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Vom Objekt der Belehrung zum Subjekt des Lernens

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Joseph Eigenmann (je): Ich frage mich jeweils, ob in jedem Fall Lernen stattfindet, wenn ich unterrichte. Die jeweilige Unterrichtsstufe spielt dabei gar nicht unbedingt eine Rolle. Oder wird manchmal nur so getan, als ob gelernt wird? Ich befürchte, dass die Jugendlichen und Erwachsenen, vor allem mit tieferem Bildungsniveau, verhältnismässig wenig lernen, wenn sie in der Berufsausbildung sind, und dass sie einen ganz grossen Teil des rasch angeeigneten Wissens wieder vergessen.

Jürgmeier (jm): Für mich ist die Frage, warum Jugendliche im Schulkontext tendenziell wenig und in anderen Kontexten zum Teil sehr viel lernen. Es gibt Jugendliche, die betreiben fast professionell Sport, das ist mit sehr viel Mühsal, Krampf, Schweiss verbunden, und längst nicht alle kommen am Schluss an die Olympischen Spiele oder spielen in der Champions League. Trotzdem trainieren sie oder gehen mehrmals pro Woche in Tanzgruppen, total seriös und trotz aller Frustrationen. Die gleichen Jugendlichen sitzen in der Schule desinteressiert da.

je:Was mich an deinem Gedankengang aufhorchen lässt, ist, dass motivierte Lernende, die schulunabhängig ihren Weg machen, sich einsetzen, sich überwinden, auf etwas strukturiert hin arbeiten und trainieren, das ist das eine, und ich sage: Grossartig, ist es so, ist das ein Problem für uns? Nein, im Gegenteil, es müsste doch so sein, dass im Unterricht immer dasselbe passiert. Warum passiert es dort nicht?

jm:Genau darum ist es ein Problem, weil es eben nicht passiert.

je:Ja, aber warum ist es so? Weil die Lernenden gar nicht wissen, was sie tun sollen, sie können die Vorgaben, die der Unterricht macht, nicht interpretieren, sie können viele Ziele nicht zu ihren eigenen machen, weil in dieser Auseinandersetzung, in dieser Zieldiskussion etwas fehlt.

Georges Kübler (gk): Meine Aufgabe ist es, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, die gestellten Anforderungen zu erfüllen, sie möglichst fit für die Anforderungen zu machen, und nicht, sie dazu anzustiften, die Anforderungen zu ändern. Es nützt nichts, wenn sie infrage stellen können, ob das Curriculum wirklich dem entspricht, was die Praxis fordert. Das Qualifikationsverfahren kommt, und das Verdikt «nicht bestanden» kommt.

jm:Ich setze dem entgegen: So werden Lernprozesse verhindert. Das habe ich zur Genüge gesehen.

Dagmar Bach (db): Und ich habe im Coaching die Aufgabe, beides unter einen Hut zu bringen, und das ist auch das, was mich an dieser Situation reizt: Ich versuche auf der einen Seite, mit meinem Expertenwissen über Bildung und über das, was in einer Bildungsinstitution Erfolg hat, die Lernenden in diesem Bereich fitter zu machen. Gleichzeitig will ich als Coach mein Gegenüber in seinen Autonomiebestrebungen unterstützen, und das ist natürlich in dieser Situation etwas ganz, ganz Schwieriges.

jm:Für mich ist es eine gigantische Verschwendung von Lebenszeit der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrpersonen, was in Schulen passiert. Irgendetwas läuft total schief, wenn man sieht, wie interessiert an allen Dingen Kinder sind und wie in sogenannten Bildungsinstitutionen, in denen sich die Menschen Know-how, Wissen über Zugänge zur Welt aneignen sollten, Leute plötzlich mit leerem, uninteressiertem Blick dasitzen. Und das liegt nicht an diesen Jugendlichen, die haben Interessen.

gk:Unser Buch heisst «Lernen möglich machen», dieser Titel trifft es: Lernen unter den gegebenen Umständen möglich machen.

jm:Das hast du jetzt eingeschoben – «unter den gegebenen Umständen».

gk:Das ist meine Motivation.

jm:Und meine Motivation ist es, zu sagen: Unter den gegebenen Umständen funktioniert es nicht.

db:Und ich glaube, es kann unter den gegebenen Umständen trotzdem funktionieren. Das interessiert mich an dieser Situation, weil ich natürlich weiss, dass meine bescheidene Person gewisse Dinge vielleicht verändern kann, nicht aber das ganze, grosse System. Meine eigenen Kinder mussten sich in diesem System bewegen, die Jugendlichen heute müssen das auch. Und da möchte ich einen Anstoss dazu geben, dass sie das etwas souveräner tun können.

gk:Ich habe immer wieder und zunehmend gestaunt, dass sich Lehrerinnen und Lehrer aus dem Kollegium nicht mehr daran erinnern, wie sie selbst gelernt haben, was ihnen nicht gepasst hat. Viele Lehrpersonen verengen ihren Blickwinkel auf das, was ihnen in drei Jahren Didaktik-Unterricht eingetrichtert wurde, planen Unterricht in einer Art und Weise, die sie als Lernende nie und nimmer akzeptiert hätten. Man unterwirft sich vermeintlichen Gegebenheiten – Lehrplanvorgaben, Zielvorgaben, die es in dieser Rigidität nicht gibt – statt Freiräume, die es gibt, zu suchen und auszunützen. Das ist mein Anliegen an Kolleginnen und Kollegen – schaut mal gewisse Dinge anders an, probiert, experimentiert, fallt auf die Schnauze, auch das hat einen Lerneffekt, und für die Schülerinnen und Schüler unter Umständen einen viel positiveren.

jm:Und ich möchte die verzweifelten Lehrpersonen entlasten, sie können machen, was sie wollen – es funktioniert nicht, sie sind nicht schuld, die Grundbedingungen an sich sind lernfeindlich.

gk:Entlasten ja, aber ich möchte nicht paralysieren, und ich glaube, allzu viel Entlastung von den ach so bösen Umständen paralysiert. Mein Anliegen ist es zu deblockieren.

jm:Ich habe zu viele Lehrpersonen in Weiterbildungen gesehen, die unter dem Anspruch, sie müssten erreichen, dass ihre Schülerinnen und Schüler motiviert lernen, fast zusammengebrochen sind. Wenn ein SVP-Bildungsrat im Fernsehen erklärt, die Lehrpersonen seien für die Erstellung der Motivationsbereitschaft der Lernenden zuständig, dann halte ich das für äusserst problematisch. Lehrpersonen haben auch Burnouts, weil sie von sich selbst mehr verlangen, als einlösbar ist. Wenn man jeden zweiten Tag eine neue Didaktik einsetzt, weil man möchte, dass es endlich funktioniert, halte ich es für eine Entlastung, zu sagen: Das entzieht sich unserem Einfluss.

je:Das mit der Motivation ist natürlich fragwürdig, das ist das, was die Lehrpersonen zur Überforderung führt. Für mich ist das jetzige System gar nicht so problematisch. Es kann sich ändern, wenn wir uns darin ändern. Ich bin diesbezüglich nicht Pessimist, sondern Optimist, wenn ich von der These ausgehe, dass Lernende und Unterrichtende gleichermassen für das Gelingen verantwortlich sind. Wenn wir das als Grundsatz ernst nehmen, dann können wir im jetzigen System viel erreichen.

jm:Ich sage nicht: Die Schule muss weg. Es kann aber sein, dass sie weg muss. Das weiss ich noch nicht. Aber die zum Teil verbreitete resignative Hinnahme, Lernen sei etwas, was Menschen eigentlich nicht wollten, man müsse sie irgendwie dazu prügeln oder verführen – das kann ich nicht akzeptieren, wenn ich sehe, wie viele Warum-Fragen kleine Kinder stellen. Und plötzlich haben sie keine Fragen mehr? Die interessante Frage ist für mich: Wie muss Schule sein, damit Neugier weiter besteht, damit die Lernenden lernen wollen und Forderungen an die Lehrpersonen haben, oder muss Lernen ganz anders organisiert werden?

je:Die Voraussetzung ist, dass Lernende wollen, und damit sich dieses Wollen entwickeln kann, braucht es entsprechende Rahmenbedingungen im jetzigen System. Für mich ist es wichtig, diese Rahmenbedingungen detailliert anzuschauen.

db:Lernen, und da haben wir vielleicht auch einen Widerspruch, Lernen ist hier für mich das Nachvollziehen von etwas, das schon da ist und schon mal gedacht wurde. Es geht da im Grunde um einen Generationenvertrag in der Bildung; wir Älteren möchten gerne, dass etwas von dem, was uns wesentlich erscheint, an die jüngere Generation weitergegeben wird. Neues entsteht da meiner Meinung nach nicht direkt.

jm: Ich bin froh um diese Erklärung und stimme dir zu – wir haben eine völlig andere Vorstellung von Lernen.

db:Neues entsteht aus Gelerntem, und das ist ein kreativer, nicht planbarer Akt, meiner Meinung nach …

je:… und für mich ist der Lernprozess immer ein kreativer Akt, weil für mich immer neu ist, was ich lerne, und sonst ist es kein eigentliches Lernen.

jm:Lernen funktioniert nur, wenn Schülerinnen und Schüler das Subjekt des Lernens sind, das heisst, in erster Linie müssen die Lernenden Regie führen, nicht andere, aber im Moment ist es umgekehrt. Die zentrale Frage ist: Wie werden Menschen im Kontext Schule zu Subjekten des Lernens? Oder ist organisierte Bildung nur für die einen geeignet, brauchen andere ganz andere Wege, um sich das anzueignen, was wir als Bildung bezeichnen?

je:Lernende sollen Regisseurinnen und Regisseure des eigenen Lernens werden, dem pflichte ich bei. Ich glaube, das ist wichtig. Andrerseits stellt sich die Frage: Gibt es Lernende, die nicht in das traditionelle Bildungssetting hineinpassen und ihren eigenen Weg wählen? Diese Frage ist für mich offen; ich würde solche Lernenden akzeptieren, sie sind bei mir im Unterricht willkommen, kein Problem.

jm:Konkretes Beispiel: Ich hatte in Klassen immer wieder Diskussionen über das sogenannte Stören. In diesen Gesprächen ist, mindestens teilweise, herausgekommen, dass nicht in erster Linie die Schülerinnen oder Schüler die «störenden» sind, die, gemessen an den Noten, Schwierigkeiten haben, sondern andere. Jene nämlich, die, nach eigener Aussage, nicht in die Schule kommen, um zu lernen, sondern wegen der sozialen Kontakte, lernen sie besser zu Hause. Und das stimmte teilweise auch. Ich konnte solchen Schülerinnen und Schülern, in Absprache mit dem Rektor, einen Vertrag anbieten, der es ihnen ermöglichte, nur zur Schule zu kommen, wenn es aus ihrer Sicht nötig war beziehungsweise wenn es Prüfungen gab, die sie ablegen mussten. Sie mussten sich ihr Wissen und ihre Kompetenzen selber organisieren, damit sie die obligatorischen Elemente absolvieren konnten. Leider machten nur sehr wenige Schülerinnen oder Schüler von diesem Angebot Gebrauch, vermutlich, weil sie Angst hatten, ihr Lehrbetrieb würde den Vertrag nicht – wie von der Schule verlangt – mitunterschreiben.

Lernen ist meine Sache (E-Book)

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