leiber vierer
Vögel dem glückverheißenden, schönen Ort.
Romulus erkennt daraus, dass ihm zum Besitze
Gegeben sind des Königreichs Thron und Grund und Boden.
[Enn., Ann. fragm. 72 Sk.]
***
Romulus tötet Remus, der ihn veralbert hat, indem er über die römische „Stadtmauer“ gesprungen ist:
„Beim Pollux: Kein lebender Mensch wird ungestraft so etwas tun –
Und so auch du nicht: Zur Strafe wirst du dein heißes Blut für mich vergießen!“
[Enn., Ann. fragm. 94/95 Sk.]
***
Als auch Romulus schließlich stirbt, herrscht Heulen und Zähneklappern:
Ihre Herzen hält Sehnsucht gefangen. Zugleich aber reden sie untereinander
Und rufen wach die Erinnerung folgendermaßen: „Oh Romulus, göttlicher Romulus,
du, den die Götter zum Wächter der Heimat gezeugt!
Oh Vater, Erzeuger, oh Blut, das du stammst von den Göttern!
Du hast uns emporgeführt, empor zu den Ufern des Lichtes!“
[Enn., Ann. fragm. 105–109 Sk.]
Was bleibt?
Was an Ennius’ Werk fortgelebt hat, ist das Versmaß: der Hexameter. Das jedoch kaum in die Neuzeit – der Hexameter eignet sich nicht unbedingt für die modernen Sprachen. Abgesehen von der berühmten Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voß (Ende des 18. Jhs.) gibt es nur ein klassisches dichterisches Werk in deutscher Sprache von weitergehender Bedeutung, das im Hexameter verfasst ist – Johann Wolfgang v. Goethes „Reineke Fuchs“:
Als nun Grimbart geendigt, erschien zu großem Erstaunen
Henning, der Hahn, mit seinem Geschlecht. Auf trauriger Bahre,
Ohne Hals und Kopf, ward eine Henne getragen,
Kratzefuß war es, die beste der eierlegenden Hennen.
Ach, es floß ihr Blut, und Reineke hatt es vergossen!
Jetzo sollt es der König erfahren. Als Henning, der wackre,
Vor dem König erschien, mit höchstbetrübter Gebärde,
Kamen mit ihm zwei Hähne, die gleichfalls trauerten. Kreyant
Hieß der eine, kein besserer Hahn war irgend zu finden
Zwischen Holland und Frankreich; der andere durft ihm zur Seite
Stehen, Kantart genannt, ein stracker, kühner Geselle;
Beide trugen ein brennendes Licht; sie waren die Brüder
Der ermordeten Frau. Sie riefen über den Mörder
Ach und Weh! Es trugen die Bahr zwei jüngere Hähne,
Und man konnte von fern die Jammerklage vernehmen.
Man sieht auch hier: Die antike Literatur ist allerorten. Selbst Goethes Bezeichnung der einzelnen Kapitel, „Gesang“, ist eine Bezeichnung, die direkt aus Homer übernommen ist. Und die anrührende Szene mit der geköpften Henne könnte direkt aus einem antiken Epos stammen – wäre die Henne Hektor oder Achilleus.