Читать книгу Zitronatszitronen - Dagmar Nedbal - Страница 3
Einleitung
ОглавлениеEs würde noch einen ganzen, langen Winter dauern, bis es wieder warm werden würde. Im Garten würden dann wieder die Mimosen in leuchtendem Gelb blühen. Noch drückte der wintergraue Himmel der Riviera seinen Stempel auf. Üblicherweise regnete es und der Wind blies die salzgeschwängerte Luft nach oben, zum Hügel von Sant’Apolinare, genannt „Contra“, herauf. Seit Tagen hatte sich nun aber der Wind gedreht und wehte von Norden die hügeligen Ausläufer des ligurischen Apennins herab. Die Luft war kalt und glasklar und der Himmel azurblau, was das üppige Grün der Vegetation, der Olivenbäume, Palmen oder des Pittosporum geradezu erstrahlen ließ. „Tramontanai“, rief ihm der alte Gian zu, als Luca die Via Aurelia auf der Höhe des kleinen Altenheims mit dem klingenden Namen „Anni d‘ Oro“, was ungefähr mit „Goldene Jahre“ übersetzt werden könnte, am Vormittag überquert hatte, um einen kurzen Check beim Anwesen der Familie Ferra zu machen, deren kleinen Garten er pflegte. Es war Anfang November, die Zeit der Olivenernte, die Luca am allermeisten verabscheute – doch dazu später.
Jetzt stand er in der Küche, der Küche seiner Mutter Maria, und ließ den Blick im Raum umherschweifen. Diese ziemlich heruntergekommene Wohnküche seiner vierundachtzig-jährigen Mutter, über und übervoll mit Lebensmitteln, Haushaltsgeräten und Krims-Krams war das Herz des ganzen Hauses, das seine Schwester und Mutter den Mut hatten, „Villa“ zu nennen. Der Wasserhahn der Küchenspüle tropfte vor sich hin und füllte dabei beständig eine alte, grün-braune Plastikschüssel, die zu nichts anderen bereitgestellt war, diese ständig fallenden Wassertropfen aufzufangen. Denn nichts, kein technischer Defekt oder Umstand konnte seine Mutter aufhalten zu sparen, zusammenzuhalten, zu verwerten. Eben echt „ligure“. Nicht umsonst wurden die Liguren ja auch die Schotten Italiens genannt. Doch statt den Wasserhahn auszutauschen oder zumindest eine kleine Dichtung anbringen zu lassen, griff sie zu solchen Methoden. Typisch. Später dann würden mit dem Wasser aus der Schüssel die Blumen draußen auf der Terrasse gegossen oder der Boden aufgewischt oder sonst was getan werden. Alles, aber auch alles wurde zweit- bzw. wiederverwertet. „Gerade so, als wäre das recyceln hier erfunden worden“, dachte Luca. Neben den beiden Spülbecken aus Edelstahl, die auf einem altmodischen Unterschrank montiert waren, hatte er vor Jahren, auf Insistieren der Mutter hin, ein Kästchen bauen müssen, um die tote Ecke zum anschließenden Gasherd zu füllen. Daran schloss sich der Holzofen an, die einzige wirkliche Wärmequelle im ganzen Haus. Hier wurde im Winter über den ganzen Tag und vor allem abends geheizt, was das Zeug hielt, was jedoch nicht wirklich behagliche Wäre brachte. Unter der Küche nämlich, dort wo sich einst der Stall des alten Bauernhauses befunden hatte, lag heute der sogenannte Keller. Eine heilloses Chaos an weggeworfenen Möbeln, Werkzeugen, landwirtschaftlichen Geräten und Gefäßen zur Olivenölaufbewahrung usw. und natürlich nicht die Spur einer Isolierung zur darüber liegenden Wohnung.
Das unvermutet einsetzende Surren des rostigen Kühlschrankes, der auf der gegenüberliegenden Küchenseite vor sich hinarbeitete, riss Luca aus seinen Gedanken. Was tat er eigentlich hier? Genau, er wollte etwas essen, eine belegte Semmel oder – mal sehen – vielleicht hatte seine Mutter ja ein Stück „tortaii“, „focacciaiii“ oder Ähnliches vom Vortag über. Da er auf dem Küchentisch, der immer, solange er denken konnte, mit einem bereits merklich zerschlissenen Wachstuch bedeckt war, nichts Brauchbares entdecken konnte und auch in der Fensternische über dem Spülbecken, dort, wo üblicherweise der kleine Elektrogrill stand, nichts Essbares war, öffnete er den alten Indesit und überprüfte seinen Inhalt: Eier, etwas Käse, Milch, Hefewürfel, etwas Gemüse und Salat, Flaschen voller Leitungswasser, ausgetrocknete halbe Zitronen. Nichts, was ihn wirklich anmachte. Nicht die Spur eines saftigen Schinkens oder leckerer Salami. War nicht Italien das kulinarische Schlaraffenland Europas? Hieß es nicht neuerdings in vielen angesagten Städten der Welt: „Eataly“? Kamen nicht tausende, ja Millionen Touristen jährlich über die Alpen hierher gepilgert, nicht zuletzt des leckeren Essens wegen? Auch sein Bruder Raffaele zählte übrigens dazu. Der hatte sich vor vielen Jahren mit seiner deutschen Frau aus dem Staub gemacht. Kam er in den ersten Jahren noch öfters und länger zu Besuch, wohnte hier in der Wohnung der Mutter in „seinem“ ehemaligen Zimmer und half im Garten mit, so wurden seine Besuche mit der Zeit immer seltener und kürzer und seit Jahren schlief er sogar in einem kleinen Hotel im benachbarten Touristenort Villanuova. Angeblich „um der Mutter nicht zu Last zu fallen“. Haha! In Wahrheit war es ihm hier zu unbequem und ungemütlich und obendrein gingen ihm die familiäre Nähe und die soziale Kontrolle auf den Geist. Oder beides. Doch wie jedes Jahr, kam er ein paar Tage zur Olivenernte Anfang November – auch um ein paar Liter Olivenöl abzustauben.
Auf der Kredenz fand Luca endlich, wonach er gesucht hatte. In einem der zahlreichen Papiertüten mit den Aufschriften „Alcese“ oder „Fossini“ befanden sich neben Brotresten ansehnliche Stücke „focaccia“ vom Vortag, die er nur ein paar Minuten in den betagten Elektrogrill schieben musste, um sie genießen zu können. Während die fettigen „focaccia“-Teile sich langsam erwärmten, suchte er in den Hängeschränken über der Anrichte noch nach Keksen, Waffeln oder sonstigem Süßen. Doch Fehlanzeige. Seine Mutter hatte wirklich nichts im Haus, was seinen Appetit hätte befriedigen können. So musste er sich wohl oder übel mit der aufgewärmten „focaccia“ begnügen. Immerhin. Um sich einen Espresso zu kochen, war Luca zu faul. Da natürlich auch kein Bier, keine Cola oder Limonade im Haus war, aß er eben ohne Getränk. „Was soll’s“, schmatzte er halblaut vor sich hin und schaute dabei aus dem Küchenfenster.
Ja freilich, der Blick von hier oben war schon gewaltig. Besser als in seiner Behausung ein paar Meter unterhalb im Garten gelegen. Er bewohnte die obere Etage der ehemaligen Scheune. Mitte der 2000-er Jahre war die alte Scheune umgebaut worden, eigentlich ein Ferienhaus-Projekt seines Bruders. Die alte Konstruktion aus dem Jahr 1918 aus Pfählen, Holz und Palmblättern als Abdeckung, war festen Ziegelmauern und einem ordentlichen Dach gewichen. Samt der Eintragung im Grundbuch, versteht sich. Und natürlich hatte er auch eine kleine Küchenzeile eingebaut, doch kochen wollte er freilich nicht. „Das lohnt sich doch für einen alleine nicht“, war eine seiner Standard-Ausreden. Seiner Mutter Maria war es einerseits ganz recht, dass er oben bei ihr aß und meist sogar seinen Kühlschrank ausgesteckt hatte. „Das spart Stromkosten und ich bin nicht alleine beim Essen“, wiederholte Maria oft. Andererseits beklagte sie sich genauso häufig, dass ihr Luca lag auf der Tasche, er doch eine ganze Menge aß und sie eine kleine Rente bezog. Raffaele dachte sich bei seinen Riviera-Besuchen oft, dass die beiden Züge eines alten Ehepaares aufwiesen und er – in dieser Hinsicht - um nichts in der Welt mit Luca tauschen wollte. Doch als Raffaele damals von der Mutter verlangt hatte, im Grundbuch selbst als Besitzer eingetragen zu werden, war Schluss mit lustig. Mutter Maria hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es kam zum Streit und Maria baute die Scheue selbst aus respektive ließ sie ausbauen, was bedeutete, dass er, Luca, den Hinlanger für die Maurer geben und das gesamte Baumaterial die „Crosaiv del Pino“, die steinerne Treppe, die immerhin 80 unendlich lange Stufen zählt, mit dem alten Motor-Karren hoch transportieren musste. Sieben, acht oder mehr Transportfuhren täglich hatte er damals hinter diesem Kastenwagen, der auf zwei Kettenrädern montiert war und von einem 4-Takt-Honda-Motor betrieben wurde, täglich absolviert. Und natürlich musste er den Bauerbeitern zur Hand gehen bzw. Baumaterial besorgen, Material zubringen, Auf- und Abladen, Handreichungen – das ganze Programm eben. Ein wahrer Knochen-Job. Doch auf diese Weise war immerhin ein zweigeschossiges „landwirtschaftlich genutztes Gebäude“ entstanden, dessen obere Etage, rund 35 qm, er sich ausgebaut hatte. Mit der Erlaubnis seiner Mutter und mit Bordmitteln sowie der Hilfe von Freunden und Verwandten. Das war nun sein Reich. Besser als vormals in seinem Zimmer, im Zelt oder in dem winzigen 4-Quadratmeter-Gartenhaus, das er sich ans hinterste Ende des Gartens, auf eine Terrasse nahe des Begrenzungsgrabens, gestellt hatte.
Hier oben bei seiner Mutter, im Haupthaus, reichte die Aussicht weit. Über den Wipfeln der uralten und viel zu hohen Olivenbäume der Sorte „Taggiasca“, erstreckte sich das Tyrrhenische Meer, der Golfo Paradiso, und an klaren Wintertagen konnte man frühmorgens, wenn er, Luca, gewöhnlich noch schlief, die Nordküste Korsikas sehen oder Delphine. Ein halber Hektar Land, terrassiert, mit Olivenbäumen, Zitruspflanzen und noch ein paar anderen Obstbäumen, Mori, Ortsteil „Contra“ auf rund 80 m Meereshöhe. Oberhalb lag die Eingemeindung Sant’Apolinare. Maria war stolz auf ihr Lebenswerk, sie war die unangefochtene Herrscherin hier. „Hier bestimme ich“, lautete das Motto ihrer „Basta-Politik“, wenn es mal Diskussionen gab. Und die gab es eigentlich ständig.
Die „focaccia“ würde bestimmt gummiartig schmecken. War eh klar, dass für ihn nicht vorgesorgt war. Er würde wohl später zum Einkaufen müssen. Seine Schwester Julia und seine jüngere Nichte Claudia, beide hochqualifizierte Krankenschwestern in der Genueser Uniklinik San Martino – die eine unterrichtete als Dozentin an der Schwesternschule, die andere arbeitete in der Notaufnahme – hatten keine Zeit für so etwas. Seine Schwester hatte in den 80-er Jahren mit ihrem Ex-Mann Bruno den hinteren Teil des Hauses, nach Bitten und Betteln, ausgebaut und in den 2000-er Jahren auf diese Bausünde noch eine hässliche Veranda draufgesetzt, Schwarzbau, versteht sich. Nun bewohnte sie und gelegentlich Claudia diese hinteren angebauten, hässlichen Hausteile. Oft zogen sie ihn mit „mammonev“ auf oder noch schlimmer mit „cagai nido“vi.
Was würde aus all dem hier werden, was würde aus ihm werden, wenn die Mutter einmal nicht mehr wäre? Alle würden ihn fertigmachen und über den Tisch ziehen. Ganz bestimmt. Seine beiden Geschwister und seine Nichten und überhaupt alle. Männer hatten hier seit jeher den Kürzeren gezogen. Sein Vater Franco, Pietro, der Ex der Schwester, und auch Daniele, der Ex seiner größeren Nichte Elisabetta. Doch auch mit seinem Bruder im fernen München war nicht zu spaßen. Sie hielten ihn hier alle für den Familienidioten. Gerade gut genug, um ein paar „niedere“ Dienste zu verrichten, wie Holz zu hacken, Lasten hoch zu schleppen, die Olivenernte einzubringen oder auch kleinere handwerkliche Jobs zu erledigen. Nie konnte er jedoch ihren Ansprüchen genügen, zu ihrer Zufriedenheit arbeiten. Immer war er ungeschickt, schlampig, langsam, hatte nicht den passenden Ehrgeiz oder die richtige Initiative.