Читать книгу Korridorium – Mythenwege, Märchenpfade - Cory d'Or - Страница 4
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Ich betrete den Korridor, der in das Labyrinth führt, das ich nie mehr verlassen werde. Dädalus steht hinter mir und lächelt stolz. Er hat Monate damit verbracht, es zu konstruieren und für mich einzurichten. Er nennt es »Palast«.
»Ich werde verdursten und verhungern«, sage ich. Dädalus schüttelt den Kopf: »Wirst du nicht. Unten, im Keller des Palastes, gibt es eine Quelle. Es gibt Innenhöfe mit zahlreichen Obstbäumen, und es gibt ein feuchtes Gewölbe, in dem zahllose Champignons wachsen.«
»Ich werde einsam sein«, prophezeie ich düster. Dädalus hält dagegen: »Wir werden dir immer wieder Unterhaltung schicken. Junge Männer und Jungfrauen unserer Vasallenstaaten, mit denen du verfahren kannst, wie du möchtest.«
»Fleisch«, sage ich. »Wie du meinst«, sagt Dädalus.
»Ich werde mich nach Freiheit sehnen und verrückt werden.« Dädalus scheint wenig beeindruckt: »Wirst du nicht. Der Palast wird dir unendlich groß erscheinen, und du wirst immer wieder neue Räume entdecken, neuen Wundern begegnen. Ich habe dafür gesorgt, dass du dir einen geregelten Tagesablauf gestalten kannst, mit allem, was du gerne tust. Das fängt an mit einem großen, weichen Bett aus Stroh, an das ich eine kleine Glocke gestellt habe, die – sobald die Sonne aufgeht – von einem Mechanismus angeschlagen wird. Das Bimmeln wird dann immer lauter, bis du endlich aufstehst.« Als er mich stöhnen hört, fügt er an: »Wenn du allerdings noch ein wenig weiterschlafen möchtest, kannst du den Mechanismus mit einem kleinen Hebel dazu bringen, für einige Zeit mit dem Schlagen der Glocke aufzuhören.«
»Erfindungen …« sage ich abfällig, »das ist alles, was du kannst: Dir irgendwelche Mechanismen und Vorrichtungen ausdenken. Was aber ist mit den Menschen und ihren Gefühlen?«
»Du bist kein Mensch. Jedenfalls nicht richtig.« Doch als er bemerkt, dass mir Tränen in die Augen treten, beeilt er sich zu sagen: »Aber auch an deine Gefühle habe ich gedacht, mein Lieber.«
Hoffnungsfroh sehe ich ihn an, wie er da im Eingang zu dem Korridor steht, hinter ihm der blaue Himmel und das Meer – die Freiheit, die ich jetzt zum letzten Mal sehen, riechen und hören darf.
»Ich weiß«, sagt Dädalus, »dass dir eigentlich die Königswürde zustünde. Dass ein … böses Schicksal dir dein Erbe und Anrecht verwehrt.« Er vergisst zu sagen, dass er es war, der dieses Schicksal herbeigeführt hat. Dennoch lausche ich erwartungsvoll seinen Worten. Was hat er mir zugedacht?
»Du wirst in deinem Palast«, sagte er, »einen Balkon finden, der sich auf einen großen Platz hin öffnet. Dort kannst du dich präsentieren und Reden halten. Und wenn du an dem hölzernen Knauf ziehst, den du neben der Brüstung siehst, wird dir dein Volk applaudieren und aus vielen Kehlen zujubeln.«
»Mein Volk?«
»So wird es sich anhören, ja. Ich habe lange an der Hydraulik getüftelt.«
Ich sacke in mich zusammen. Wieder nur eine mechanische Vorrichtung, eine Attrappe wie die, auf die mein Vater, der Stier, hereinfiel.
»Es wird dir gefallen. Da bin ich ganz sicher!«
Dädalus lächelt mir aufmunternd zu. Er tritt einen Schritt zurück, ins Freie, und legt einen Hebel um. Mit einem Knirschen senkt sich ein Wandstück herunter, um den Korridor zu verschließen. Ich könnte diese Stelle hier markieren, mit meinen Hörnern ein Kreuz in die Wand ritzen, damit sich sie wiederfinden und zerstören kann. Aber ich bin sicher, auch daran hat Dädalus gedacht und Mittel und Wege ersonnen, mich daran zu hindern, mich zu verwirren und zu narren und auf ewig zum Gefangenen in diesem Palast zu machen.
Er beugt sich herunter, um mir unter der langsam herabrutschenden Wand ein letztes Mal zuzuwinken.
»Sei nicht traurig! Du weißt ja …«, ruft er.
»Es ist für alle das Beste so«, wiederhole ich brav, was er mir immer wieder eingeschärft hat, »auch für mich.« Dädalus nickt lächelnd. Dann ist er hinter der Wand verschwunden. Mit einem dumpfen Laut schließt sie den Korridor ab, als habe sie immer schon dort gestanden.
Ich fühle mich ein wenig niedergeschlagen. Schließlich mache ich kehrt und betrete meinen Palast auf der Suche nach dem Balkon.