Читать книгу Lernen ist meine Sache (E-Book) - Dagmar Bach - Страница 7
Georges Kübler Trotzdem lässt die Schule Lernen zu
ОглавлениеAdna, Blerim, Claudio, Daniel und Eldin
Die folgenden Geschichten von fünf jungen Menschen handeln von beruflicher Bildung. Nur die Namen stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein.
Der Notenspiegel von Adna F. während dreier Jahre Berufsfachschule drückte vor allem eines aus: Diese Schülerin mit Semesterzeugnisnoten zwischen 5,0 und 5,5, ausnahmsweise mal einer 4,5, hatte keine schulischen Probleme. Sie zeigte Engagement, und der betriebene Aufwand hielt sich ganz offensichtlich in Grenzen. Meine Instant-Charakterisierung von Adna, eine schlechte Lehrerangewohnheit, hätte wohl Zuschreibungen beinhaltet wie: «eher bequem», «nur mässig am Unterricht interessiert», «oft abgelenkt», «hilfsbereit». Ich behielt es für mich, da Adna nie Anlass gab, mich mit andern über sie auszutauschen, mir Gedanken zu machen bezüglich Leistungen, Verhalten oder sonst was. Mit der Abgabe der Abschlussarbeit, einer eindrücklichen Autobiografie, wurde dann vieles klar, was im Laufe der Ausbildungszeit hätte auffallen können, jedoch immer unter dem Radar durchging. Adna hatte oft und phasenweise recht intensiv an familiären Problemen zu kauen, hatte sich mit ihrem geliebten älteren Bruder abgemüht, der in die Spirale Drogen – Kleinkriminalität – Suizidalität geriet. Selber verstolperte sie sich immer mal wieder im selben Milieu, hatte Abstürze, kämpfte mit und gegen Bruder, Eltern und falsche Kollegen.
Blerim K. installierte bei uns das Wasser und die Heizung im ausgebauten Dachstock. Den ungefähr 25-jährigen Sanitärinstallateur engagierte ich auf Empfehlung von Nachbarn und habe es nicht bereut. In kurzen Arbeitspausen erfuhr ich das eine oder andere vom jungen türkischen Familienvater. Mit 19, gleich nach erfolgreichem Lehrabschluss, habe er sich selbstständig gemacht. Seither führt er eine kleine Firma mit einem Festangestellten, hat bei guter Auftragslage ein paar Temporäre zur Hand und bietet einen 24-Stunden-Pikettservice an. In der Berufsfachschule habe er ein paar wichtige Dinge gelernt, die ihm beim Schritt in die Selbstständigkeit gedient hätten. Den Berufsschüler Blerim habe ich nicht gekannt, obwohl ich zur selben Zeit knapp hundert Meter entfernt an einer anderen Berufsfachschule tätig war. Ich stelle ihn mir aber als interessierten, eher selbstsicheren jungen Mann vor, vielleicht mit etwas Mühe im Fach Sprache und Kommunikation – das könnte aber auch völlig falsch sein.
Claudio N. war – ich muss es gestehen – kein Lieblingsschüler von mir. Er hatte auf allen Kommunikationskanälen kundgetan, dass ihn das, was hier ablief, nicht interessiere. Es fand sich auch kein richtiger Anknüpfungspunkt, wo etwas wie Motivation oder Antrieb aufblitzen konnte. Entsprechend waren die Leistungen im Fach- wie im allgemeinbildenden Unterricht. Die prekäre Notenlage, aber auch Versäumnisse, Verspätungen und andere disziplinarische Störmanöver machten gelegentlich schulseitige Interventionen im Lehrbetrieb notwendig. Mit geringem Erfolg, denn unglücklicherweise absolvierte Claudio die Lehre im väterlichen Betrieb, so wie sein älterer Bruder, ein ehemaliger Schüler von mir. Leider hatte auch dieser in Sachen Engagement und Leistungen ein eher getrübtes Bild hinterlassen, was bei mir Wiedererkennungsreflexe auslöste und vielleicht auch ungerechte Übertragungen auf den jüngeren Bruder bewirkte. Die selbstständige Vertiefungsarbeit von Claudio am Ende der dreijährigen Lehre hat mich dann gleichermassen gefreut wie beschämt. Nachdem wir zusammen Thema und Vorgehensweise ausgetüftelt hatten, legte sich ein verwandelter Claudio dermassen ins Zeug, dass seine kluge, differenzierte Abschlussarbeit mit Fug und Recht eine glatte Sechs verdiente. Bei aller Freude, ich war beschämt, dass es mir nicht gelungen war, das Potenzial schon früher anzuzapfen.
Daniel W. war ein ruhiger, anständiger Schüler, einer, den man gerne hat in einer unruhigen Klasse, unauffällig und daher keine besondere Aufmerksamkeit erheischend. Natürlich fielen die in Noten umgerechneten schlechten Leistungen bald einmal auf. Solange sie aber noch nicht in alarmierende Tiefen absanken, konnte man hoffen, dass Daniel halt etwas mehr Zeit brauchte, um in Fahrt zu kommen. Im Laufe der Ausbildungsdauer zeichnete sich immer häufiger ab, dass er oft überfordert war, sich aber bemühte, seine Sache so gut wie möglich zu machen, und so die Überforderung zu kaschieren versuchte. Während der ganzen drei Jahre schleppte sich das so dahin. Daniel kam immer knapp mit, nicht selten mithilfe der Kameraden, wahrscheinlich auch mit eigenem Einsatz, und er schaffte es schliesslich auch knapp durch die Abschlussprüfung.
Eldin U. wirkte mit seiner Irokesenfrisur und dem subtilen Machismo, den er ausstrahlte, ohne dass er ihn permanent ausspielte, wie eine schlummernde Provokation. Da er fast immer unter der Provokationsschwelle agierte, ging das leidlich gut, zumal sein Interesse gelegentlich auch dem Unterrichtsinhalt galt. Der Friede wurde immer dann brüchig, wenn sich Eldins Interesse stärker auf die Interaktionen und den eigenen Status in der Klasse ausrichtete. So konnten sich Konflikte zwischen ihm und Mitschülern schnell und unmittelbar entladen, nicht erst in der Pause. Mir gegenüber war er nur selten aufbrausend, halblaute Proteste und passiver Widerstand waren häufiger. Es gelingt mir auch im Rückblick nicht, den «wahren» Eldin zu erfassen. Bereits zu Lehrbeginn fuhr er mit seinem BMW vor («der zweite, tiefergelegte steht zu Hause in Kosovo»), und Geschichten von Unfällen und Polizeivorsprachen machten die Runde. Was stimmte? Falls es stimmte, woher stammte das Geld? Was musste ich wissen, was allenfalls weitermelden? Wenn Eldin dann am Unterrichtstag plötzlich wieder für zwei Stunden verschwand, wenn er sich mit abenteuerlichen Begründungen vom Sport dispensieren liess, wenn die Polizei auf dem Parkplatz vorfuhr oder der Lehrbetrieb, eine Institution des Vollzugs, zwei Wochen Abwesenheit infolge Timeouts ankündigte, dann ergaben sich fast zwangsläufig Fragen nach dem Hauptinteresse und dem eigentlichen Sinn der Ausbildung.
Die fünf Porträts könnten herangezogen werden, um die Vielfalt in der beruflichen Grundbildung zu belegen, die oft zitierte Heterogenität mit Gesichtern und Geschichten zu bebildern und sie noch mit dem Nachsatz zu unterstreichen, dass die Wirklichkeit noch viel differenzierter sei. Nicht das ist der Zweck der Porträts und dieses Textes, genauso wenig wie ein weiteres Mal die Schwierigkeiten von Klassen- und Unterrichtsführung zu beschwören. Es geht hier um das genaue Gegenteil von Wehklage, nämlich darum, pädagogische Optionen zu denken und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Lernen auch unter erschwerten Bedingungen in Gang kommen kann. Dafür, dass fünf reale Menschen herhalten müssen, um daraus Prototypen zu destillieren, entschuldige ich mich bei ihnen, und gleichzeitig bedanke ich mich, dass sie mir die Augen geöffnet haben für den anderen, den zweiten Blick. Fortan stehen die Namen, beziehungsweise die sie repräsentierenden Lettern, nicht mehr für lebendige Menschen, sondern für Kategorien.
Typ A ist aus Sicht der Lehrperson eine scheinbar problemlose Schülerin. Besondere Aufmerksamkeit erfordern nicht Defizite in Leistung und Verhalten, sondern das schlummernde, brachliegende Potenzial.
Typ B lernt aus innerer Überzeugung, er will gefördert werden und nimmt vorhandene Förderangebote auch an. Er benötigt keine individuellen, auf ihn abgestimmten Massnahmen, sondern holt sich aus dem Angebot das, was ihm nützlich scheint und seine aktuellen Lernbedürfnisse befriedigt.
Typ C bringt wenig erkennbare Lernmotivation mit. Übereinstimmungen zwischen subjektiven Interessen und dem Lernangebot sind nicht augenfällig. Typ C erfordert von den Lehrpersonen ein unvoreingenommenes, genaues Hinsehen und Hinhören, um eine Passung zwischen Interesse und Angebot zu erreichen. Es fehlt Typ C nicht primär an kognitiven oder stofflichen Voraussetzungen.
Typ D steht für Lernende, die einer spezifischen individualisierten Förderplanung bedürfen, welche nur dann erfolgversprechend ist, wenn sie sich auf erlebte Selbstwirksamkeit und echte Erfolgserlebnisse abstützt.
Typ E stellt Fragen nach grundsätzlicher Sinnklärung bezüglich Berufswahl und Lebensplanung in den Vordergrund.
Pädagogisch erfolgreich handelt, wer ein Sensorium entwickelt hat, das ihm zu erkennen erlaubt, weshalb Lernen nicht gelingt. Die Klippen im bestehenden System von Schule wie auch in der beruflichen Grundbildung orten zu können, hilft, sie zu umgehen. Das nächste Kapitel wirft einen systematischen, aber unvollständigen Blick auf Lernhemmnisse und nennt eine Reihe von strukturellen und habitualisierten Mechanismen, die weitverbreitete Lernbehinderungen verursachen. Im dritten Kapitel folgen Überlegungen und Postulate zur Kontraindikation, der pädagogischen Lernförderung, im vierten werden didaktische Optionen vorgestellt und Bausteine zum Ausprobieren angeboten.
Lernhemmnisse – warum Lernen oft nicht gelingt
Lernen ist ein urmenschlicher, natürlicher Vorgang, wahrscheinlich gar eine anthropologische Existenzbedingung. Wir befassen uns hier aber mit angewandter Pädagogik, nicht mit Anthropologie, und speziell mit der Frage, was zu tun ist, wenn Lernen nicht oder nur verzögert stattfindet. Oder, und das kommt der Wirklichkeit näher, wenn Lernen nicht im erwünschten Ausmass oder in der erwarteten Geschwindigkeit stattfindet. Dass Lehrpersonen ihr Lehren planen können, jedoch nicht das Lernen ihrer Schüler und Schülerinnen, ist zwar keine neue Erkenntnis, wird aber im schulischen Alltag nur allzu oft übersehen, unter Missachtung der Formel «Gelehrt ist nicht gelernt».
Lernbehinderungen und Lernhemmungen
Wird Lernen schwierig, ist oft von Lernschwierigkeiten die Rede. Ein Terminus, der in diesem Text nicht mehr weiter vorkommen wird und allgemein aus pädagogischen Texten verbannt werden sollte. Er suggeriert, dass da etwas mit einem Menschen nicht stimmt, und blendet aus, dass die Schwierigkeiten meistens ganz woanders angesiedelt sind als bei der Schülerin oder beim Schüler. Die nachfolgenden Begriffe sind wesentlich geeigneter, um pädagogisches Handeln in Gang zu setzen. Auf streng wissenschaftliche Definitionen und Taxonomien wird verzichtet, für den pädagogischen Alltagsgebrauch genügen die folgenden Begriffsbestimmungen:
•Lernbehinderungen sind im eigentlichen Wortsinn real vorhandene Hindernisse beim schulischen Lernen und nicht als subjektive Defekte zu verstehen. Auch wer mit einer Diagnose behaftet ist (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyslexie, Autismus …), ist lernfähig und sollte aus pädagogischer Warte nicht auf seine Diagnose reduziert, sondern als ein lernfähiges Subjekt betrachtet werden. Pädagogische Arbeit ist nicht therapeutische Arbeit. Defekte und Störungen zu diagnostizieren und im Anschluss daran zu behandeln, ist Aufgabe der dafür ausgebildeten Therapeutinnen und Therapeuten. Pädagoginnen und Pädagogen schaffen Arrangements, um Entwicklungen zu fördern – Entwicklungen von Personen, so wie sie sind. Die pädagogische Relevanz einer Lernbehinderung liegt nicht im Defekt einer Person, sondern in den Ansprüchen, denen sie mit ihren spezifischen individuellen Voraussetzungen zu genügen hat.
•Lernhemmungen sind natürliche Widerstände, «die prinzipiell in jedem menschlichen Lernprozess enthalten und zu überwinden sind», denn «lernen muss man das, was man noch nicht kann. Und was man noch nicht kann, lernt man selten auf Anhieb. Deshalb gehören Lernhemmungen ebenso zum menschlichen Lernen wie die Lernfähigkeiten einerseits und Lernaufgaben andererseits» (Hauschildt, 1998, S. 143f.). So gesehen, sind Lernhemmungen sinnvoll und als normale menschliche Disposition zu akzeptieren, keinesfalls sind sie ein therapiebedürftiges Persönlichkeitsmerkmal.
•Lernhemmnisse umfassen Lernbehinderung und Lernhemmungen.
Lernhemmnisse hemmen das Lernen. So trivial die Aussage, so klar das Gegenmittel: Lernbehinderungen müssen aus dem Wege geräumt oder umgangen werden, wenn das Beseitigen zu aufwendig ist. Lernhemmnissen ist mit einer pädagogischen Grundhaltung zu begegnen und mit jenen didaktischen Mitteln beizukommen, die Lernprozesse überhaupt erst zulassen und im besseren Fall unterstützen.
Historisch-gesellschaftlich bedingte Lernbehinderungen
Eine ziemlich perfide Lernbehinderung ist geschichtlich verankert und gesellschaftlich geformt, sodass sie im Alltag fast unkenntlich, aber höchst facettenreich das schulische Lernen von früh an behindert.
Die staatliche Volksschule in der Schweiz hat ihren Ursprung im Gedankengut der Französischen Revolution und der liberalen Bewegungen in der Schweiz. Die Stossrichtung dieser Kräfte war die Befreiung von kirchlichen Dogmen und aristokratisch geprägter Unterordnung. Eine der Speerspitzen im Kampf dafür war die Bildung des Volkes durch eine neu zu schaffende Volksschule, durch Gymnasien und Universitäten. Das zentrale Anliegen dieser Volksbildungsbewegung war, die breite Bevölkerung, unabhängig von Herkunft und Vermögen, zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. In Zürich unterstand das Schulwesen bis 1830 der reformierten Landeskirche. Mit dem Unterrichtsgesetz von 1832 setzte die Staatshoheit über die Bildung ein. In seiner Ansprache «Volksbildung ist Volksbefreiung», die er 1836 vor dem Schweizerischen Volksbildungsverein hielt, forderte Heinrich Zschokke von der Volksschule, sie solle den Menschen von blindem kirchlichem Glauben frei machen und zu eigenständigem Denken erziehen. Wissen und Bildung für das gemeine Volk als Sprengstoff gegen klerikale und feudale Gefängnisse, als Hebel der Modernisierung und des bürgerlichen wie des sozialen Aufbruchs ist ein bald 200-jähriger Auftrag an die Schulbildung aller Stufen.
Dafür, dass die Befreiung nicht aus dem Ruder laufe, hat der Staat als neuer Volksschulträger frühzeitig gesorgt mit Instrumenten und Mechanismen, die noch immer dem bewahrenden Auftrag der Schule die Dominanz gegenüber dem emanzipatorischen verleihen. Verbindliche Lehrpläne halten fest, in welchen Fächern und mit welchen Inhalten all die nützlichen Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, Handarbeit und Hauswirtschaft erlernt werden sollen. Um ganz sicherzugehen, dass die Schule das mit der Volksbefreiung nicht übertreibe und in erster Linie das Fundament lege für staatstreue Bürger, für tüchtige Arbeitskräfte und aufopfernde Mütter und Hausfrauen, sind eine Reihe weiterer Steuerungs- und Normierungsvorgaben eingebaut. Die Schule hat nicht nur dafür zu sorgen, dass gelesen wird, sie bestimmt auch, was gelesen werden soll – und dasselbe auch beim Schreiben. Es wird geahndet, was ausserhalb der tolerierten Normen steht, sei es der falsche Schriftträger, fehlerhafte Rechtschreibung oder gar unbotmässige Inhalte. Auch Promotionsordnungen und sortierende Schulstufen, die Architektur von Schulen, Schulzimmern und Schulzimmereinrichtungen, nicht zu vergessen der Pausengong, sind weitere Elemente, die für Anpassung, Gehorsam und Disziplinierung sorgen, also in erster Linie dafür bestimmt sind, den bewahrenden Auftrag der Schule zu gewährleisten.
Die normierende und bewahrende Funktion der Schule ist weitgehend im System abgesichert: im obligatorischen Pflichtprogramm und durch mannigfache Rituale und Konventionen, beispielsweise in Form von Bewertungen und Selektion, in der Ausbildung von Lehrpersonen, in Probelektionen und der (lohnwirksamen) Qualifikation bis zur Pensionierung. Das begründet die Dominanz dieser bewahrenden gegenüber der befreienden, der Selbstentfaltung verpflichteten Funktion. Diese hat ihren Platz – im besseren Fall – im Kürprogramm der Lehrpersonen. Wahlthemen und Randstunden, ausserordentliche Anlässe und Belohnungszugeständnisse sind die tolerierte Nebenbühne dafür.
Liegt es eventuell am Selbstverständnis der Lehrpersonen, dass emanzipatorische Ziele so oft das Nachsehen haben? Ich denke eher nicht, denn es gibt wohl wenige in ihren Reihen, die in ihrem pädagogischen Credo nicht Werte wie «Selbstentfaltung fördern» hochhalten. Und die Fachliteratur überquillt mit Appellen an die Lehrpersonen, sich, «über den Tellerrand hinaus ... als Agenten des Wandels ... mit Veränderungen auseinanderzusetzen, ... als kreative Mitgestalter der Schule als lernendes Unternehmen» (Müller, 2007). Weshalb also müht sich der Pädagoge als ein Sisyphos am Berg der Sachzwänge ab? Vorauseilender Gehorsam? Hat er das verhängnisvolle Götterurteil nie schriftlich verlangt, gar nie nachgefragt, ob es denn dieser schwere Brocken sein müsse, ob er ihn unbedingt allein stemmen müsse? Ist es ihm nie in den Sinn gekommen, wenigstens einmal ohne Ballast aufzusteigen und sich eine andere Perspektive zu eröffnen?
Lehrpersonen agieren in aller Regel auf der Grundlage eines mittelständisch geprägten, auf liberaler, christlicher Tradition ruhenden Bildungsverständnisses, das in unterschiedlicher Ausprägung die Bildungspläne aller Stufen durchdringt. Dient dieses Bildungsverständnis der gleichberechtigten Entwicklung aller Bildungssubjekte? Und fast noch wichtiger, inwieweit deckt es sich mit deren subjektiven Vorstellungen und Zielen? Im Klartext: Von sogenannt Bildungsfernen, von strukturell und/oder intellektuell Benachteiligten oder von Menschen mit Migrationsbiografien kann nicht ernsthaft erwartet werden, dass sie vorrangig am klassischen Bildungskanon interessiert sind und willig auf den hinteren Plätzen sitzen bleiben, wenn vorne die gesellschaftlichen Chancen verteilt werden. Sie haben ausreichend eigene und fremde Erfahrungen, um daran zu zweifeln, dass sich Erfolg einstellt, wenn man sich nur genug anstrengt. Genug hiesse angesichts des schlechten Startplatzes mehr zu tun als all jene, die mit Vorsprung in die Rallye der Chancenverteilung starten.
Strukturelle Lernbehinderungen
Einige der mannigfaltigen strukturellen Lernbehinderungen, von der Absenzenregelung bis zur Zimmerbestuhlung, sind im Text von Jürgmeier ausführlich beschrieben. Hier begnüge ich mich damit, auf deren Existenz hinzuweisen.
Diagnose-Förder-Karusselle
Das, was ich als Diagnose-Förder-Karussell bezeichne, ist ein ausgesprochen verbreitetes Phänomen, das an vielen Berufsfachschulen in Gang gesetzt wird, meistens zu Beginn einer Ausbildung, im Laufe des ersten Quartals. Landauf, landab werden Eintrittstests und Lernstandserhebungen durchgeführt. Mit unterschiedlichen Instrumenten, Marke Eigenbau oder eingekauft, werden Mathematik- und Sprachleistungen objektiv erhoben, mit Soll- und Durchschnittswerten verglichen, das Ganze manchmal gar auf dem Gebiet der Sozial- und Selbstkompetenzen. Solche Klassenscreenings finden in manchen Schulen oft flächendeckend statt. Sie zeigen in erster Linie Standardabweichungen Einzelner, machen zum Zeitpunkt X gemessene Rückstände in Bezug auf definierte Anforderungsstandards sichtbar, und im besten Fall geben sie einigen Lernenden auch Auskunft über ihre Reserven in Bezug auf die Minimalanforderungen.
Früherkennung ist ein häufig benützter Begriff für solche zum Standard gewordene Übungen, um allen Beteiligten die Notwendigkeit von Stütz- und Fördermassnahmen vor Augen zu führen, belegt mit Zahlen und Quoten. Der Zweck besteht darin, vom Besuch der nachgelagerten Angebote zu überzeugen (wen?), die unter ganz unterschiedlichen Titeln (Stützkurse, Förderkurse, Lernateliers …) angeboten werden und versprechen, die erkannten Defizite zu beheben. Nach den absolvierten zwanzig bis vierzig Lektionen entlässt das Karussell die Passagiere und wartet auf den Einsatz im Folgejahr. A prima vista scheint es sehr plausibel, Förderkursaufgebote an die Befunde von Diagnostikscreenings zu koppeln. Problematisch wird es dann, wenn solche Kernaussagen einschlägiger Publikationen isoliert rezipiert und verkürzt umgesetzt werden: «Die zentrale Frage für die Berufsbildenden an Berufsfachschulen in der Phase der Früherfassung lautet: Bringen die Lernenden die nötigen Voraussetzungen mit, um die schulischen Leistungsziele ... zu erreichen?» (Grassi et al., 2014, S. 47). Problematisch deshalb, weil es dazu führt, den Blick einseitig auf die Defizite zu richten, und in der Folge, analog zum Vorgehen der Schulmedizin, die vermeintlich probaten Gegenmittel verabreicht werden.
Diagnostik-Förder-Karusselle drehen alljährlich ihre Runden mit ungebrochenem Glauben ihrer Betreiber an die selbst zugeschriebene Wirkung. Bei dieser rituellen Mechanik ist kaum Platz für Fragen, dabei gäbe es ein paar ganz zentrale angesichts des betriebenen Aufwands, der notabene in den meisten Curricula weder inhaltlich noch mit der nötigen Zeitdotierung budgetiert ist:
•Ist die Wirkung der Förderprogramme nachgewiesen, wird sie auch mittel- und langfristig geprüft?
•Ist Lernmotivation durch Mahnfinger und Knüppel tatsächlich ein probates Mittel für Lernanstrengungen?
•Sind die Angebote optimal auf die erhobenen Mankos abgestimmt?
•Wie werden Erfolgserlebnisse sichergestellt, die anerkanntermassen wichtig sind für wirksame Lernprozesse?
•Weshalb werden nur Lernende mit ungenügenden Resultaten gefördert?
Wie berechtigt diese Fragen sind, zeigt das Resümee einer grossen Berufsfachschule, das sich auf eine mehrjährige Erfahrung bei den Elektroberufen stützt, einem der meistgewählten Berufsfelder industriell-gewerblicher Richtung. Es dürfte mit Sicherheit kein Sonderfall sein: Früherfasst wurden schulweit alle Lernenden im ersten Lehrjahr, dabei stellte man in rund 40 Prozent aller Fälle einen Förderbedarf fest, grossmehrheitlich in Mathematik. Rund 50 Lernende beziehungsweise 90 Prozent der «Förderbedürftigen» des betreffenden Berufs besuchten anschliessend Stützkurse aufgrund ihres Defizits. Erstaunlich dann das Resultat der Wirkungsmessung jeweils ein paar Wochen nach Stützkursende mit dem identischen Test wie in der Früherfassung: Es gibt keine oder nur sehr geringfügige Unterschiede im Vergleich zur Leistung beim Schuleintritt. Anzumerken ist, dass besagte Schule die Förderkurse auf vorbildliche Art durchführt: an zusätzlichen Schulhalbtagen, ergänzt mit nachgelagerten Kursblöcken samstagvormittags – besucht von rund 50 Prozent der Stützkursabsolvierenden (wegen noch unbefriedigender Lernerfolge). Zusätzlich laufen weitere Förderprogramme, wie die betreute Aufgabenhilfe von Montag bis Samstag. Nullwirkung schon kurze Zeit nach den Stützkursen! Dabei wird die eigentliche Wirkung, auf die solche Förderung implizit ausgerichtet ist, meines Wissens nirgends erfasst: Wie erfolgreich schliessen die Stützkursgeförderten ihre Ausbildung in den entsprechenden Fächern ab? Oder anders formuliert: Hat das Diagnose-Förder-Karussell seinen Anspruch, Defizite zu beheben, erfüllt, die Versprechen gegenüber den Lernenden eingelöst?
Diagnostikfalle
Die Köder in der Diagnostikfalle sind mit arithmetischer Genauigkeit nachgewiesene Defizite. Die Falle schnappt bei all jenen zu, denen ein wissenschaftlich errechnetes Ungenügen kein ausreichender Lernanreiz ist. Sei es, dass sie um ihre Defizite wissen und schon längst in der Spirale der negativen Attribuierung (vgl. J. Eigenmann in diesem Buch) gefangen sind; sei es, dass entweder ihr aktuelles Selbstbild oder die persönlichen Prioritäten keine genügende Motivationsgrundlage für die Defizitbehebung darstellen. Zugeschnappte Diagnostikfallen wie auch allzu grosse Soll-Abweichungen erzeugen unweigerlich hartnäckige Lernhemmungen.
Diagnostik per se der Fallenstellerei zu bezichtigen, wäre falsch. Es gibt Lernende, die bekannte und/oder aufgezeigte Lücken schliessen wollen, es gibt auch solche, für die ein externer Fingerzeig durchaus Lernprozesse in Gang setzen kann (vgl. Typ B). Diagnoseinstrumente sind ebenfalls geeignet, Potenziale und vorhandene Stärken sichtbar zu machen. Diagnostikverfechter preisen die mitgemeinte Ressourcenförderung denn auch oft und gerne an. Und dennoch münden in aller Regel Übungsanlagen mit der Bezeichnung «Früherfassung» oder ähnlich in eine Empfehlung zur Aufarbeitung der Defizite, die Vorlieben und besonderen Fähigkeiten bleiben aussen vor. Ich unterstelle, dass die meisten Diagnosen in Berufsfachschulen auf der Sekundarstufe II, unter welchem Titel auch immer, einer Denkfigur folgen, wonach zuerst die Defizite zu erkennen und zu beheben sind, bevor man vorhandene Ressourcen (Interessen und Fähigkeiten) entwickelt. Aussagen wie diese werden an mancher Berufsfachschule als Empfehlung gelesen, um unmittelbar zur Tat zu schreiten: «Am Ende der Früherfassung bekommen die Lernenden von den Berufsbildenden aller drei Lernorte eine differenzierte Rückmeldung. Im Fokus stehen dabei zunächst Lernende mit Unterstützungsbedarf oder schlechter Passung (Anforderung zu tief oder zu hoch) sowie Lernende, bei denen ein Abbruchrisiko besteht» (Grassi, 2014, S. 45). Das heisst, es werden Stützkursempfehlungen, -einladungen oder gar -aufgebote verfasst. Der wichtige Nachsatz im Text von Grassi wird dann oft und gerne überlesen: «In solchen Situationen treffen sich alle Beteiligten an einem runden Tisch, analysieren die Lage und entscheiden im Einvernehmen über das weitere Vorgehen.» Diese Defizit-zuerst-Denkfigur ist auch gesetzlich untermauert: Freifachbesuch setzt genügenden Notendurchschnitt voraus (BBV Art. 20, Abs. 3), was für all jene bedeutet, die auch nach der Stützkursdusche im Noten-Grenzbereich verbleiben, dass sie vom Freifachunterricht weitgehend ausgeschlossen sind – in Anbetracht der Bedeutung des Ressourcenbegriffs eine Absurdität. Die Ressource, die Quelle, nährt den Fluss, das gilt gleichermassen für den Lernfluss. Ressourcen bilden den Ausgangspunkt von Entwicklungen und müssen deshalb auch im Zentrum aller Lehrbemühungen stehen.
Stützkursfalle
Wer die Diagnostikfalle mit einem Manko-Etikett verlässt, läuft Gefahr, in der Stützkursfalle zu landen. Man muss nicht so weit gehen, dem Stütz- und Förderunterricht jedwede positive Wirkung abzusprechen, obwohl es empirische Befunde gibt, die belegen, dass Stützunterricht sogar dysfunktional ist (Moulin, 1998). Die Stützkursfalle schnappt aber dann unerbittlich zu, wenn Fördermassnahmen gegen den Willen der defizitbehafteten Schüler und Schülerinnen angeordnet werden, meist und gerne im Anschluss an diagnostiziertes Ungenügen. Für viele Lernende, die bereits Bekanntschaft gemacht haben mit Stütz- und Förderbemühungen, sind solche Erfahrungen mit Enttäuschung, persönlicher Kränkung oder Fatalismus verbunden. Werden sie ein weiteres Mal mit Nachdruck oder gar offenem Druck dahin getrieben, gibt es primär ein Ziel: entkommen oder in den Abwehrmodus gehen. Das erneute Bearbeiten von Defiziten ist ein schlechtes Lernmotiv und lässt deshalb keine grossartige Erfolgsprognose erwarten. Oder wie gerne tun Sie die Dinge, die Sie am wenigsten gut können, wie erfolgreich lösen Sie Aufgaben, an die Sie mit Misserfolgserwartungen herantreten? Widerstände und Misserfolgserwartungen gehören mit zu den stärksten Verursachern von Lernbehinderungen.
Der bestmögliche Fall, von dem die meisten Diagnostik-Apologeten per se ausgehen, tritt ein, wenn ein Lernender einsieht, dass aufgrund seiner erkannten Lücken und Defizite Fördermassnahmen notwendig sind, wenn die Lücken nicht allzu gross und ausreichend Ressourcen vorhanden sind. Dies ist eine günstige, aber noch keine ausreichende Voraussetzung, um die Stützkursfalle zu umgehen. Damit nachhaltiges Lernen tatsächlich erwartet werden kann, müssten die Förderangebote dann noch mit den Zielen der Benützer korrelieren und auf die individuellen Ressourcen abgestimmt sein. Schematische Förderangebote erfüllen diese Voraussetzungen nicht oder nur in zufälligen Ausnahmen, es fehlt ihnen die personalisierte, einvernehmliche Lernplanung.
Lehr-Lern-Irrtümer
Vier Lehr-Lern-Irrtümer scheinen unausrottbar, und das, obwohl wahrscheinlich kaum jemand zu finden ist, der sie verteidigen würde. Diese Irrtümer, nachfolgend richtiggestellt, sind:
•Gelehrt ist nicht gelernt. Diese Formel wie auch Abwandlungen und Verfeinerungen davon (gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht begriffen) sind trivial und kaum bestritten. Trotzdem wird im Alltag laufend dagegen verstossen. Welche Lehrperson kennt nicht Lehrerzimmersätze der folgenden Art, meist noch gestisch verstärkt: «… ich habs ihnen doch erklärt», «… der will das einfach nicht begreifen», «… dieser Klasse muss ich alles zweimal sagen»? Spätestens bei Lernkontrollen tritt nicht selten zutage, was schon Generationen von Lehrpersonen zur Verzweiflung brachte und keine Didaktik bisher gemeistert hat: Was genau die Lernenden mit dem gelehrten Inhalt anfangen, entzieht sich weitgehend dem Einfluss der Lehrenden.
•Lehrziele sind keine Lernziele. Auch wenn das in praktisch allen Lehrplänen so steht und es die klassische Schule der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Endlosschlaufen stipuliert: Die von der Institution, der Schule und der Lehrperson geplanten Ziele sind nicht Lernziele, sondern Lehrziele. Zu Lernzielen werden sie erst, wenn die Zielscheiben, pardon, die Lernenden das damit Bezeichnete auch tatsächlich lernen wollen, es zu ihrem eigenen Ziel machen.
•Das Lehrmittel vermittelt nicht den Stoff, es bildet ihn lediglich ab, und zwar so dicht und komplex, dass die von Krapf kolportierte Behauptung in den mehr als zwanzig Jahren seit ihrer Publikation nichts von ihrer Relevanz verloren hat: «Bei der Einführung eines neuen Lehrmittels müsse man [die Lehrperson] mindestens einmal das ganze Buch mit einer Klasse durchgearbeitet haben, bevor man den Stoff genügend beherrsche. Durch das Lehren würde man schliesslich die nötige Sicherheit gewinnen.» Und er folgert: «In welch hoffnungsloser Lage sind die Schülerinnen und Schüler, die trotz der geringeren Vorbildung den Stoff schon im ersten Durchgang beherrschen sollten» (Krapf, 1995, S. 23).
•Der Grundlagen-zuerst-Irrtum dürfte darauf fussen, dass eine logische Figur mit einer lernpsychologischen Abfolge verwechselt wird. Sprachlogisch baut das Besondere auf dem Allgemeinen auf, Lernprozesse funktionieren gerade umgekehrt. Die Neugierde und der Wunsch, etwas zu können, zielen zuerst auf das Konkrete, die Anwendung, den Einzelfall, den Output, das Produkt. Das Interesse an Regeln, an Erklärungen ist nachgelagert; «Grundlagen sind Endpunkte des Lernens» (Kuster, 2011, S. 11), Fragen nach Zusammenhängen von Einzelphänomenen können erst gestellt werden, wenn die Phänomene bekannt sind. Wer mit den Grundlagen der Bewegungsabläufe beginnt, lernt niemals gehen. Oder näher beim schulischen Lernen: Grammatik büffeln ist kein besonders guter Einstieg in eine neu zu lernende Fremdsprache.
Lerngespenster und Schuldämonen
Lerngespenster wirken umso stärker, je mehr man an sie glaubt, und sie verlieren ihren Schrecken, wenn sie ans Licht gezerrt werden. Die bekannteren unter ihnen sind diese:
•Die fehlende Motivation kann sich in stummer Symbol- und Körpersprache äussern, aber auch lautstark artikuliert oder eskapistisch (Ablenkungshandlungen, innere Immigration). In der perfektioniertesten Form versteckt sie sich hinter einer Interesse simulierenden Attitüde: die Schülerin, die scheinbar an den Lippen der Lehrerin hängt, während im inneren Kino der Film über das letzte Wochenende abläuft.
•Die Null-Bock-Haltung ist die grössere Schwester der fehlenden Motivation. Sie präsentiert sich oft und gerne trotzig, verbunden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Imponiergehabe.
•Eine negative Klassendynamik mit latent lernfeindlicher Grundstimmung ist die gespenstische Zusammenrottung von fehlender Motivation und Null-Bock-Haltung. Sie entwickelt sich oft unbemerkt, schwillt an, bis sie bleiern durch den Raum schwebt und doch nirgends und bei niemandem eindeutig festgemacht werden kann.
•Die fehlende Leistungsbereitschaft und andere Mankozuschreibungen aus der gleichen Familie, beispielsweise «geringes Durchhaltevermögen», «mangelhafte Konzentrationsfähigkeit», geistern durch Lehrerzimmer und werden von Berufsbildnern, Branchenvertretern und Prüfungsexpertinnen beschworen. Sie müssen herhalten als vorschnelle und oft pauschalisierende Erklärungen für ganz unterschiedliche Phänomene wie persönliche Schwierigkeiten mit Lernenden, sinkende Erfolgsquoten oder einfach dafür, dass nichts mehr so ist wie früher.
Von einer anderen Art, aber nicht minder störend sind jene Schuldämonen, die sich das System und dessen Akteure selbst einbrocken. Auch dazu ein paar besonders hartnäckige Exemplare:
•Der Stoffdruck drückt in erster Linie die Lernenden, während er die Lehrenden dazu antreibt, zu viel Stoff in zu wenig Zeit durchzupeitschen, unbesehen davon, wie gut die Lernenden folgen können. Die Bosheit hinter dem Stoffdruck ist die, dass er sich unablässig daran zu laben scheint, den Lehrpersonen wie den Lernenden die Freude und Begeisterung auszutreiben.
•Der Lehrplanzwang tritt äusserst selbstbewusst auf, nimmt gerne die Gestalt einer unverrückbaren Realität an mit dem Effekt, dass dadurch sein dämonisches Wesen aus dem Blickfeld gerät. Dieses zeigt sich etwa dann, wenn ich mich genötigt fühle, Themen zu besprechen oder Fertigkeiten zu beüben, obwohl für mich oder die Klasse im gegebenen Zeitpunkt anderes bedeutsam wäre.
•Arbeitsblätter können in ganz unterschiedlicher Gestalt ihre zersetzende Wirkung ausüben, als spröde Lückentexte im A4-Format, als verführerisch aufgemachte Lerndossiers oder als elektronische Dateien. Unheimlich daran ist, dass Arbeitsblätter und deren Surrogate eingesetzt werden, weil sie da sind, weil sie mit viel Mühe erstellt wurden und oft die Erkenntnis der Erstellerin oder des Erstellers in verdichteter Form enthalten. Darob geht vergessen, dass der Erkenntnisgewinn das Resultat des Herstellungsprozesses ist – die Lernenden aber diesen Weg nicht abschreiten können, wenn sie Textlücken füllen, Zuordnungen machen und dergleichen mehr.
•Frontalunterricht wird so oft verteufelt, dass er zum Buhmann in der Familie der didaktischen Formen geworden und doch gleichzeitig sehr prominenter Dauergast in fast allen Schulstuben ist. Weshalb peinigt er als Negativstereotyp so viele Lehrpersonen, wenn sie gewahr werden, welchen Anteil er an ihrer Lehrtätigkeit einnimmt? Besonders stark trifft es Lehrpersonen, die von der Lernwirksamkeit eigenaktiver Stoffaneignung überzeugt sind.
•Die Normalverteilung oder auch Gauss’sche Kurve ist die fieseste Figur unter den Noten- und Bewertungsdämonen. Dem schemenhaften Glockenbild folgend, verteilen Lehrpersonen nach einer Klassenarbeit die Noten der einzelnen Schüler aufgrund dieser imaginären Kurve. Individualleistungen werden nicht mehr in Bezug auf die Zielerfüllung, sondern in Relation zur Klasse beziffert. Das beruht auf einem fatalen Irrtum. Die Normalverteilung bildet lediglich die statistische Leistungsverteilung einer grossen Population ab, und nur in ganz seltenen Zufallskonstellationen entspricht sie auch dem Leistungsmuster einer Schulklasse.
Wie immer bei Metaphern gilt es, sich von ein paar Unstimmigkeiten ab- und den Kernaussagen zuzuwenden: Gespenster und Dämonen sind ungemütlich, gelegentlich boshaft, manchmal auch unheimlich, solange man an sie glaubt. Sie werden schnell entzaubert, wenn sie auf Rationalität und Überzeugung stossen, hier auf die pädagogische Überzeugung, dass sich unsere Lernenden grundsätzlich weiterentwickeln wollen, dass sie mit Ressourcen ausgestattet sind, deren Potenzial es zu nutzen gilt für gelingendes Lernen. Eine zentrale pädagogische Aufgabe besteht darin, stereotype Attribuierungsreflexe zu durchbrechen, und dabei hilft, um die Gespenster-Metapher ein letztes Mal zu bemühen, die Gewissheit, dass Lerngespenster keine realen Lernhemmer sind, sondern nur allzu oft bequeme Vorwände, um eigenes Handeln nicht überdenken zu müssen.
Normierungsfalle
Das Problem von Normierungen, ganz egal, auf welchem Gebiet, ist in aller Regel nicht die Norm, sondern die Normabweichung. Wie aufgezeigt, liegen der Diagnostikfalle und der Stützkursfalle festgestellte Normabweichungen zugrunde. Eine Fundgrube für normative Vorstellungen, was Lernende benötigen, um zu reüssieren, sind Lehrpläne mit ihren verbindlichen Setzungen. Solche findet man in Form von Lernzielen, Handlungskompetenzen, Pflichtprodukten, Begriffen usw., und als verbindliche Vorgaben sind sie auch bewertungsrelevant. Beispiele gewünscht? In aktuell gültigen Schullehrplänen für den allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen stehen solche Lernziele: «den eigenen Lerntyp beschreiben», «Mindmap anwenden», «die gesellschaftliche Stellung der Berufslehre und der Berufslernenden im geschichtlichen Zusammenhang erklären». Mit Verlaub, man kann eine Matura und ein Universitätsstudium abschliessen, ohne die geringste Ahnung von seinem Lerntyp zu haben und ohne je eine Mindmap gezeichnet zu haben. Das drittgenannte Lernziel scheint mehr ein professioneller Standard für Lehrpersonen zu sein als ein notwendiges Basiswissen, das Lernende im ersten Lehrjahr einer dreijährigen Ausbildung im Rahmen von acht Lektionen erwerben sollten. Auch die als verbindlich erklärten Begriffe wie «Oligopole», «Dubliner Abkommen», «drei Pfeiler der EU» oder «Zersetzer» (unter dem Aspekt Ökosysteme) in einem Lehrplan für dreijährige Berufslernende wirken schon ziemlich bizarr.
Die eigentliche Perfidie der Normierungsfalle sind unausgesprochene Normen in Form von Erwartungen, von Durchschnittswerten oder «Normalverhalten», die zum Massstab genommen werden, mit dem man Menschen vermisst, die weder von der Existenz dieses Massstabs, geschweige denn von dessen Skalierung Kenntnis haben. Solche Normvorstellungen geistern dann in einzelnen Köpfen herum, gelegentlich auch als kollektive Normen in Kollegien, und haben den Effekt, dass sie zu impliziten Kriterien für die Berechtigung an der Ausbildung gedeihen, so oder ähnlich aufgeschnappt: «Wer Niveau B2 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) in Deutsch nicht erreicht, ist chancenlos bezüglich Abschlusserfolg», «Wer die sieben Bundesräte nicht kennt, gehört nicht an die Abschlussprüfung». Für solche Normvorgaben kann man gerne auch mal das eigene Denken durchforsten, wer wird ehrlicherweise nicht fündig? Man verstehe mich nicht falsch, Sprachkompetenz auf Niveau B2, staatskundliches Grundwissen und noch vieles mehr sind durchaus nützliche Dinge, aber sind es auch notwendige Bedingungen für den Ausbildungserfolg? Müssen alle da durch? Mit welchem Aufwand müssen Normabweicher ihren «Rückstand» verringern, und was verpassen sie in dieser Aufholzeit? Oder umgekehrt gefragt: Weshalb können schwere Legastheniker Unternehmen führen und Spitzenpolitik betreiben?
Konzepte gegen Lernhemmnisse
Wer schnödend in Kochtöpfen stochert, in denen überlieferte Gerichte zubereitet werden, sollte dafür einen Grund anführen können. Ich versuche mich zu erklären. Vorausschicken möchte ich, dass ich nicht alles, was in diesen Töpfen traditionellerweise gekocht wird, für ungeniessbar halte. Möglicherweise sind die Gerichte sogar für einen namhaften Teil der Speisenden bekömmlich oder doch zumindest ohne unerwünschte Nebenwirkung. Der Grund liegt im Fokus auf die sogenannt schwächeren Lernenden, deren «Lernschwächen» weder als Persönlichkeitsmerkmal noch als Folge eines bestimmten Sozialstatus zu werten sind, sondern primär darin liegen, dass für sie viele der bisher aus der Bildungsküche servierten Gerichte nicht zuträglich waren.
Pädagogische Lernförderung
Das Rezept, um Förderfallen zu umgehen, liegt in der förderpädagogischen Kernforderung: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. So verbreitet diese Forderung ist, so selten findet man eine konsequent umgesetzte Praxis in unseren Berufsfachschulen. In den Diagnose-Förder-Karussellen hat die Ressourcenförderung jedenfalls keinen Platz. Wohl gerade, weil sie so einleuchtend, so unbestritten und tausendfach wiederholt ist, verkommt die Proklamation vom Primat der Ressourcenförderung zur hohlen Phrase, dient oft nur noch als Köder in den Fallen der Früherfasser. Bekanntlich hat ein Köder keine Bedeutung mehr, sobald die Falle zugeschnappt ist. Nachdem die Diagnose gemacht ist, folgen dem Bekenntnis zur Ressourcenförderung in den meisten Fällen keine entsprechenden Taten. Nicht aus bösem Willen, sondern weil die bereitgestellten Verfahren und Instrumente in aller Regel als Reparaturset für die Mängelbehebung konzipiert sind: Man kennt den Mangel, hat Angebote in Form von Förderkursen zu dessen Behebung und schliesst kurz, dass jeder und jede am Ende eines standardisierten Förderkurses sein oder ihr individuelles Defizit behoben habe. Solche impliziten, einzig auf der Defiziterfassung abgestützten Lernprognosen haben ein paar zentrale Wirkungszusammenhänge ausser Acht gelassen: Die Diagnosen müssten nicht nur sehr sorgfältig konstruiert und adressatengerecht dosiert eingesetzt werden, sie sollten auch eingebettet sein in ein System, das individuelle Lernbedürfnisse erhebt, individuelle Lernwege zulässt und sich an Sinn- und Zielfragen der Lernenden ausrichtet. Andernfalls sind unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zur Wirkungslosigkeit zu erwarten.
Führen wir uns Typ D vor Augen, bei dem schon x-fach das Ungenügen aufgedeckt wurde, der Glaube an Selbstwirksamkeit und Lernerfolg aufs Kleinstmass geschrumpft ist. Es bieten sich grundsätzlich zwei Ansatzpunkte an. Wenig erfolgversprechend sind die Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen und der anschliessende Wink mit einem passenden Förderangebot, unbesehen, ob dieser Wink als Lockruf oder als Ultimatum daherkommt. Der bessere Ansatzpunkt heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. Typ D benötigt Erfolgserlebnisse, Erfahrungen von erlebter Selbstwirksamkeit und Gehör für seine Lern- und Entwicklungsbedürfnisse. Dabei ist kaum zu erwarten, dass solche Bedürfnisse den Lernenden des Typs D auf die Stirn geschrieben oder ausformuliert abrufbar seien, es braucht eine gemeinsame Suche, manchmal auch Geduld und Zeit, bis sie stimmig vorliegen. Ein personalisierter Lern- oder Entwicklungsplan, ausschliesslich für D gültig und von D vollumfänglich verstanden und akzeptiert, ist die Grundlage für kleine Schritte auf dem eigenen Lernweg, auf dem jedes erreichte Etappenziel ein Erfolgserlebnis ist.
Wenn das simple Rezept heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten, dann sind die Ingredienzien dazu: ein positiver Erhebungskontext, individuelle Stärken, persönliche Ressourcen, personalisierte und einvernehmliche Förderplanung.
•Positiver Erhebungskontext: Ressourcen und Lücken erfasst man sinnvollerweise in einem positiv besetzten Kontext. Anstelle von Erhebungsinstrumenten, die fast zwangsläufig mit Testgeruch und der Gefahr des Scheiterns behaftet sind, bieten sich pädagogische Beobachtungen im Rahmen von «lustvollen» (man verzeihe die Übertreibung) Lernprozessen an. Für eine «Lernstanderhebung Deutsch» eignet sich zum Beispiel ein Text am ersten Schultag, in dem die Lernenden ihre Erwartungen und Interessen formulieren, die mündliche oder schriftliche Auswertung eines Interviews mit der betrieblichen Berufsbildnerin oder zu Papier gebrachte Zukunftsvisionen.
•Individuelle Erfolgsfaktoren sichtbar machen: Von persönlichen Erfolgen ausgehen ist ein probater Weg, um individuelle Stärken zu erkennen. Zum Beispiel die Suche nach dem Wie, dem Wann und dem Warum im Anschluss an Fragen der folgenden Art: Wo habe ich mich durchgesetzt? Weshalb habe ich die Lehrstelle bekommen? Woran erinnere ich mich gerne aus der Schulzeit (oder aus anderen Lebenskontexten)? Daraus liesse sich dann ein Stärkeprofil zeichnen, ein Ressourcenfundament, das im weiteren Schulverlauf immer mal wieder konsultiert werden kann.
•Persönliche Ressourcen anzapfen: Was nützen Stärken, wenn sie brachliegen, wozu Ressourcen kennen, wenn sie hintanstehen müssen? Für die Förderplanung sollte man postulieren: An der Bearbeitung eines jeden «defizitären» Förderelements sollten mindestens zwei individuelle Stärken mitbeteiligt sein. Wie soll man sich das vorstellen? Eine Schülerin mit Mühe bei mathematischen Proportionen, die gerne nach eigenen Rezepten kocht und beschlagen im Internet navigiert, könnte beispielsweise Rezepte im Internet suchen, diese auf die Menge für ihre siebenköpfige Familie umrechnen und in einem persönlichen Kochbuch editieren.
•Personalisierte[2] Lernplanung: Der Förderbedarf wird in aller Regel in Form individuell erhobener Defizitprofile erfasst (im Beispiel von soeben: Probleme bei Proportionen). Auch vermeintlich gleiche oder ähnliche Defizitprofile haben in ihren Ursachen und Implikationen sehr unterschiedliche Grundmuster. Folgerichtig muss auch die Förderplanung eine personalisierte sein, abgestützt auf die Erhebungsbefunde und die Implikationen. Darüber hinaus, weil Lernen nicht gegen den Willen der lernenden Subjekte erfolgen kann, sollte die Förderplanung eine einvernehmliche sein. Etwa die Gestaltung eines Kochbuches, um das mathematische Problem mit den Proportionen zu bearbeiten.
•Einvernehmliche Förderplanung: Ausgangspunkt einer pädagogischen Lernförderung ist eine personalisierte, einvernehmliche Lernvereinbarung. Einvernehmlich heisst mehr als mit der Unterschrift des Lernenden versehen, es setzt voraus, dass die Zielsetzung genuin die der Lernenden ist und die Teilschritte auf das Ziel hin verstanden sind, und zwar inhaltlich und quantitativ. Der Dialog, der einer solchen Vereinbarung zugrunde liegt, muss neben der Einvernehmlichkeit auch sicherstellen, dass die Ressourcen (Interessen, Stärken, Vorlieben) gebührend zum Zuge kommen, will heissen, beansprucht werden. Für diesen Dialog muss man ausreichend Zeit einräumen, sich mit eigenen Lösungsvorschlägen zurückhalten und unbedingt darauf achten, dass die Grundregeln für das Erstellen von personalisierten Lern- und Entwicklungsplänen eingehalten werden:
–Der Gesprächsanteil der beratenden Person soll nicht grösser sein als derjenige der lernenden Person.
–Zwingend enthalten solche Pläne Ziele und idealerweise auch Optionen, die von der lernenden Person selbst stammen.
–Unterschreiben müssen die Pläne vor allem diejenigen, die damit eine Verpflichtung eingehen. Das ist fast ausnahmslos die lehrende Partei, in seltenen Fällen die Lernenden, und nur in jenen Ausnahmefällen sind es Dritte wie Eltern oder Berufsbildner, wenn ihnen eine Funktion übertragen wird.
–Lern- und Entwicklungspläne sind weder Kontrollinstrumente noch Lügendetektoren. Eine Berufsbildner-Unterschrift hat oft nur reinen Kontrollzweck. Und weshalb sollte die Lernende unterschreiben, wenn man ihr glaubt, dass sie das erreichen will, was geplant ist? Glaubt man ihr jedoch nicht, ist der Plan nichts wert.
–Lern- und Entwicklungspläne müssen die jeweils aktuellen Lern- und Entwicklungsbedürfnisse wiedergeben. Wenn das nicht mehr zutrifft, sind sie neu zu justieren.
Lern- und Entwicklungspläne eignen sich sehr gut als personalisierte Förderinstrumente in unterschiedlichen Unterrichts- und Lernsettings: in individualisierten Stützkursen, im Rahmen von institutionalisierter Aufgabenhilfe oder auch eingebettet in den obligatorischen Unterricht. Ein idealer Rahmen für die Erstellung einvernehmlicher Lern- und Entwicklungspläne sind Coachinggespräche (vgl. Text von D. Bach), detaillierte Ausführungen zum Inhalt finden sich im Text von J. Eigenmann.
Konzeptionelle Lernförderung
Pädagogische Lernförderung ist die zweckmässige Antwort auf prekäre Schulleistungen. Es wäre allerdings eine ziemlich technische Sicht der Dinge, wenn derlei Bemühungen sich auf die Anfangsphase der Ausbildung beschränkten im Glauben, ein erkanntes Defizit sei nichts als eine Lücke, die, einmal aufgefüllt, für alle Zeit geschlossen bleibe. Leistungsabfall, gesteigerte Lernhemmnisse und dergleichen können zu jeder Zeit manifest werden, es gibt keinen plausiblen Grund dafür, solches nur in der Anfangsphase zu beachten.
Ein zweiter Kurzschluss aufgrund eines technisch verkürzten Bildungsverständnisses ist der, dass der Förderbereich eine zudienende Reparaturwerkstatt sei, abgekoppelt vom Normalbetrieb und mit einem unterschiedlichen pädagogischen Konzept. Diesen Kurzschluss vermeiden heisst in letzter Konsequenz, dass pädagogische Förderkompetenz in der Schulkultur verankert werden muss und nicht an einige wenige Spezialistinnen und Spezialisten delegiert werden kann.
Soll Lernförderung als ein allgemeiner Bildungsauftrag einer Schule verstanden, sollen also die Grundregeln für erfolgreiches Lernen nicht in den abgesonderten Förderbereich verbannt werden, dann führt kein Weg an einer konzeptionellen Lernförderung vorbei. Das wäre nichts mehr und nichts weniger als ein schulweites pädagogisches Konzept, das Lernen und Entwicklung in den Vordergrund stellt. Was spricht dagegen? Vielleicht das, dass viele Gepflogenheiten überdacht und manches über Bord geworfen werden müsste, was bisher unbefragt als gültig angenommen wurde.
Lernbehinderungen vermeiden
Der Weg zum erfolgreichen Lehren führt über die Einsicht, dass der oder die Lernende das Subjekt des eignen Lernens ist, und über die Konsequenz daraus, dass nachhaltiges Lernen immer dann geschieht, wenn das Subjekt etwas können will, was ihm sinnvoll oder erstrebenswert scheint. Selbstbestimmtes Lernen halt, um des Könnens willen und nicht um des Lernens willen. Solche unspektakulären Aussagen sind so oft in der Literatur zu finden, dass allein die entsprechenden Quellenhinweise wohl Dutzende von Seiten füllen würden. Entscheidend und deshalb spektakulärer ist die Folgerung für die pädagogische Professionalität: Pädagogisches Handeln setzt den unerschütterlichen Glauben voraus, dass man es mit lernwilligen Subjekten zu tun hat. Und sollten doch mal Zweifel aufkommen, ersetze man das Wort lernwillig mit dem Synonym entwicklungswillig.
Und gleich noch ein Tipp in Bezug auf den Sprachgebrauch: bitte sparsame Verwendung des Begriffs «Lernen» in Programmansagen an die Adresse von Schülerinnen und Schülern. Angesichts der Vorstellung, dass ich mich den nicht vorhersehbaren Mühen des Lernens aussetzen muss, sind Lernhemmungen ein urmenschlicher Reflex auf eine Lernerwartung, die von aussen an mich herangetragen wird. Viel unbeschwerter lässt sich der Begriff rückblickend verwenden. Über einen Lernerfolg freue ich mich auch dann, wenn mich der anfängliche Lernauftrag nicht in helles Entzücken versetzen konnte.
Lernbehinderungen sind, bildhaft ausgedrückt, die Stolpersteine auf dem Weg zum Lernerfolg. Die Beseitigung dieser Steinbrocken, das Ebnen des Lernwegs oder aber die Wahl einer anspruchsvollen Route durch den Steinbruch, abgestimmt auf das Können und die Lust auf Herausforderung, zählen zu den wesentlichsten pädagogischen Aufgaben. Lehren heisst nicht für andere Lernen planen, sondern Lernen ermöglichen, Bedingungen schaffen, damit Lernen geschieht – oder auch nicht oder anders als vorgesehen, aber dennoch.
Lehr-Lern-Irrtümer durchschauen
Besonders gewagt sind weder diese zwei an sich gegensätzlichen Thesen noch die Behauptung, dass der scheinbare Widerspruch im Alltag locker geschluckt wird: 1. Unterrichtsprofis sind sich der gängigen Lehr-Lern-Irrtümer mehr oder weniger bewusst. 2. Lehr-Lern-Irrtümer sind weit verbreitet und prägen den Unterrichtsalltag auf allen Stufen. Ich stütze mich bei meiner Behauptung auf langjährige Selbst- und Fremdbeobachtungen. Solche Irrtümer prägen den Schulunterricht und erschweren dadurch erfolgreiches Lernen – unbeabsichtigt, aber höchst wirksam. Weshalb trotz guter Bekanntheit solchen Dysfunktionalitäten nicht beizukommen ist, wäre eine nicht uninteressante Forschungsfrage.
Lehr-Lern-Irrtümer werden sich wohl nie ganz ausrotten, allenfalls auf ein erträgliches Mass schrumpfen lassen, indem man sie aufspürt und nach Möglichkeit aushebelt beziehungsweise aushält.
Aushalten der Lehr-Lern-Irrtümer – oder vielmehr der Frustration beim meist verspäteten Gewahrwerden – könnte heissen, eigene Erwartungshaltungen mit der lernpsychologischen Erkenntnis in Einklang zu bringen, dass sich Lernen nicht von aussen steuern lässt. Als Lehrperson sollte man Abstand nehmen von der Vorstellung, alles Gelehrte müsse als exakte Kopie beim Lernenden abrufbar, das Lehrmittel müsse vollumfänglich verstanden sein. Es braucht eine Blickerweiterung, die Lernerfolg nicht ausschliesslich bezogen auf einen maximalen Wissensstand bemisst, die auch Lernfortschritte und die Qualität der individuellen Lernprozesse wertschätzt, die unerwartete Lernschritte und -ergebnisse erkennt, auch unbeabsichtigte, fragmentarische. Eine vollständige Reproduktion des vermittelten Stoffes in den Köpfen der Lernenden ist weder der Gradmesser für erfolgreiche Lehrtätigkeit noch notwendig für das Bestehen der jeweiligen Ausbildungsanforderungen. Wer daran zweifelt, erinnere sich an Abschnitte in der eigenen Bildungsbiografie, an den persönlichen Wissensstand im Verhältnis zum jeweils vermittelten Stoff – und trotzdem hat es geklappt!
Wie lassen sich solche Irrtümer aushebeln? Indem man die eigene Wahrnehmung justiert und trainiert und indem man Gewichtungen ändert. Beispielsweise kann das eine stärkere Fokussierung auf Lösungswege und Lösungsvarianten sein, zusätzlich betont und verstärkt mittels entsprechender Bewertung/Benotung: wenn ein Lernprozess oder eine Problemlösungsstrategie gleich oder höher wertgeschätzt und/oder bewertet wird als die Wiedergabe von auswendig Gelerntem, wenn Lehrerfeedback in Bezug auf Originalität und Eigenleistung im Zentrum steht anstelle von Kommentaren zu Fehlern oder erteilten Noten. Das ist eine bewusste Anspielung auf sogenannte Notenbesprechungen – eine Zeitverschwendung insofern, als Noten nichts anderes als chiffrierte Verbalaussagen sind (5 = gut, 3 = ungenügend usw.) und keines Kommentars bedürfen, solange sie valide sind. Besser eingesetzt als für rückwirkende Schelte und Mahnung wäre diese Zeit zukunftsgerichtet, für personalisierte Lernplanung.
Lerngespenster entzaubern und einspannen
Motivation der Schülerinnen und Schüler ist keine Kernaufgabe der Lehrperson und liegt insofern nicht in deren Lehrauftrag, als man sich gemäss namhaften Fachautoren (vgl. z. B. Sprenger 2014) nur selbst motivieren kann. Zutreffend ist das sicher für die intrinsische Motivation, da «jeder Mensch immer irgendwelche Motive hat, immer motiviert ist», nur passen diese Motive nicht zwingend zu dem, was im Unterricht gerade verlangt wird. Und bei fehlender Passung «kann man nichts machen, denn Motive lassen sich nicht von aussen erzeugen» (Kaiser, 2004). Die Frage «Wie motiviere ich meine Klasse?» muss anders gestellt werden: «Was kann ein Lehrer oder eine Lehrerin tun, um die Lernenden dabei zu unterstützen, sich selbst zu motivieren?» (Bastian, 2014, S. 6). Das bedeutet erstens, dass sich der Auftrag an die Lehrperson auf eine optimale Versuchsanlage beschränkt und nicht schon den Erfolg voraussetzt. Und zweitens wird klar, dass Motivation bei den Individuen ansetzt und nicht oder höchst selten bei ganzen Klassen.
In der Null-Bock-Haltung schwingt die verdeckte Botschaft, dass das Interesse woanders liegt als beim gerade Verlangten, und keinesfalls, dass null und kein Interesse für irgendwas angenommen werden kann. Klar, gelegentlich «empfinden Jugendliche den Unterricht eher als eine mühsame Unterbrechung der Freizeit, in der man sich Computergames, Sport und Hobbys widmen kann» (Guggenbühl, 2014). Das zeigt doch zweierlei: Interesse ist vorhanden, aber auch ein Interessenkonflikt zwischen Lernenden und Lehrenden. Interessenkonflikte lassen sich aber thematisieren, im besten Fall sogar klären oder zumindest durch Priorisierung entschärfen. Die Standardlösung aufgrund des Machtgefälles ist jedoch, solche Interessenkonflikte gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu übergehen, was allerdings viele Lernende dazu veranlasst, sich geistig definitiv aus dem Unterricht abzumelden. Das ist eine (weitere) verpasste Lerngelegenheit, notabene für beide Seiten, hat die Lehrperson doch eine Gelegenheit ausgelassen, zur Lebenswelt und den Interessen ihrer Lernenden vorzudringen.
Eine negative Klassendynamik, in welcher Form auch immer (passiver Widerstand, Verweigerungen, organisierte Störungen ...), belastet eine Lehrperson, oft längst bevor sie das Klassenzimmer betritt, und die Eskalation ist fast unvermeidlich, wenn man sie persönlich nimmt. Aber aus Distanz betrachtet: Steckt in einer dynamischen Klasse nicht auch Potenzial im Vergleich zu einer lethargischen, lässt sich allenfalls deren Solidarität und Gestaltungswille für ein gemeinsames Vorhaben einsetzen, das der Klasse sinnvoll erscheint? Einer Schulklasse junger Menschen zu unterstellen, dass sie Destruktion sinnvoll findet, grenzt schon an pädagogischen Nihilismus. Umgekehrt gehört das Wissen, dass die Sinnfrage untrennbar mit menschlicher Entwicklung, mit Lernen verbunden ist, zum professionellen Grundrepertoire.
Wer Leistungsunlust beklagt, verkennt möglicherweise zwei wichtige Faktoren. Leistung ist meist mit Anstrengung verbunden, und Anstrengung selbst ist in aller Regel nicht das Ziel, sondern eine Voraussetzung zur Zielerreichung. Zudem müssen Ziele lohnend und in subjektiver Reichweite sein, damit sie attraktiv sind. Zweiter Faktor ist die Tatsache, dass wir längst in einer Erfolgsgesellschaft und nicht in einer Leistungsgesellschaft leben. Der vorzeigbare, materialisierte Erfolg ist das, was zählt, und nicht der betriebene Aufwand. Belege dafür? Statussymbole jeglicher Couleur garantieren für das Prestige, unbesehen davon, welche Leistung dazu aufgebracht wurde. Der teure Flitzer, das Finisher-T-Shirt, das Gipfelfoto stehen für den Erfolg. Der Weg dahin, die Eigenleistung ist oft zweitrangig, nicht selten auch ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, besonders dann, wenn sie die Strahlkraft des Erfolgssymbols beschädigen würde (kreditfinanzierter Autokauf, geborgtes T-Shirt, Gipfelaufstieg mit fremder Hilfe). Wenn die Hypothese stimmt, dass die Pädagogik die Werteverschiebung in grossen Teilen der Gesellschaft vom Leistungsstreben zum «Erfolg-ist-geil-Primat» übersehen hat, dann hätte man es mit einem folgenreichen Dissens zu tun. Die Lehrperson honoriert Produkte und Resultate als erfolgreiche Lernleistungen, derweil die Leistung hinter dem Produkt nicht das Resultat eines Lernprozesses, sondern von erfolgreichem Kopieren, Erschleichen oder Einkaufen ist. Da beide Seiten die Bewertung als gerecht und verdient betrachten, wird der so Belohnte auch künftige Erfolge mit den probaten Mitteln statt mit Lernanstrengung anstreben – und wird mit der erneuten Belohnung darin bestärkt, dass sein Vorgehen erfolgreich und deshalb erwünscht sei.
Lerngespenster können mithilfe von nüchterner Betrachtung und pädagogischer Interpretation entzaubert werden. Etwas schwieriger ist es bei der Kategorie der Schuldämonen, oder nennen wir sie schulseitig lernhemmende Einflussfaktoren. Jedenfalls dann, wenn sie real vorhanden sind. Bei Schul- und Pausenordnungen, bei der Klassenzimmerarchitektur usw. gibt es nichts zu deuten, man kann höchstens auf den eingangs eingeführten doppelten pädagogischen Auftrag zurückgreifen, der da heisst: Hinführung zur Gesellschaftsfähigkeit und Förderung der Selbstbestimmung. Darin liegt der Schlüssel im Umgang mit den Lernhemmern der zweiten Kategorie: die Freiräume ausschöpfen, wenn pädagogisches Handeln gefordert ist.
Beim Stoffdruck ist eine der ersten Fragen die, was davon übrig bleibt, wenn man das minimal Vorgeschriebene zum Massstab nimmt. Ist die Stofffülle im gesamten Umfang Pflicht, oder bildet sie lediglich das zur Verfügung gestellte Angebot ab? Was umfasst das Must-have, und was ist lediglich Nice-to-have? Massgebend sind die Bildungspläne, nicht die Lehrmittel. Und wenn im schlechteren Fall die Menge tatsächlich zu gross, die Stoffdichte zu komplex ist in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit? (Vielleicht auch nur auf die Aufnahmebereitschaft, aber könnte das nicht auch eine kurzfristig unveränderbare Variable sein?). An diesem Punkt setzt die pädagogische Verantwortung ein, die zwischen der Vorgabe (allen Stoff behandeln) und der Professionalität (Kenntnis der Formel «Gelehrt ist nicht gelernt») abwägen muss: abspecken oder vollstopfen, exemplarisch vertiefen oder volle Komplexität, Mut zur Lücke oder volles Programm ohne Rücksicht auf Verluste?
Lehrpläne sind verbindlich, und diese Verbindlichkeit scheint umso einschneidender, je mehr ein Lehrplan zum Stoffplan verkümmert daherkommt, aufgeschlüsselt in detaillierte Lern- oder eben Lehrziele, und diese zeitlich und inhaltlich bestimmten Sequenzen zuteilt. Was gut gemeint ist, weil es der Sicherheit für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger dient und Vollständigkeit im Hinblick auf die Abschlussprüfung sicherstellt, hat weitgehend schulorganisatorische Gründe wie einfachere Stellvertretungen, Klassenübergaben bei Lehrerwechsel usw. Ein nicht unbeabsichtigter Nebeneffekt davon ist das Controlling. Was bei dieser Aufzählung nicht vorkommt: die Lernenden, deren Interessen, die Aktualität, die Sinnfrage. Was aber nützen vollständige Themen- und Kompetenzkataloge, wozu dienen reibungslose Übergänge, wenn ein Teil von dem, was die Lehrpläne im Kern bewirken wollen, bei den Lernenden nicht ankommt? Prioritäre Fragen dazu sind: Was ist vermeintliche und was zwingende Verbindlichkeit? Was steht in Präambeln und was im Vollzugsteil? Und im Fall von Divergenzen: Welcher Handlungsspielraum bietet sich, welchen nutze ich? Ein Blick in aktuell gültige Lehrpläne ergibt, dass die Rigorosität der tabellarischen Ziel-, Stoff-, Methoden- und Materialienkataloge oft weit weniger ausgeprägt ist, als man glaubte. Relativierend und dadurch ganz auf grössere pädagogische Handlungsfreiheit ausgerichtet sind sehr oft Präambeln und Einleitungstexte in Lehrplänen, zum Beispiel: «Die Behandlung und Bearbeitung aktueller Themen haben bei der Unterrichtsplanung Vorrang» (aus dem «Vorwort Schullehrplan Allgemeinbildung» der Berufsfachschule für Hörgeschädigte).[3] Parallel zum Lehrplan ist die Lehrperson immer auch ihrem pädagogischen Auftrag verpflichtet. Es gehört zu ihrer professionellen Verantwortung, abzuwägen zwischen Lernzuwachs und Marschieren im Gleichschritt nach den Vorgaben des Lehrplans.
Die von Lehrpersonen erstellten Arbeitsblätter haben ganz unterschiedliche Funktionen, unter anderem auch diese: Sie fassen den Erkenntnisstand der Lehrperson komprimiert zusammen, sie bezwecken die Strukturierung und Rhythmisierung des Unterrichtsablaufs, sie zielen auf Mehrfachgebrauch, bezwecken dadurch Rationalisierung, sie sind der materialisierte Output von arbeitsteiliger Teamarbeit, sie sind Notnägel für akute Situationen, gelegentlich verfolgen sie primär Imponierzwecke (z. B. in Lehrproben). Ja, möglicherweise bewirken sie auch Lerneffekte und Wissenssicherung bei den Lernenden – wobei ich gerade bei dieser Funktion unsicher bin, wie viele eigene Belege ich dazu vorzuweisen hätte. Das konsequenteste Arbeitsblatt ist ein leeres Papier beziehungsweise ein neu eröffnetes Dokument auf dem PC-Bildschirm. Solche Arbeitsblätter verlangen den Lernenden echte Arbeit in jeder Variation ab: Denkarbeit, Strukturierungsarbeit, Schreibarbeit, Gestaltungsarbeit, Selbstkontrolle. Diese unvollständige Aufzählung möglicher Funktionen von Arbeitsblättern ist natürlich eine Zuspitzung und kein Plädoyer dafür, dass als Arbeitsblätter ausschliesslich unbeschriebene Blätter zu verwenden seien. Universalrezepte gibt es diesbezüglich nicht, Monotonie verdirbt den Genuss. Arbeitsblätter können keine punktgenauen Lerneffekte bewirken, höchstens die Art der verlangten Arbeit steuern. Deshalb ist beim Erstellen mindestens so stark wie auf den Inhalt darauf zu achten, welche Qualität von Arbeit zu leisten ist und in welchem Umfang diese Arbeit notwendig ist, um die mit der Aufgabenstellung verfolgten Ziele zu erreichen.
Frontalunterricht ist eigentlich nur dann ein Problem, wenn er belastet: die Lehrperson, weil sie in ihrem subjektiven Empfinden zu viel davon betreibt, oder die Lernenden, wenn sie zu viel am Stück oder zu viel Komplexität oder ein Zuviel an Monotonie vorgesetzt bekommen. Im Übrigen gibt es ausreichend gute Literatur, die dem Frontalunterricht seinen Platz im didaktischen Repertoire zuordnet, zum Beispiel «Unterrichtsmethoden II: Praxisband» (Meyer, 1987, S. 182–225).
Bausteine für lernfördernden Unterricht
Trockenmauern, diese unverwüstlichen Kunstwerke aus roher Natur, verdanken ihre Stabilität einer bedingungslosen Akzeptanz des Rohmaterials und einem guten Augenmass für dessen Individualität. Die spezielle Form eines jeden Steins muss erfasst und dafür ein geeigneter Platz gefunden werden. Für jede noch so eigentümliche Form gibt es einen passenden Ort, vorausgesetzt, man erkennt die Passung; manchmal springt sie ins Auge, oft muss man die Steine drehen, einzelne Prachtstücke zur Seite legen, bis sie ihren Beitrag zur Mauer leisten können. Es gibt fast keinen Stein, der nicht irgendwo hinpassen und dort seinen Zweck weit besser erfüllen würde als jeder andere. Zugehauen wird nur im äussersten Falle und so subtil wie möglich. Am Schluss ist eine solche Mauer ein stabileres und schöneres Unikat als jede schnell hochgezogene monotone Backsteinmauer oder Betonwand – und überdauert Jahrhunderte.
Auch den Lehrpersonen steht Material zur Verfügung, mit dem sie umsichtig, nach allen Regeln der Kunst an ihrem Werk arbeiten – der Bildung junger Menschen. Auch pädagogische Handwerkerinnen und Handwerker haben ihre Pläne dem wertvollen Rohmaterial anzupassen, damit sie sich später an den gewachsenen Unikaten freuen können. Das Baumaterial, das ist einmal das nicht immer ganz augenfällige Potenzial der Lernenden mit ihren zum Teil ausgeprägten schulischen Lernhemmungen, etwa wenn sie in Gestalt der Typen C, D und E auftreten. Wer es erkennt, baut schon längst an seinem Kunstwerk, während andere noch damit beschäftigt sind, Steine zu behauen, oder verzweifelt versuchen, die lieblos aufgeschichteten Klötze mit losem Material und Schnellzement zu stabilisieren. Darüber hinaus verfügen Lehrpersonen über Entscheidungsspielräume und Materialien, die sie selbst beeinflussen und modellieren können, begonnen beim Fundament über die Hilfsmaterialien bis zu den vielen Optionen, die im Ermessensspielraum der professionellen Tätigkeit vorhanden sind.
Das Fundament: Pädagogisches Credo
Die ureigenen Überzeugungen, die pädagogische Grundhaltung, das Credo der Lehrperson, können als das unsichtbare Fundament gesehen werden, auf dem die sichtbare Arbeit aufbaut. Gerade weil dieses Fundament oft un- oder halbbewusst das planmässige Handeln steuert, ist es so zentral. Unter der Annahme, dass in allen Lehrpersonen so etwas wie ein pädagogisches Feuer brennt, wäre die Arbeit an der eigenen Grundhaltung nichts anderes als die Speisung dieses Feuers. Was vordergründig als das Gegenstück zur reinen Pflichterfüllung erscheint, kann – nein soll – genau umgekehrt gesehen werden: Es gehört zur professionellen Pflichterfüllung, seine pädagogische Haltung zu schärfen und zu pflegen. Hierzu im Sinne von Anregungen ein paar Denkanstösse:
Um die eigene pädagogische Haltung zu entwickeln und zu schärfen, können Dilemma- und Konfliktsituationen antizipiert und durchgespielt werden, zum Beispiel:
•Werde ich angesichts eines unvermittelt auftretenden Konflikts in der hintersten Bankreihe
–die Lektion möglichst ordentlich über die Runde bringen oder
–den Konflikt verhandeln?
•Einer in der Klasse nervt schon wieder, ich fühle mich gestört. Werde ich
–den Störer vor der Klasse zurechtweisen oder
–ihm diskret diesen Zettel hinstecken «Machen Sie jetzt bitte zehn Minuten Pause, in der grossen Pause um zehn Uhr höre ich Ihnen dann gerne zu»?
•Wenn wieder zu Unterrichtsbeginn zwei (immer die gleichen!) Lernende fehlen,
–setze ich ohne Aufhebens den Unterricht fort, selbst dann, wenn sie fünfzehn Minuten später lässig, ihren Auftritt geniessend, durch die Klasse zu ihren Plätzen schlendern, oder
–stelle ich sie gleich raus und nehme dabei den unvermeidlichen Unterrichtsunterbruch in Kauf, oder
–klebe ich vorher das Schild an die Türe «Die Veranstaltung hat begonnen, nächster Einlass um 9.15 Uhr» und schliesse ab?
•Wenn zum Unterrichtsbeginn aus der Klasse der Ruf ertönt: «Dieses Thema ist aber langweilig, können wir nicht über … sprechen»,
–ist meine Antwort dann normalerweise: «Zuerst machen wir mein Programm, dann können Sie Ihren Vorschlag nochmals bringen», oder
–schicke ich die Interpellantin nach draussen mit dem Auftrag, in einer halben Stunde entweder das Thema zu moderieren oder mit einem Bearbeitungsvorschlag zu kommen?
Diese und weitere Beispiele aus dem eigenen Repertoire dienen dazu, künftiges Handeln statt von Spontanreflexen von seiner pädagogischen Haltung leiten zu lassen. Ein solcher Verhaltenstrainings-Effekt wird begünstigt, wenn man das Dilemma in zwei Dimensionen durchspielt: 1) Wie handle ich spontan in der Situation?, und b) Was wäre die für mich ideale Reaktion? Konfliktantizipationen eignen sich auch perfekt für das Teamtraining im Rahmen von Intervisionen oder ähnlichen Settings.
Eine andere Möglichkeit, die pädagogische Haltung zu schärfen und zu pflegen, setzt bei der Unterrichtsplanung an. Statt zu fragen: «Mit welchen Methoden bringe ich den Stoff am besten durch?», heisst die vorrangige Frage: «Was will ich erreichen?»
Massvolle und dynamische Semesterplanung
Eine mittelfristige Planung der Unterrichtsinhalte und -abläufe ist sinnvoll, da sie entlastet und Transparenz schafft. Ob das Planungsintervall ein Quartal oder ein Semester umfasst, ist weniger von Belang und wird hier vereinfachend als Semesterplanung apostrophiert. Die entscheidenden Aspekte sind die Entlastung (insbesondere der Lehrperson) und die Transparenz (vor allem für die Lernenden). Ich möchte an dieser Stelle für eine massvolle, dynamische und deshalb bewusst lückenhafte Semesterplanung plädieren – auch wenn solches kontrastiert zu vielem, was in didaktischen Lehrbüchern steht. Denn eine bis ins Detail durchgetaktete Semesterplanung übergeht zwingend die situativen Lernbedürfnisse der Hauptpersonen – oder, dramatisiert ausgedrückt, sie zerquetscht die nachfolgenden Bausteine zu Bauschutt.
Die Semesterplanung entlastet die Lehrperson und schafft Transparenz, wenn sie die zu behandelnden Themen nennt und die Inhalte grob umreisst, wenn sie explizit auf geplante Leerstellen verweist und zwingend auch die nicht stoffgebundenen Dimensionen wie soziale Ziele, Methodenziele oder eben auch die Offenlegung des pädagogischen Credos berücksichtigt. Es geht bei der Semesterplanung auch darum, alle (Lernende und Lehrperson, eventuell auch interessierte Lehrmeister) mit einer gewissen Verbindlichkeit auf die vorgesehenen Verhandlungsspielräume hinzuweisen. Solche mehrdimensionalen Semesterpläne sind anpassungsfähig, für alle spannender und mindestens so nützlich wie minutiöse Zeit- und Ablaufpläne. Sie haben als zweite Funktion auch einen zentralen Wert für einen abschliessenden Semesterrückblick, der die Leerstellen und Verhandlungsspielräume reflektiert und zur Diskussion stellt: Wurden sie genutzt? Wie? Warum nicht? Wie könnte man das besser handhaben? Reflektieren wird man solche Fragen selbst oder im Team, diskutieren kann man sie durchaus mit der Klasse, besonders dann, wenn sie im Zeichen von Transparenz auch schon über den Plan ins Bild gesetzt wurde.
Dynamische Unterrichtsplanung
Ein minutiös geplanter Unterricht ist das Gesellenstück einer jeden Lehrerausbildung; die Architektur und die Einhaltung solcher Pläne sind der Gradmesser für die in Noten übersetzte Praxistauglichkeit der Novizinnen und Novizen. Dagegen ist nichts einzuwenden – fast nichts, ausser, dass damit Lernen verhindert wird. Oder mit Krapf ausgedrückt: «Mancherorts wird erwartet, dass vorbereiteter Unterricht sich gemäss der Vorbereitung realisieren lässt. Gerade das dürfte nicht passieren. Wenn es trotzdem geschieht, ist der Misserfolg dokumentiert. Wenn nämlich Unterricht ein gemeinsames Unternehmen von Leiter und Schüler/-innen ist, kann es gar nicht sein, dass die Vorlage der Lehrkraft ihre Gültigkeit behält» (Krapf, 1995, S. 119).
Die hier empfohlene Alternative ist natürlich nicht der gänzlich unvorbereitete Unterricht, sondern eine dynamische Unterrichtsplanung analog zur Semesterplanung, zum Beispiel so:
•Die Lehrperson präsentiert ihr Vorhaben (mehr oder weniger detailliert) und sammelt Reaktionen dazu. Anmerkungen: Das entspricht einem üblichen Sitzungsverlauf, wo zu Beginn die Traktandenliste präsentiert wird, gefolgt von einer Umfrage zu den vorgeschlagenen oder ergänzenden Traktanden.
•Die Lehrperson hat einen (mehr oder weniger detaillierten) Unterrichtsplan, eröffnet jedoch mit einer solchen oder ähnlichen Frage: «Was ist in der vergangenen Woche passiert, das Sie hier besprechen möchten?»
•Der Unterricht ist aufgrund zurückliegender Vereinbarungen bereits sequenziert, inklusive Art und Umfang des (Lehrer-)Inputs. Dieser kann dann nach Plan oder als Option zu alternativen Angeboten realisiert werden.
•Die Lehrperson hat jeweils einen Plan B (zum Beispiel die wasserdichte Stellvertretungslektion), den sie hervorziehen kann, falls ein geplantes, offenes Unterrichtsvorhaben fehlschlägt.
Klar, dass solche dynamischen Unterrichtsplanungen die Bereitschaft erfordern, geplante Inhalte und Abläufe zurückzustellen und situative beziehungsweise spontane Anliegen zu priorisieren.
Dynamische Unterrichtsplanung verspricht lebendigeren Unterricht und garantiert nicht nur spannendere Erfahrungen für alle, sie entlastet mittelfristig auch, da nicht benötigte Vorbereitungen für später zur Verfügung stehen. Auf jeden Fall sind durchpräparierte Musterlektionen reserviert für Probelektionen und funktionieren nur, weil die Schülerinnen und Schüler in aller Regel solidarisch brav mittun.
Unterrichtsreflexion
Sich fragend mit der eigenen pädagogischen Haltung beschäftigen heisst, in der Unterrichtsplanung ab und zu Reflexionsphasen einzubauen. Was habe ich gewollt? Was wurde erreicht? Was funktionierte? Was nicht? Weshalb?
Eine einfache Möglichkeit dazu ist für Krapf (1995) die Nachbereitung: «Wie wäre es, wenn die Zeit, die gewöhnlich für die Vorbereitung eingesetzt wird, neu für die Nachbereitung verwendet würde? Die Konzentration würde sich auf jene Verhaltensweisen richten, die eine besonders günstige Lernsituation entstehen liessen.»
Eine andere Möglichkeit besteht darin, bei mittel- und längerfristigen Unterrichtsplanungen, zum Beispiel bei der Themen-, Quartals- oder Semesterplanung, neben den üblichen Präparationskriterien zusätzlich die pädagogischen Absichten zu notieren: eine Spalte, reserviert für die pädagogischen Ziele, und zwar konkret, überprüfbar und allenfalls auch differenziert nach Individuen. Unnötig zu sagen, dass auch solche Zielsetzungen einer regelmässigen Überprüfung unterstellt werden sollten. Als zugespitzte Kurzformel formuliert: keine Lernzielüberprüfung ohne Lehrzielüberprüfung.
Motivation ist keine Lehrerpflicht
An der Motivationsdiskussion ist für Lehrpersonen und andere pädagogische Handwerkerinnen und Handwerker bedeutsam, dass sie nicht verantwortlich sind für die intrinsische Motivation ihrer Lernenden. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich viel Mühe sparen kann, um motivierende Gags und Unterrichtseinstiege zu finden.
Aber, und das ist die schlechte Nachricht, Lehrpersonen sollten sich sehr wohl um die Motive ihrer Lernenden bemühen. Das ist mitunter schwieriger, als sich der Illusion hinzugeben, man könne mit einem Comic, einer Songeinspielung oder dem ultimativen Videoclip eine allgemeine Motivation hervorzaubern. Motive oder Interessen stehen den Lernenden nicht ins Gesicht geschrieben, und die wenigsten sind wohl in der Lage, aus dem Stand heraus auf die Frage «Was interessiert dich?» eine für das Lernverhalten relevante Liste zu erstellen. Aber wenn Lernen stattfinden soll, geht das nur, wenn der Lernstoff auf Interesse stösst.
Zugegeben, beim Baustein Motivation beziehungsweise «Motive aufsuchen» bin ich eher ratlos. Hier der Versuch, mich ihm dreigleisig anzunähern.
Vorab eine erste allgemeine Vertröstung, dass man auch auf Zufall, Glück und Geduld setzen darf und sich eine gewisse Frustrationstoleranz zulegen sollte.
Eine zweite Schiene führt über die Einsicht, dass Motive und Interessen kulturellen, gesellschaftlichen und aktuellen Prägungen folgen. Da hilft es bei der Motivsuche, sich für kulturelle und subkulturelle Prädispositionen zu interessieren. Das wäre die Kehrseite des Glaubens, man sei ausreichend über die Lebenswelten und Interessen der Lernenden im Bilde (vgl. Text von D. Bach).
Zum Dritten darf man davon ausgehen, dass die Motive und Interessen nicht zwingend so weit entfernt sind vom offiziellen Lehrangebot, wie es gelegentlich den Anschein macht, wenn Lernende mit sogenanntem Pflichtstoff konfrontiert werden. Vielleicht ist es nur die Einkleidung, die Art der Präsentation, sind es nur die jeweiligen Fragestellungen oder der Zeitpunkt, die nicht kompatibel sind mit den Motiven. Mehr dazu im nächsten Abschnitt über den Lehrstoff.
Lehrstoff zum Lernstoff machen
Ein Lehrplan verpflichtet, er schreibt Lehrstoff, Bildungsziele und verlangte Kompetenzen vor, aber längst nicht alles am Lehrplan ist so verbindlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Lehrpläne haben in aller Regel neben den tabellarischen auch deskriptive Elemente, die Freiräume und Optionen explizit beschreiben. Bildende, über reine Stoffvermittlung hinausgehende Aufträge stehen oft ausserhalb der Themen- und Stoffübersichten und auch in einer gewissen Konkurrenz dazu. Etwa als Forderungen nach Ausbildung der Selbstkompetenz, der Selbstbestimmung und der Selbstorganisation des Lernens, die wenig kompatibel sind mit einer akribischen Abarbeitung der tabellarischen Themen-, Stoff- und Zielkataloge.
Gelegentlich enthalten Lehrpläne auch Unsinn. Zwei Beispiele aus Allgemeinbildungs-Schullehrplänen für dreijährige gewerbliche Lehren: «… kennt die Grundsätze des Ordnungssystems der Mediothek» oder « … kann die Grundsätze und gesetzlichen Grundlagen des schweizerischen Berufsbildungssystems erklären». Hat man wohl die Begriffe Grundsätze und Grundzüge verwechselt? Verlangt man wirklich, dass aufgrund weniger Lektionen die Schülerinnen und Schüler die gesetzlichen Grundlagen, das sind u. a. Bundesverfassung, Arbeitsgesetz, Obligationenrecht, Berufsbildungsgesetz, erklären können? Dass Unstimmigkeiten in Lehrplänen eher die Regel als Ausnahmen sind, kann nur heissen: Lehrpläne kritisch lesen, Gedrucktes auf Vernunft und Verhältnismässigkeit überprüfen und, wo angezeigt, die mehrfach angesprochene pädagogische Eigenverantwortung wahrnehmen. Denn im Zug der kritischen Lehrplanlektüre kann man sich zum Ziel setzen, vorhandene Freiräume zu erkennen, sich nicht auf die Übersichtsdarstellungen von Stoff, Inhalten und Zielvorgaben zu beschränken, die Passagen aufzuspüren, welche zur Förderung von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstkompetenz aufrufen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird man erkennen, dass Lehrpläne erlauben, solche emanzipatorischen Ziele gleichberechtigt neben andere Lern- und Bildungsziele zu stellen. Mehr noch, viele verlangen es und liefern oft sogar geeignetes Material dazu.
Lernstoff ist Stoff, an dem man interessiert ist, Stoff der eigenen Wahl. Man kann die Lehrplanthemen auf ganz unterschiedliche Art zur Disposition stellen und darauf zählen, dass gewählter Lehrstoff zum Lernstoff wird, zum Beispiel so:
a)Wahl der Themenreihenfolge durch die Klasse (die meisten Schullehrpläne beinhalten Wahlfreiheiten, andere schliessen sie nicht aus).
b)Lernende bestimmen am Schuljahresbeginn ihre Themenpräferenz und können zusätzlich einen Vertiefungsjoker einsetzen. Das Präferenzthema wird teilweise oder überwiegend durch die Lernenden vorgestellt. Mit dem Vertiefungsjoker kann man tiefer in weiteres Stoffgebiet eindringen und wird dafür von anderem entlastet (zum Beispiel von Lernzielkontrollen oder der Prüfung, indem das Resultat der Vertiefung bewertet wird).
c)Verteilung der Themen (ganzer Lehrplan oder auch nur eine Sequenz) auf die Lernenden nach freier Wahl. Diese vertiefen sich zu ihrem Thema aufgrund eigener Fragestellungen und Prioritäten und übernehmen dann, wenn das entsprechende Thema in der ganzen Klasse zur Sprache kommt, eine spezielle Funktion, zum Beispiel Moderator, Vermittler/Inputgeberin, Experte, Prüferin/Prüfungserstellerin …
d)Ergänzungsvariante zu c) Die jeweilige Themenspezialistin amtet während einer längeren Phase als Themensachwalterin, beauftragt, laufend Aktualitäten zu sammeln, und bei Gelegenheit (z. B. Tagesaktualität, Exkursion …) auch autorisiert, ein Zeitfenster im Unterricht zu beanspruchen (Input, Diskussion …).
Anfänge[4]
Der Start in eine neue Lebensphase ist immer bedeutsam, auch lernpsychologisch. Das gilt genauso für «kleine» Anfänge wie ein neues Schuljahr oder den Beginn eines Schultags. Von sich selbst kennt man den Nachhalleffekt von ersten Eindrücken, die Beharrlichkeit von Erstdeutungen und die Schwierigkeiten, solche Primärurteile zu korrigieren. Möglicherweise liegt darin ein tief verborgener Grund für die Einstiegsgags und «Motivationsvideos» zum Unterrichtseinstieg – und auch ein Irrtum. Anders, als das ein Shoppingcenter tun muss, kann die Schule darauf verzichten, ihr Publikum anzulocken, es kommt, weil es muss. Es wäre ein seltsames pädagogisches Verständnis zu glauben, man müsse die Schülerinnen und Schüler zu Beginn für ihr Kommen belohnen und aufheitern, damit sie die Unbill des restlichen Schultags besser ertragen. Nichts gegen originelle Unterrichtseinstiege oder Themeneinführungen, sofern sie einen funktionalen Zusammenhang mit dem Nachfolgenden haben. Alleweil besser ist indes, wenn der Stoff selbst auf Interesse stösst und nicht nur das Eingangstor dazu.
Neugierde und Lernerwartungen zu Beginn der neuen Lebensphase Berufsausbildung kann man kaum wirksamer sabotieren als mit dem, was gemeinhin als «frühzeitig Pflöcke einschlagen» bezeichnet wird: mit der Bekanntgabe von Regeln, Normen, Verboten und Sanktionen am ersten Schultag, mit dem Aufbau einer Drohkulisse von weit in der Zukunft liegenden Leistungs- und Prüfungsnormen. Geht man von Lernbedürfnissen, von Neugierde und einem gewissen Wissensdrang aus – wovon sollen Lehrpersonen denn sonst ausgehen? –, ist eine solche Initiation in die Berufsfachschule ein kräftiger und nachhaltiger Dämpfer und bester Nährboden für spriessende Lernhemmungen. Gleiches gilt für die anschliessenden Standortbestimmungen in Deutsch und Mathe, da helfen auch keine Beschwichtigungen der folgenden Art: «… ist nicht notenwirksam ...», «… nur im Interesse der Schüler/innen …».
Die Neugierde adressatengerecht abrufen, echtes Interesse demonstrieren gegenüber den Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler, das Lernangebot so schmackhaft präsentieren, wie das Konsumentinnen und Konsumenten nun mal gewohnt sind, sind die Alternativen zur lernkillenden Pfählerei, zu subtilen Machtdemonstrationen oder zum Spiegeln von Defiziten. Als Klarstellung: Ich unterstelle niemandem derartige Absichten, ich erwäge lediglich denkbare Rezeptionsmuster bei Lernenden, die schon mit eingeschränkter Begeisterung zum ersten neuen Schultag erschienen sind. In Erinnerung gerufen sei Typ C.
Zu den «kleinen Anfängen» ein paar generelle Appelle: sich an die Interessen herantasten, dynamisch planen und flexibel auf Befindlichkeiten reagieren. Viel mehr fällt mir dazu nicht ein, dafür Fragen:
•Haben Sie ein bewährtes Muster für den Anfang Ihres Schultags?
•Haben Sie ein Repertoire von unterschiedlichen Anfängen und allenfalls sogar eine Strategie für die jeweilige Wahlentscheidung?
•Tauschen Sie mit Kollegen und Kolleginnen Ihre «Anfänge» aus? Warum nicht?
•Haben Sie die Klasse schon mal gefragt, welche Anfänge gut ankamen oder welche Anfänge sie gerne hätten?
•Sind Einstiege/Anfänge eine Kategorie beim Einholen von Schülerfeedbacks? Diese Frage könnte auf weitere konkret durchgeführte Unterrichtssequenzen angewendet werden, denn Lernende können am klarsten Erlebtes bewerten.
Wertvoll bewerten
Ausgehend vom Verdikt, dass Bewertung und Noten unabdingbare schulische Vorgaben sind, wird hier keine Kontroverse über Bewertung geführt, lediglich vier relativierende Vorbemerkungen möchte ich den praktischen Anregungen voranstellen:
1.Noten drücken nur annähernd eine Leistung aus. Erst recht verlieren sie im klasseninternen Vergleich an Bedeutung, denn zwei Lernende mit gleichen Noten haben selten die gleiche Leistung erbracht, allein schon wegen der unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen.
2.Man weiss zwar, dass Noten keinen allzu grossen Prognosewert haben, aber angesichts einer bevorstehenden Abschlussprüfung sollten die Vornoten im entsprechenden Teilgebiet dennoch keine falschen Erwartungen wecken. Krasse Fehleinschätzungen des eigenen Leistungsstands aufgrund von Erfahrungsnoten könnten in der Abschlussprüfung zum Scheitern beitragen.
3.Noten zielen in der Regel mehr auf erbrachte Leistung und weniger auf die Person, wie das Verbalbewertungen tun, Notenzeugnisse sind deshalb tendenziell «schonender» als Wortzeugnisse.
4.Nicht jede Bewertung muss eine Note zur Folge haben.
Als kleine Auswahl didaktischer Bausteine zum Bewertungsaspekt:
•Am Schluss die Prüfung, dann die Note – wieso eigentlich? Wieso können Schülerinnen nicht zu Beginn einer Sequenz (eines Themas, einer Kompetenz ...) dem, was sie bereits können, einen Wert zumessen? Ganz allgemein oder in Bezug auf die geforderten Lernziele. Nicht als Gag, sondern zur pro- und retrospektiven Selbsteinschätzung.
•Lernende können sich recht gut selbst bewerten, auch gegenseitig. Dazu kann ruhig mit verschiedensten Spielarten experimentiert werden; die Schülerwertung sollte aber namhaft in die erteilte Note einfliessen.
•Die Vorschläge b bis d auf Seite 42 liefern verschiedene hervorragende Gelegenheiten, sich als Lernende dort selbst zu bewerten beziehungsweise bewerten zu lassen, wo man Interesse und Engagement investiert hat.
•Bewertungen im Umfeld von echten Eigenleistungen können neben der Fremd- und/oder der Selbstbewertung des Produktes auch eine Selbstbewertung des Prozesses beinhalten.
•Wenn Prüfungskandidatinnen und -kandidaten das Schwierigkeitsniveau wählen können, lassen sich Prüfungsstress und Angst vor katastrophalen Noten verringern. Damit die «Fairness» trotzdem gewahrt ist, könnte man die Skalierung entsprechend anpassen und auch so deklarieren: Alles richtig auf Niveau 1 gibt die Note 6, auf Niveau 2 eine 5,5 und auf Niveau 3 eine 5. Das funktioniert umso besser, je mehr die unsicheren Kandidatinnen und Kandidaten schon die Erfahrung gemacht haben, dass mit der Wahl von Niveau 3 mit grosser Wahrscheinlichkeit eine 4,5 oder eine 5 erzielt werden kann.
Und es gilt noch immer: Bausteine sind Angebote, die erst in der Hand der Praktikerinnen und Praktiker ihren Nutzen entfalten. Klar im Vorteil sind jene, die realisiert haben, dass sie die Bausteine an ihr Werk anpassen müssen, und die auch bereit sind, einmal einen etwas ungewohnten Brocken in die Hand zu nehmen, dafür auf einen anderen zu verzichten, den sie bislang aus purer Gewohnheit verwendet haben.
Literatur
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Guggenbühl, A. (2014). Leidenschaft und Interesse. Wie Schüler lernen – und warum Lehrer mit einem Fuss in der ausserschulischen Welt stehen sollten. Neue Zürcher Zeitung, 16. 1. 2014
Hauschildt, J. (1998). Lehren, Lernen, Lernbehinderung. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und deren Nachbargebiete (VHN), Bd. 67, H. 2, S. 137–148.
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Krapf, B. (1995). Aufbruch zu einer neuen Lernkultur. (4., nachgeführte u. überarb. Aufl.). Bern: Haupt.
Kuster, H. (2011). Das Elend der Grundlagenvermittlung. Folio, Jg. 136, H. 2, S. 11.
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Moulin, J.-P. (1998). Lernschwierigkeiten und Schule. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, H 7/8, S. 13–17.
Müller, A. (2007). Lernen steckt an (2. Aufl.). Bern: hep.
Städeli, C./Grassi, A. (2012). Didaktik für den Unterrichtsalltag. Ein Praxisbuch für Einsteigerinnen und Einsteiger. Bern: hep.