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|19|IRRTUM 2: Die Römer sprachen klassisches Latein

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Latein war die Sprache der Römer. So kennen wir es aus der Schule, und im Grunde genommen ist das auch richtig. Aber eben nur im Grunde genommen: Denn die Sprache, die wir als Latein in der Schule lern(t)en, also das klassische Latein von Caesar und Cicero, wurde in dieser Form nie wirklich gesprochen – zumindest nicht von einer überwältigenden Mehrheit der Menschen im Römischen Reich, ja nicht einmal in der Stadt Rom.

Latein, die „Sprache der Bewohner von Latium”, entwickelte sich in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. in der Landschaft um Rom herum, und sie durchlief verschiedene Entwicklungsstufen, bis sie im 1. Jahrhundert v. Chr. mit Cicero ihre „klassische” Form erreichte. Die ersten schriftlichen Zeugnisse auf Lateinisch sind etwa 400 Jahre älter. In der Spätantike veränderte sich die Sprache und erhielt verschiedene regionale Ausformungen; auch das Mittelalter hindurch wurde in ganz Europa Latein gesprochen, allerdings von immer weniger Menschen – vor allem die Kirche war (und ist) ein Bewahrer des Lateinischen.

Und wie steht es heute mit der lateinischen Sprache? In der beliebten 90er-Jahre-ZDF-Serie „Unser Lehrer Doktor Specht” spielte Wolf-Dietrich Berg den Lateinlehrer Bloch. Der war natürlich – mit |20|Verlaub – ein Arschloch. Und in einer späteren Staffel ist Frau Zierlich (Barbara Dittus), die ebenfalls Latein unterrichtet, auch keine allzu sympathische Figur. In der TV-Serie „Nicht von schlechten Eltern” von Radio Bremen war Karl Lieffen als Dr. Reckensiehl zu sehen, wiederum ein ziemlich strenger Lateinlehrer. Sicherlich ist der verknöcherte, konservative Lateinpauker – man denke auch an Rudolf Schündler als Dr. Knörz in „Zur Hölle mit den Paukern” (1968) – ein Klischee. Aber wie in jedem Klischee steckt auch hier ein Funke Wahrheit, und kein allzu kleiner. Wenn wir in der Moderne noch ein wenig weiter zurückgehen und in die Literatur schauen, begegnet uns übrigens genauso unsympathisches Personal in Sachen Latein: „Haß gegen den Vater, Krise der Nerven, Angst vor dem Lateinlehrer, Abenteuerlust – all dies [sind] gewohnte pathologische Motive der Pubertät”, schreibt Stefan Zweig in „Irrfahrt und Ende Piere Donchamps’”; und Sigmund Freud berichtet in „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose” (1918) von einem Patienten: „Der Lehrer, der den lateinischen Unterricht seiner Klasse leitete, hieß Wolf. Er war von Anfang an von ihm eingeschüchtert, zog sich einmal eine schwere Beschimpfung von ihm zu, weil er in einer lateinischen Übersetzung einen dummen Fehler begangen hatte, und wurde von da an eine lähmende Angst vor diesem Lehrer nicht mehr los, die sich bald auf andere Lehrer übertrug.”

Warum ist das so? Wieso erscheint gerade der Lateinlehrer immer wieder als Hassobjekt? Das liegt vor allem daran, dass das Erlernen der lateinischen Sprache eine echte Herausforderung ist und für Schüler im Vergleich zu Englisch, Französisch oder Spanisch oft mehr mit Mathematik gemein hat als mit dem gewohnten Sprachunterricht. Es gibt mit Ausnahme von Altgriechisch auch keine andere Sprache, die an deutschen Schulen gelehrt wird, in der es die Schüler in der Regel bis zum Abitur nicht so weit bringen, dass sie eine Seite Originaltext ohne die Hilfe eines Wörterbuchs lesen und wenigstens vom Sinn her einigermaßen verstehen können.

Dass uns heute die lateinische Sprache so schwierig scheint, vor allem aber, dass sie sich nicht für einen Sprachunterricht eignet, der |21|von vornherein auf das Sprechen setzt, auf Verständnis durch Hören beziehungsweise Verstehen und Wiederholen des gesprochenen Wortes, liegt daran, dass die Sprache des Lateinunterrichts, das klassische Latein, vor allem eine literarische ist. So schreibt der Philosoph John Locke bereits im Jahr 1693 in seinen „Gedanken über Erziehung”: „Sobald das Kind seine Muttersprache reden kann, ist es Zeit, dass es auch eine andere lerne, und dieses muss, wie jeder zugeben wird, die französische sein. Was diese Sprache betrifft, so hat man auch bereits die richtige Methode eingeführt, nämlich durch bloßes unausgesetztes Sprechen mit den Kindern und nicht durch Regeln der Grammatik. Die lateinische Sprache könnte leicht auf ebendiese Art gelehrt werden, wenn der Erzieher, der beständig um das Kind ist, nie in einer anderen mit ihm redete und das Kind ihm in derselben antworten müsste. Da aber die französische Sprache eine lebende ist und weit mehr zum Sprechen gebraucht wird, so muss man sie zuerst lernen … Stattdessen quälte man die Jugend mit lateinischen Ausarbeitungen und Versen, die zu weiter nichts dienen, als die Fähigkeit der Kinder über Vermögen anzustrengen und die sonst leichten und angenehmen Fortschritte in Erlernung der Sprachen durch unnatürliche Schwierigkeiten zu hindern.”

Auch und gerade heute würden ihm da viele beipflichten. Wenn es in der Schule um „Latein gegen Französisch” geht, kommen seit vielen Jahrzehnten die gleichen Argumente auf den Tisch – ja, seit Jahrhunderten, wie wir an Lockes Text sehen. Und manche sind nicht von der Hand zu weisen: Man lernt eine Sprache einfach leichter und schneller, wenn man sich in ihr unterhalten kann. Aber außer im Vatikan spricht nun einmal niemand mehr Latein. Wobei die lateinische Sprache selbst da einen immer schwereren Stand hat: Im Oktober 2014 war Latein zum ersten Mal in der Geschichte der katholischen Kirche nicht die offizielle Sprache einer Weltbischofssynode – Papst Franziskus entschied sich für Italienisch, was nicht wenige Würdenträger erleichtert zur Kenntnis nahmen. Die Häme, die seitens Altphilologen über Benedikt XVI. ausgeschüttet wurde, nachdem er seine in grammatikalisch ziemlich fehlerhaftem |22|Latein verfasste Rücktrittserklärung veröffentlicht hatte, spricht hier Bände.

Wie jede Sprache wandelte sich auch das Lateinische, es gab im Mittelalter diverse Varianten eines Mittellateins, die sich in Facetten an der jeweiligen Volkssprache eines Landes orientierten. Doch mit der Neuzeit und der Renaissance wurde dieser grammatikalisch etwas einfacheren Variante des Lateinischen der Garaus gemacht: Im Zuge der Wiederentdeckung der Antike und ihrer Schriften sollte sich auch der Lateinunterricht wieder konkret an den klassischen Vorbildern, wie eben Cicero, orientieren. Nur, dass dieser in einer Sprache schrieb, die nur wenige seiner Zeitgenossen so sprachen, wie er sie schrieb (und im Senat und vor Gericht auch sprach, allerdings in Texten, die er zuvor in Gänze akribisch auswendig gelernt hatte).

Welche Sprache sprachen die Römer aber dann? Natürlich sprachen sie zu Caesars und Ciceros Zeiten Latein, aber die Umgangssprache unterschied sich deutlich von der literarischen. Der Kirchenvater Augustinus von Hippo beschreibt in einem Psalmenkommentar seinen Ansatz, sich möglichst volksnah auszudrücken (138.20): „Lieber sollen uns die Grammatiker tadeln, als dass das Volk uns nicht versteht.” Eine volksnahe Sprache bedeutete also zugleich, bestimmte grammatikalische Prinzipien schleifen zu lassen.

Leider hat aus der Antike nur ein winziger Teil der vielen literarischen Werke überlebt, und diese stellen nur die Speerspitze der Literatur dar – die lateinische Umgangssprache ist daher größtenteils verloren. Was wir über diese Umgangssprache wissen, stammt aus ein paar wenigen Texten – aus den Komödien der Dichter Plautus und Terenz sowie dem Roman „Satyricon” von Petron (alle drei lassen immer wieder umgangssprachliche Elemente einfließen), aus dem lateinischen Bibeltext und aus Pompeji, wo sich auf den Häuserwänden Hunderte von Graffiti erhalten haben, die besonders gut dazu dienen, dem „Volk aufs Maul zu schauen”. Was die Komödien und Petron betrifft, so werden dort zwar Elemente der volkstümlichen Sprache verwendet (beispielsweise Parataxe statt Hypotaxe), |23|aber es ist dennoch eine Kunstsprache, denn die Komödien halten ein striktes Versmaß ein, und in Petrons Roman treten zwar Sklaven auf, die so „ähnlich” sprechen, wie Sklaven damals sprachen, aber es sind eben immer noch Figuren in einem literarischen Werk; deren Sprache ist also nie 1:1 vom Alltag übernommen – oder zumindest können wir das nicht nachprüfen. Die Graffiti sind da naturgemäß näher am „Original” dran, dort aber wiederum gibt es das Problem, dass die Texte oft sehr stark reduziert sind – man stelle sich nur vor, spätere Forscher müssten aus den heute an Häuserwände gesprühten Satzfetzen und Parolen rekonstruieren, wie wir uns im 21. Jahrhundert miteinander unterhielten.

Ein anderer Ansatz ist es, sich mit den romanischen Sprachen – Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch – zu beschäftigen, die sich aus dem „Vulgärlatein” entwickelt haben. Ein paar grammatikalische Gemeinsamkeiten, beispielsweise eine vereinfachte Flexion oder das Wegfallen des Neutrums, kann man dort feststellen. Außerdem kann man einige naheliegende Vereinfachungen gegenüber der Hochsprache annehmen, wie die Verwendung von Adjektiv- statt Adverbform und die verstärkte Verwendung von Präpositionen als Ersatz für komplizierte Ablativkonstruktionen und -funktionen. Dennoch: Vieles davon ist Konjektur. Es ist und bleibt ein äußerst schwieriges Unterfangen, etwas Gesichertes darüber auszusagen, wie sich die Menschen auf der Straße, die Vertreter des „gemeinen Volkes”, unterhielten. Nur eines ist sicher: So wie Cicero schrieb, bei dem ein einziger verschachtelter Satz mitunter eine halbe DIN-A4-Seite umfasst, redeten sie nicht.

Ganz abgesehen davon war das klassische Latein zwar die offizielle Amtssprache im Römischen Reich, doch für die gesamte östliche Hälfte des Reiches galt das de facto nicht. So ist es beispielsweise ein Fehler, wenn Pontius Pilatus in Mel Gibsons Machwerk „Die Passion Christi” (2004) Latein spricht. In Wirklichkeit sprach er nämlich, wie die meisten Römer im Osten, Griechisch. Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. löste das Griechische die lateinische Sprache im östlichen Mittelmeer dann auch ganz offiziell als Amtssprache |24|des Römischen Reiches ab. Und anders als das Lateinische ging das Altgriechische nicht in mehreren neuen Sprachen auf, es entwickelte sich direkt weiter zur heute in Griechenland gesprochenen Sprache.

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