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Kapitel 2

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DETECTIVE TILLMAN zog eine Augenbraue hoch.

„Warten Sie. Es war genau hier. Wie ist …?“ Ich betrat den schmalen Schrank und drehte mich im Kreis. „Das verstehe ich nicht. Es war hier. Sehen Sie, in der Nische“, protestierte ich und zeigte auf die leere Lücke in der Wand.

„Ich verstehe“, antwortete Tillman in einem so unbegeisterten Tonfall.

„Das ist kein Scherz. Als ich es gefunden hatte, bin ich sofort aus dem Haus gelaufen. Das Haus war abgeschlossen – Sie haben es selbst gesehen. Niemand hat es betreten oder verlassen, bis Sie eingetroffen sind.“

„Und Herb hat die Tür bewacht?“

„Na ja, schon, aber …“

„Er könnte auch einen Orkan verschlafen“, sagte Tillman.

Ich verließ den Schrank und drehte mich um, damit ich in den dunklen kleinen Raum blicken konnte. „Es war hier.“

Tillman atmete geräuschvoll aus. „Wie man sich erzählt, leiden Sie unter Narkolepsie. Stimmt das?“

„Wie bitte?“ Ich sah ihn an. „Was soll das hiermit zu tun haben?“

„Ich habe gehört, dass Narkolepsie Halluzinationen auslösen kann.“

„Nicht während ich vollkommen wach bin und meiner Arbeit nachgehe“, widersprach ich. Meine Wangen erwärmten sich, als mein Blutdruck stieg. „Sie werden als hypnagoge oder hypnopompe Halluzinationen bezeichnet und kommen beim Einschlafen vor oder wenn ich gerade aufwache.“

„Vielleicht waren Sie dann schläfrig?“, gab Tillman zu bedenken.

„Ich war absolut wach“, zischte ich. „Und bei allem Respekt, meine Schlafstörung geht Sie nichts an.“

Das stimmte natürlich. Doch letztendlich handelte es sich bei Key West um eine kleine Stadt, in der Leute alles mögliche Zeug über andere wussten. Und da ich Verwalter einer der wichtigsten historischen Attraktionen der Insel war, kannte so ziemlich jeder den Schwanz liebenden Narkoleptiker, der eine pinkfarbene Vespa fuhr. Es war unvermeidlich.

Tillman stemmte die Hände in die Hüften. „Ich weiß nicht, was Sie sich davon versprochen haben, mich herschicken zu lassen.“

„Da war ein Skelett“, schrie ich und gestikulierte in Richtung des Schrankes.

„Ich möchte Sie bitten, auf Ihren Ton zu achten.“

Oh, das würde kein gutes Ende nehmen, wenn Tillman mich weiterhin wie einen Zwölfjährigen behandelte. Einige Einheimische hassten uns „Umgepflanzte“ sehr. Vielleicht gehörte Tillman ebenfalls zu ihnen.

„Es war hier“, sagte ich erneut, denn was hätte ich sonst sagen können?

„Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“, fragte Tillman. Ich beschloss, seinen Tonfall zu ignorieren.

„Ich weiß es nicht.“

„Haben Sie Überwachungskameras, deren Aufzeichnungen man sich ansehen kann?“

Ich hob den Kopf. „Wir haben Kameras, allerdings sind diese auf spezielle Gegenstände im Haus gerichtet. Ich könnte mir trotzdem alles ansehen. Vielleicht ist die Person, die sich ins Haus geschlichen hat, bei der Suche nach dem Skelett vor eine der Kameras geraten.“

„Vielleicht“, stimmte Tillman zu, ohne dabei zu klingen, als ob er tatsächlich zustimmte. „Wie lange war das Haus verschlossen?“

„Fünfzehn Minuten? Und davor bin ich um sechs angekommen und wir haben das Haus um Viertel vor acht geöffnet.“

„Warum waren Sie so früh hier?“

„Ich höre heute um zehn auf und nehme mir eine Weile frei. Da wollte ich vorher noch einiges schaffen.“

„Verreisen Sie?“, fragte Tillman.

„Nein. Mein … ähm, ein Freund besucht mich.“

Tillman warf mir einen fragenden Blick zu.

„Er ist nur ein Freund“, beharrte ich, was eine Halbwahrheit war, aber Tillman eigentlich auch nichts anging.

Tillman seufzte und wandte sich der Treppe zu. „Ich werde überprüfen, ob sich jemand an den Schlössern zu schaffen gemacht hat und mir das gesamte Gelände ansehen.“

„Und wenn Sie nichts finden?“, fragte ich, während ich ihm in die erste Etage folgte.

„Ohne irgendeinen Hinweis auf das angebliche Skelett in der Wand kann ich nicht gerade viel tun.“

„Ja, aber …“

„Haben Sie den Verstorbenen erkannt?“, fragte Tillman beim Gehen.

Ich blieb auf der letzten Treppenstufe stehen. „Skelette haben eher selten Gesichter.“

„Dann können Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ihn niemand vermisst, wenn er wirklich dort war.“

„Verstößt es nicht gegen das Gesetz, einen Toten zu stehlen?“, fragte ich, während ich Tillman nacheilte. „Und ihn in der Wand eines Hauses zu verstecken?“

„Ja“, sagte Tillman, der sich auf halbem Weg zum Erdgeschoss befand. „Aber es wurden in unserer Nähe weder auf einem Friedhof ausgegrabene Gebeine noch Plünderungen von Begräbnisstätten amerikanischer Ureinwohner gemeldet.“ Er wartete am unteren Ende der Treppe. „Ich habe nur Ihr Wort dafür, dass überhaupt ein Skelett hier war.“

„Und wieso reicht das nicht aus?“, fragte ich.

„Mr Grant“, sagte Tillman mit Nachdruck. „Ich werde mich umsehen und ich werde einen Bericht verfassen, aber wenn ein Skelett hier war, ist es das jetzt nicht mehr. Was soll damit passiert sein? Ist es aus dem Fenster geklettert?“

ICH STAND im Esszimmer mit Blick auf die Whitehead Street.

Obwohl ich nicht tatsächlich glaubte, dass Skelli eine Szene aus „Die Mumie“ nachgespielt hatte und allein aus dem Haus spaziert war, hatte mich Tillmans sarkastische Bemerkung auf eine Idee gebracht. Ich hatte die Vordertür abgeschlossen und die Hintertür schloss Herb für die Führungen sowieso niemals auf – der faule Kerl –, aber irgendjemand war irgendwie ins Haus eingedrungen und wieder verschwunden, während ich die Polizei angerufen hatte. Und wie wäre das möglich gewesen, ohne durch ein nicht verschlossenes Fenster zu klettern?

Das Esszimmerfenster konnte es jedoch nicht gewesen sein, denn es befand sich im vorderen Teil des Hauses, wo man es von der Straße aus, die sich nun mit Morgentouristen gefüllt hatte, gut sehen konnte, genau wie von Herbs Platz auf seinem Stuhl. Auch wenn er sich nicht als der beste Wächter erwiesen hatte. Jedenfalls blieb dann nur die Rückseite des Hauses, nicht wahr?

Wahr.

Ich verließ das Esszimmer und ging durch den Flur. Im Salon angelangt kletterte ich über die Kordel, die Besucher davon abhielt, ausgestellte Gegenstände zu beschädigen. Zwei Fenster überblickten dort den üppig bewachsenen Garten und die hintere Veranda. Dieser Bereich des Gebäudes war ausgesprochen gut vor Blicken geschützt. Durch die unzähligen Breiapfelbäume, die das Grundstück umgaben und die Helikonien, welche mich mit ihren riesigen Blättern beinahe überragten, war es hier nahezu unmöglich, von der Querstraße aus ins Haus oder das Innere des Gartens zu sehen.

Und da jemand so kühn gewesen war, am helllichten Tag ins Haus zu schleichen und ein verdammtes Skelett zu stehlen, hätte diese Seite des Hauses für Schutz gesorgt. Die Tatsache, dass mein geheimnisvoller Eindringling von meiner Entdeckung gewusst hatte, ins Haus gekommen und mit den sterblichen Überresten verschwunden war und all das in weniger als zwanzig Minuten, war so verstörend, dass ich mich mit diesen Einzelheiten noch nicht ganz so genau beschäftigen wollte.

Also: die Fenster.

Abgesehen davon, dass meine Reinigungskraft besser Staub wischen musste, fiel mir am linken Fenster nichts auf und es war fest verschlossen. Wir öffneten die Fenster des Smith-Hauses nicht. Sie hatten keine Fliegengitter und die Insekten in Florida waren eine echte Plage. Noch wichtiger war jedoch das antike Glas. Ich wäre ein sehr gereizter Chef gewesen, wenn es jemand unachtsam durch zu heftiges Schließen beschädigt oder gar zerbrochen hätte.

Ich wandte mich dem rechten Fenster zu und stellte fest, dass sich auf der Fensterbank noch etwas Farbe befand. Verärgert kratzte ich sie mit dem Fingernagel ab. „Verdammte Maler …“ Diese hatten vor zwei Wochen die Renovierung der Wände im Erdgeschoss abgeschlossen. Offensichtlich war einer von ihnen nicht großzügig genug mit der Plastikplane gewesen, um die originale Lackierung des Holzes zu schützen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um den Riegel zu überprüfen. Ein weiterer Farbklecks und … der Riegel war beschädigt.

Ich drehte mich um. Im Zimmer befand sich eine Kamera, doch sie war auf den Doppelsessel mit Tisch gerichtet, auf dem sich mehrere kleine Ausstellungsstücke befanden. Auch wenn es keine leichte Angelegenheit gewesen wäre, war es möglich, ihr auszuweichen, wenn man es wirklich wollte.

Wie lange war das Fenster schon nicht mehr sicher verschlossen? Einen Tag? Eine Woche? Schon bevor die Malerarbeiten begonnen hatten? Hatte einer der Maler das Fenster beschädigt und es nicht erwähnt, um nicht für die Reparatur aufkommen zu müssen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemand absichtlich getan hatte …

Vielleicht hatte ich die Ereignisse des Morgens wirklich nur geträumt. Ich meine, mal ehrlich! Ein Skelett im Haus, das von einem Einbrecher gestohlen wurde? Absurd. Dieser ganze Morgen war absolut lächerlich.

Als Tillman von außen an die Scheibe klopfte, zuckte ich zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Mit einer Bewegung seines Fingers bedeutete er mir, zu ihm zu kommen.

Ich brauchte so dringend eine Zigarette. Vielleicht hätte ich eine rauchen und mich vor Juns Ankunft mit Febreze besprühen können …

Ich verließ den Salon und betrat durch die Hintertür den Garten.

„Sie sind an diesem Morgen ausgesprochen schreckhaft“, stellte Tillman fest.

„Haben Sie etwas gefunden?“

Tillman verschränkte die Arme, nahm diese typische Einschüchternder-Polizist-Pose ein. Ich kannte sie. Egal aus welchem Bereich der Strafverfolgung – sie alle taten dasselbe. „An den Türschlössern gibt es keine Anzeichen für Fremdeinwirkung.“

„Was ist mit den Fenstern? An diesem ist der Riegel beschädigt.“ Ich zeigte auf das Fenster.

Tillman ignorierte die Frage. „Auf dem Grundstück war auch nichts zu finden.“

„Und das war’s dann?“

„Falls sich noch etwas ergibt, werden wir uns bei Ihnen melden.“

„Ich werde mir alle Überwachungsvideos ansehen“, beharrte ich.

„Tun Sie das bitte.“

Tillman ging. Er verließ die Veranda und verschwand auf dem Weg zum Eingangstor im Garten.

Der Typ konnte mich mal. Er war ein Arschloch. Es schien wirklich eine Grundvoraussetzung zu sein. Sind Sie ein totaler Wichser? Hier ist Ihre Waffe und Dienstmarke. Andererseits besaß ich eine ewige Schwäche für Männer in Uniform, woran ich selbst Schuld hatte. Seit meiner Jugend hatte ich nämlich unzählige Liebesromane gelesen, von denen mir die Geschichten mit Polizisten am besten gefielen. Leider war mir der sexy Held mit dem goldenen Herzen und einigen interessanten Ideen zur Verwendung von Handschellen nie im wirklichen Leben begegnet.

Bis ich Jun kennengelernt hatte.

Aber ich wollte die Sache mit ihm nicht beschreien. Vorsichtshalber klopfte ich auf die hölzerne Fensterbank hinter mir, damit sie mir hoffentlich Glück brächte.

„Aubs?“

Ich wandte mich um und sah Adam, der die Veranda betrat. „Ist Tillman gegangen?“

„Ja.“

„Er ist ein Idiot.“

„Ich glaube, er mag dich nicht“, stimmte Adam zu. „Was hast du getan?“

„Nichts“, sagte ich mit hängenden Schultern. „Das Skelett ist weg.“

„Ich habe gar nicht gesehen, wie Tillman es weggebracht hat.“

„Nein, ich meinte, dass es verschwunden ist.“

„Ich … ich glaube nicht, dass das möglich ist.“

„Was du nicht sagst.“ Ich näherte mich wieder dem Fenster und drückte von unten gegen den Rahmen.

„Was machst du da?“

„Ich versuche einzubrechen.“

„Die Tür ist direkt neben dir.“

Ich verdrehte die Augen und sah ihn an. „Ich überprüfe eine Theorie.“

„Und zwar?“

„Ich bin noch nicht sicher“, antwortete ich angestrengt, während ich mich darum bemühte, das Fenster ohne Hilfe des Griffs an der Innenseite zu öffnen. „Durch die abgeschlossenen Türen käme niemand rein, stimmt’s?“

„Stimmt“, sagte Adam.

„Aber durch dieses Fenster? Der Riegel ist nämlich beschädigt.“

„Also glaubst du, jemand ist reingeklettert und … hat das Skelett geklaut, von dem vor einer halben Stunde noch niemand gewusst hat?“, fragte Adam langsam. „Das ergibt nämlich sehr wenig Sinn.“

Ich hielt inne, um ihn wieder anzusehen. „Es ergibt überhaupt keinen Sinn.“

„Und warum versuchst du dann, das Fenster aufzubrechen?“

„Weil … ich weiß, dass ich es nicht geträumt habe“, beharrte ich. „Es war da. In seiner ganzen toten, knochigen Pracht. Aber jetzt ist es nicht mehr da und das stört mich.“

„Ich finde, du solltest dir eher Sorgen darum machen, was jemand mit einer Leiche vorhat, wenn er sie stiehlt.“

„Das ist ekelhaft, Adam.“ Ich drückte fester gegen das Fenster, woraufhin es sich stöhnend und quietschend hob. Mit einem triumphierenden Grinsen zeigte ich auf die Lücke. „Siehst du? Bitte sehr.“

Adam kam näher und stützte sich mit einer Hand auf das Fenstersims, um in den Salon zu spähen. „Eine größere Person hätte Schwierigkeiten, reinzukommen.“

Ich nickte und wollte gerade antworten, als ich von einer Welle der Erschöpfung überrollt wurde wie von einem Güterzug. Ich streckte die Hand nach dem Fenstersims aus, als mich der Müdigkeitsnebel übermannte. Die Schlafattacken fühlten sich stets seltsam an. Als fiele man in Zeitlupe um. Obwohl mir meistens noch genug Zeit blieb, um zu verhindern, dass ich mich verletzte, war es hilfreich, wenn sich jemand in meiner Nähe befand. Diesmal wachte ich nach kurzem Schlaf stehend auf, da Adam mich mühelos auf den Füßen hielt.

„… hasse es, wenn du einfach umkippst“, sagte er gerade.

„Was?“

„Wieder wach?“

„Ja, entschuldige.“ Manchmal schlief ich für einige Minuten ein, manchmal handelte es sich lediglich um Sekundenschlaf. Und es war nicht vorhersehbar. Nach einem kurzen Moment schlüpfte ich aus seinem Griff und tätschelte ihm den Arm. „Danke dafür.“

„Dafür bekomme ich schließlich vierzehn die Stunde.“

Ich schnaubte amüsiert und betrachtete das offene Fenster. Was wollte ich noch gerade … oh, genau. Ich beugte mich durch die Lücke und schaute hinein, um mir den Boden anzusehen. „Keine Fußspuren oder so und außer Staub war auch von innen nichts zu sehen.“ Ich entfernte mich etwas, um ein Bein durch das offene Fenster zu schieben. Dann steckte ich den Kopf hinein und bugsierte mit einer unkoordinierten kleinen Ballettvorführung auch den Rest meines Körpers hindurch. „Voilà.“

„Sehr beeindruckend“, sagte Adam mit ironischem Höflichkeitsapplaus.

Ich musste lachen.

„Und was nun, Herr Detektiv?“ Adam beugte sich vor, um mich sehen zu können.

Verdammt gute Frage. Was genau hatte ich damit bewiesen? Dass ich einen beschädigten Fensterriegel hatte und es von außen öffnen konnte. Im Haus schien nicht ein einziger Gegenstand angerührt worden zu sein. Es fehlte auch nichts. Außer dem Skelett, das nur ich gesehen hatte.

„Adam?“

„Ja?“

„Ich bin nicht … verrückt, oder?“

Er wirkte nachdenklich – oh Mann, wie unhöflich.

„Etwas“, sagte er. „Aber es ist die niedliche, harmlose Art von verrückt.“

„Bitte was?“

Adam hob abwehrend die Hände. „Du warst mal mit einem FBI-Agenten zusammen. Das finde ich ziemlich verrückt.“

„Ist das alles?“

„Und bist du nicht jetzt mit seinem Partner zusammen?“

„Wir sind nicht zusammen. Wir sind noch mit einem merkwürdigen Paarungsritual beschäftigt. Und Jun arbeitet nicht mehr mit Matt.“

Adam zuckte mit den Schultern. „Jedem das seine.“

BEIM DURCHSEHEN der Überwachungsvideos war ich bereits dreimal eingeschlafen. Es war nicht nur, gelinde gesagt, verdammt langweilig, sondern auch eine sehr passive Beschäftigung – mein schlimmster Feind. Fernsehen, Lesen, das Fahren auf der Autobahn – all das war so entspannend, dass ich mich dabei nicht für eine nennenswerte Zeitspanne konzentrieren konnte. Ich wäre beinahe vom College geflogen, weil es mir nicht gelungen war, während der Kurse wach zu bleiben und man meine Narkolepsie erst korrekt diagnostiziert hatte, als ich bereits dreiundzwanzig war. Daher hatten mich meine Professoren für faul und unmotiviert gehalten. Was hätte ich dazu sagen können?

Die Diagnose war ein Segen gewesen, da ich endlich gewusst hatte, was los war.

Ich musste ständig aktiv und konzentriert bleiben, weil sich sonst das überwältigende Bedürfnis nach Schlaf durchsetzte. Manchmal gelang es mir, dagegen anzukämpfen, aber meistens nicht. Es nervte, wenn mich ein solcher Sekundenschlaf mitten in einem Gespräch überfiel. Oder beim Essen. (Zu meiner Verteidigung muss gesagt sein, dass Salate langweilig sind.) Oder bei monotonen Aufgaben – wie Geschirrspülen –, die ich dann im Schlaf fortführte. In meinem Leben hatte ich durch dieses automatische Verhalten so viel Geschirr zerbrochen, dass nichts mehr zusammenpasste. Mittlerweile hatte ich mich mit der ungewöhnlichen bunten Zusammenstellung in meinen Schränken versöhnt.

Wie man sich als Narkoleptiker fühlt, ist nicht leicht zu erklären. Ich kann es nur wie ein Leben mit konstantem, extremem Schlafentzug beschreiben. Aber ich kam zurecht. Wenn man bedachte, dass ich unter allen Narkolepsie-Symptomen litt, von der Tagesschläfrigkeit bis hin zur Schlaflähmung, ging ich, meiner Meinung nach, ziemlich ordentlich damit um. Natürlich nervte es, aber na ja, es gab Schlimmeres. Und wenigstens besaß ich ein schickes Notfallarmband mit dem Wort NARKOLEPSIE, sodass bei den Gelegenheiten, bei denen ich an einem öffentlichen Ort plötzlich eingeschlafen war, niemand einen Herzinfarkt befürchtet hatte oder eine Überdosis oder … etwas ähnlich Schreckliches eben.

Mit einem Stöhnen rieb ich mir kräftig das Gesicht. Ein paar Minuten länger und ich würde erneut auf der Tastatur einschlafen. Es dauerte ewig, weil ich beschlossen hatte, mir mehr als nur diesen Morgen anzusehen. Schließlich hätte jemand … über Nacht im Haus versteckt gewesen sein können oder so. Ich wollte nichts übersehen, auch wenn vor den Kameras bisher nur Touristen aufgetaucht waren.

Als das „Dideldi“ eines eingehenden Skype-Anrufs ertönte, löste ich die Hände von meinem Gesicht. Meine Webcam schaltete sich ein und mein so gern in Schwierigkeiten geratender, antiquitätenbegeisterter Freund Sebastian Snow tauchte auf dem Bildschirm auf. Wir kannten uns aus alten Zeiten, als ich noch in einem Pfandhaus in New York gearbeitet und er nur von seinem eigenen Geschäft geträumt hatte. Jetzt besaß er einen coolen, wenn auch etwas bizarren Laden im East Village, mit dem er viel Erfolg hatte.

„Hey, Süßer“, sagte ich. „Du hast mir das Leben gerettet.“

„Habe ich das?“, fragte Sebastian.

„Und ob. Ich habe mir todlangweilige Überwachungsvideos angeschaut. Du siehst gut aus.“ Das sagte ich nicht nur aus Höflichkeit. Zwar war Sebastian nie mein Typ gewesen, doch seit er mit seinem neuen Freund zusammen war, fiel mir bei jedem unserer Gespräche auf, dass er gesünder wirkte. Und glücklicher. Man hätte wohl sagen können, dass er strahlte. „Ist das ein blaues Hemd?“

Sebastian sah kurz hinunter. „Zumindest sagt man mir das. Warum siehst du dir Überwachungsvideos an?“

„Was? Kein Aubrey, du siehst ebenfalls schneidig aus?“

„Du siehst schneidig aus“, antwortete er. „Was für Videos?“

„Du leidest unter einer krankhaften Besessenheit.“

Sebastian rückte seine Brille zurecht. „Solche Angelegenheiten kleben an mir wie Scheiße in Schuhprofilen.“

„Ein schönes Bild.“

„Ist alles in Ordnung da unten?“

Ich runzelte die Stirn und lehnte mich zur Seite, um einen Aktenschrank zu öffnen. „Ich bin nicht sicher.“ Ich griff weit in den Schrank, damit ich eine versteckte Schachtel Zigaretten herausholen konnte. Anschließend richtete ich mich auf, sah wieder den Bildschirm an und zog eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel. „Du musst mir versprechen, mich nicht wie einen Verrückten anzusehen.“

„In Ordnung.“

Ich schob mir die Zigarette zwischen die Lippen, widerstand jedoch dem Drang, sie anzuzünden. Allein das Gefühl war beinahe befriedigend genug. „Heute Morgen“, murmelte ich. „Als ich im Schrank war …“

Sebastian grinste.

„Hör auf.“

„Ich habe nichts gesagt.“

Ich verdrehte die Augen. „Ich war in einem großen Wandschrank im alten Haus, weil ich da die Tapete entfernen wollte. Dabei habe ich eine verborgene Nische in der Wand gefunden.“

Er wurde aufmerksamer und beugte sich zum Bildschirm vor. Gott, er brauchte ein paar neue Hobbys.

„Und, ähm … ein Skelett …“

„Skelett?“, fragte Sebastian über mich hinweg.

Ich bedeutete ihm mit einer Geste, zu schweigen – als ob das lange vorhalten würde. „Da war ein Skelett. Ich schwöre bei Gott, dass ich es gesehen habe. Es hat mich zu Tode erschreckt.“

Sebastian hob fragend die Hände. „Und?“

„Und … was?“

„Du hast ein Skelett gefunden. Was hast du damit gemacht?“

„Du reagierst darauf viel zu ruhig“, sagte ich und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Ich habe die Polizei gerufen. Ein Detective ist aufgetaucht, ich habe ihn nach oben gebracht – es war verschwunden.“

Sebastian zog eine Augenbraue hoch. Er wirkte wie ein Hund, der einen Reifen entdeckt hat und sich bereit machte, ihn zu jagen. „Wenn du Skelett sagst, gehe ich davon aus, dass es nicht … frisch war.“

„Nein, es war alt. Ein genaues Alter kann ich allerdings nicht angeben. Ich datiere lieber nautische Gegenstände als sterbliche Überreste.“

„Irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?“

„Er hat kein Namensschild getragen, Seb.“

„Sehr witzig. Du bist der Verwalter eines denkmalgeschützten Hauses.“

Ich drehte die Zigarette mit den Fingern und schob sie mir wieder zwischen die Lippen. „Hier hat nur die Familie Smith gelebt.“

Er starrte mich erwartungsvoll an.

„Kumpel, du musst dir ein paar neue Hobbys suchen.“

Sebastian runzelte die Stirn.

„Ich möchte nicht zu viel mutmaßen“, fuhr ich fort. „Aber … es gibt ein Gerücht … über Captain Smith. Sein Tod war eine umstrittene Angelegenheit und er ist nie auf dem Familienfriedhof gelandet.“

„Wo ist er gelandet?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt keine Beweise, dass die Geschichte stimmt. Er hat einen Gedenkstein drüben auf dem Friedhof von Key West. Einige Einheimische sagen auch, dass er der berüchtigte Pirat namens einäugiger Jack war und dass sein Geist im Haus spukt, also … sollte man nicht jedes Wort davon auf die Goldwaage legen.“

„Vielleicht wollte jemand verhindern, dass er von dir identifiziert wird“, schlug Sebastian vor.

Ich stellte fest, dass ich auf dem Zigarettenfilter kaute, weshalb ich sie wieder senkte. „Meinst du?“

Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollte das Skelett sonst verschwinden?“

Ich zupfte nachdenklich an einem meiner Ohrringe. „Klingt, als könnte die Sache gefährlich werden.“

„An deiner Stelle würde ich vorsichtshalber noch einmal mit der Polizei reden.“

„Der blöde Bulle glaubt, ich hätte es erfunden“, brummte ich.

„Ich kann Calvin um einige Anrufe bitten. Vielleicht gelingt es ihm, jemanden so zu ängstigen, dass er zuhört“, bot Sebastian an.

„Ich brauche die Hilfe deines Freundes nicht“, sagte ich und wedelte mit der Hand. „Jun hat einen größeren Einflussbereich.“

„So nennt ihr Jungs das also?“

„Was wolltest du überhaupt?“, fragte ich streng.

Sebastian gab einen leisen Laut von sich und lächelte. „Vor kurzem habe ich einen für die Verwendung auf See bestimmten Werkzeugsatz erworben. Ich hatte gehofft, dich vor deinem Mittagsschlaf zu erwischen, damit du mir etwas dazu sagen kannst.“

„Mittag?“ Ich sah auf die Uhr. „Scheiße, es ist wirklich Mittag?“, schrie ich.

Sebastian zuckte zusammen. „Ähm, ja. Geht es dir gut?“

„Oh, Gott. Ich muss los.“

„Aubs“, rief Adam.

„Ich habe Jun über zwei Stunden am Flughafen stehen lassen.“ Ich sprang auf.

„Aubrey“, sagte Adam abermals an der Tür.

Ich drehte mich hastig um, ließ die Zigarette fallen und suchte den Schreibtisch nach meinem Handy ab. „Was ist?“

„Du hast ihn am Flughafen stehen lassen?“, wiederholte Sebastian.

„Mein Handy ist weg“, antwortete ich laut.

„Jemand will dich sprechen, Aubrey“, versuchte es Adam erneut.

„Moment“, rief ich.

„Ich glaube, du warst zu lange single“, merkte Sebastian nachdenklich an.

„Oh, mein Gott, oh, mein Gott“, stöhnte ich. Unterlagen fielen vom Schreibtisch, als ich suchte. Vermutlich hatte Jun hundertmal angerufen und sich gefragt, wo ich war. Ich hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren – und offenbar auch mein Handy.

„Hier ist ein Typ, der zu dir will“, beharrte Adam.

„Sag ihm, er soll warten“, fauchte ich.

„Ich mache jetzt lieber Schluss“, sagte Sebastian und das Skype-Gespräch endete.

Ich schob meinen Stuhl aus dem Weg, um unter meinen Schreibtisch zu kommen. „Für so was habe ich jetzt keine Zeit.“

„Hi, Aubrey.“

Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mit dem Kopf gegen die Tischplatte stieß. „Au. Scheiße.“ Ich sank auf den Boden, um mir den Kopf zu halten. Dann drehte ich mich um und mein Blick fiel auf Beine und einen Trolley an meinem Schreibtisch. Ich kroch darunter hervor und hob den Kopf.

Jun Tanaka. Leibhaftig.

Mein Herz stotterte kurz. Wir waren uns seit zwei Jahren nicht mehr persönlich begegnet, und zu diesem Zeitpunkt war ich noch mit seinem damaligen Partner ausgegangen. Die Sache mit Matt und mir hatte unschön geendet, weshalb ich überstürzt auf Amerikas Schwanz geflüchtet war. Ich verdankte es Sebastian, dass ich jemals wieder mit Jun gesprochen hatte. Hätte er nicht dringend wegen irgendeiner komplizierten Angelegenheit, in die er um den Valentinstag herum verwickelt gewesen war, Kontakt zum FBI aufnehmen müssen, wäre Jun jetzt nicht hier gewesen.

Ich hätte nie erfahren, dass Jun seit Jahren in mich verliebt war.

Jun lächelte auf mich herab, wobei sein ganzes Gesicht strahlte und kleine Fältchen neben seinen Augen auftauchten.

Ja. Für diese versehentliche Verkupplung musste ich mich unbedingt bei Sebastian bedanken.

„Jun.“ Ich kämpfte mich auf die Füße.

Er breitete die Arme aus und beugte sich zu mir herunter. Als ich Jun das letzte Mal gesehen hatte, war er lediglich ein attraktiver, scheinbar heterosexueller Agent gewesen. Jetzt, nachdem wir ungefähr eineinhalb Monate jeden Tag geredet und am Telefon oder bei Skype geflirtet hatten, stand er vor mir. Immer noch attraktiv – vielleicht sogar noch mehr als vor zwei Jahren – und, wie ich seitdem erfahren hatte, ein absolut gar nicht heterosexueller Agent.

Wegen der ersten Berührungen hatte ich mir so viele Sorgen gemacht. Es war dieselbe Aufregung und Nervosität, die man beim ersten Treffen mit einer im Internet kennengelernten Person verspürte, nur dass es mir noch seltsamer vorkam, weil hier bereits eine gewisse persönliche Beziehung vorlag. Aber ja – die erste Umarmung. Sollte ich mich dabei auf etwas Freundschaftliches beschränken? Oder etwas Intimes daraus machen? Würde es sich richtig anfühlen, ihn auf diese Weise zu berühren? Oder würde augenblicklich eine Alarmglocke in meinem Kopf schrillen, die mir mitteilte, dass wir nicht für mehr als eine Freundschaft bestimmt waren? Hätte er dann seinen gesamten Urlaub umsonst für diesen Besuch bei mir verschwendet?

Ach, scheiß drauf.

Ich legte meine Arme fest um seinen Hals. Jun war wesentlich größer, gefühlte zwei Meter. Da ich ihn deshalb auf diese Weise nicht gut an mich ziehen konnte, senkte ich die Arme, schob sie unter seinen hindurch und schlang sie in Brusthöhe um ihn. Juns Arme legten sich auf meine Schultern und er streichelte mir durchs Haar.

Ich lächelte.

Oh ja.

Das war sie.

Die Perfektion, die in meinem seltsamen Leben gefehlt hatte.

„Es tut mir so leid“, sagte ich, während ich mich etwas löste, um zu ihm aufzusehen.

Jun lockerte ebenfalls seinen Griff, ließ seine Hände jedoch auf meinen Schultern liegen. „Das macht nichts.“

„Und ob es das tut. Ich wollte um zehn fahren, um dich abzuholen, aber ich war so durcheinander und abgelenkt, dass es jetzt Mittag ist und …“

„Es ist nicht schlimm, Aubrey“, beharrte er.

Jun hatte eine tiefe Stimme. Sehr tief. Und wenn er japanisch sprach? Dann wurde sie ernsthaft noch eine Oktave tiefer. Na ja, falls das möglich war. Es war wirklich schade, dass es sich bei ihm um einen verhältnismäßig ruhigen Menschen handelte, denn ich hätte ihm voller Begeisterung endlos lange zugehört. Vor einer Woche hatte ich mich online umgesehen, um herauszufinden, ob tiefe Stimmen eine Art Fetisch waren oder ich allmählich verrückt wurde. Wie sich herausstellte, belegten Studien, dass Männer mit tiefen Stimmen häufiger bei der Partnerwahl bevorzugt wurden.

Tja, die Wissenschaft konnte also nicht meine Narkolepsie heilen, aber immerhin bewies sie, dass ich bereit gewesen wäre, mit Jun mehrere Kinder zu zeugen, wenn die biologische Möglichkeit bestanden hätte.

Seufzend musterte ich ihn. Ich erinnerte mich nicht, ihn jemals in etwas anderem als seinem „Ich bin FBI-Agent“-Anzug gesehen zu haben. Daher war andere Kleidung bei ihm ein überraschender Anblick. Zwar hatte ich im Urlaub keine Krawatte erwartet, aber mit der engen schwarzen Hose und dem modernen T-Shirt mit etwas tieferem Ausschnitt wirkte er, als wäre er einem Modemagazin entstiegen. In seinem sonst glatt rasierten Gesicht waren leichte Stoppeln zu sehen und anstelle seiner Kontaktlinsen trug er eine Brille mit schwarzem Gestell. Juns Haar war professionell zerzaust – der So-bin-ich-schon-aufgestanden-Look. Es war sexy.

„Wie g…“, begann er.

„Du siehst echt heiß aus“, platzte es aus mir heraus.

Jun verstummte, blickte über meine Schulter hinter mich, wo vermutlich noch Adam herumlungerte, und lächelte. Er hob eine Hand, um mir erneut übers Haar zu streicheln.

„Wie bist du hergekommen?“

„Ich habe ein Auto gemietet.“ Jun ließ mich los, woraufhin ich mir augenblicklich das warme Gewicht seiner Hände zurückwünschte. „Ich habe versucht, dich anzurufen, aber habe nur die Mailbox erreicht.“

„Ja, ich glaube, ich habe mein Handy verlegt“, brachte ich als ziemlich armselige Entschuldigung vor. Ich betrachtete das bei der Suche danach verursachte Chaos.

Adam räusperte sich und zog die Augenbrauen hoch, als ich mich umdrehte. „Also ist alles cool?“

„Cool“, antwortete ich. „Entschuldige. Ähm, Adam, das ist Jun Tanaka. Mein … mein – tja.“ Ich lachte und legte eine Hand auf Juns Arm. „Jun, das ist Adam Love. Er leitet den Souvenirshop.“

Jun nickte. „Angenehm.“

„Ebenfalls“, antwortete Adam. „Aubs redet viel über Sie.“

„Ich rede nicht v…“ Ich unterbrach mich und sah Jun an. „Sollen wir irgendwo zu Mittag essen?“

Mord in Key West

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