Читать книгу Zitronatszitronen - Dagmar Nedbal - Страница 4
Chiara
ОглавлениеDoch das alles war nichts im Vergleich mit den Problemen, die ihm sein Sohn Gian-Marino und dessen Mutter Chiara Maggi bereiteten. „Was für ein Scheiß-Leben“, bemitleidete er sich selbst ein wenig. Gian-Marino war sein vierjähriger Sohn und Chiara die Mutter. Ersteres wollte er zumindest glauben. Für einen heimlichen, nicht legal belastbaren DNA-Test fehlte ihm der Mut. Chiara verweigerte ihm die Anerkennung der legalen Vaterschaft, was seiner Mutter Maria aber gerade recht kam, wiederholte sie doch schon fast verschwörerisch „Unterschreib‘ ja Nichts!“ Mit Chiara war es schon seit gut einem halben Jahr endgültig aus. Sie schrien sich nur noch an, stritten wegen des Gelds oder Erziehungsfragen oder Nichtigkeiten. Er kam sich verarscht vor – von vorne bis hinten. Vielleicht war es ja das Beste so. Seit über 20 Jahren unterhielt er mit dieser Frau eine sogenannte „Drop-on-drop-off-Beziehung“. Kennengelernt hatte er sie über eine deutsche Freundin, Daniela Poth, die seit ihren Kindertagen hier in Mori lebte. Ihre Eltern arbeiteten damals in leitender Stelle am Goethe-Institut in Genua, das es heute gar nicht mehr gibt. Daniela besuchte die Deutsche Schule in Genua, die auch Chiara frequentierte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass italienische Kinder aus bürgerlichem Elternhaus die deutsche Schule besuchten, galt sie doch als eine der besten Schulen in der Region. Auch sein Freund Dario, der eine österreichische Mutter aufzuweisen hatte, besuchte die Schule, zu der er täglich von Lavagna anreiste. Auch Jörg, einer seiner weiteren Freunde, hatte er über die „deutsche Clique“ kennen gelernt. Seine Eltern waren beide Norddeutsche, die in Ligurien aus- oder besser umgestiegen waren. Weg aus Bremen – Leben am Mittelmeer, eben. Der Teutonen-Traum. Die magere und quirlige Chiara hatte ihn sofort fasziniert. Nicht nur, dass sie mehrere Sprachen beherrschte, nein sie war so voller Energie und Tatendrang. Und sie kritisierte ihn nie oder schickte ihn zur Arbeit, wie andere. Vielmehr fand sie es toll, dass er immer Zeit für sie hatte, mit ihr endlose Stunden am Meer verbrachte, spazieren ging oder einfach abhing. Obendrein war sie im Bett eine Wucht – und so viele sexuelle Erfahrungen hatte er auch wieder nicht aufweisen können. Sie ermunterte ihn, mit ihr in allen denkbaren und undenkbaren Stellungen zu schlafen und es war sie, die die Initiative ergriff und ihn anfeuerte „mach‘ so oder mach nicht so!“ Und klar, er konnte mithalten – das gefiel ihr, das beeindruckte sie wohl am meisten an ihm. Als Jörg dann sich mit der schönen Mia, einer Brasilianerin, zusammentat, die sich auch anfangs mit Chiara sehr gut verstand, hatten sie einen wunderbaren Sommer, voller Lust, Liebe und Leidenschaft verlebt. Sie machten, was sie wollten – meistens nichts – und jobbten ein wenig, um das nötige Kleingeld zu haben. Da die Eltern seiner Freunde dieses Leben ihrer halberwachsenen Kinder klaglos zu finanzieren schienen, fand auch er es ganz normal, so in den Tag zu leben. Vielmehr fanden seine Freunde es ungerecht, dass er, Luca, zu Hause mitarbeiten musste. Lastentransport, Gartenarbeit, Handwerkerjobs und solche Dinge, die ihm seine Mutter vermittelte. So kam auch er mit der Zeit zur Überzeugung, dass Eltern das Leben der Kinder finanzieren müssten, sie unterhalten müssten, denn schließlich haben sie sie ja auf die Welt gesetzt. In seinem Fall bedeutete dies, dass Maria ihn zu finanzieren hatte. Ganz egal in welchem Alter. Was konnte er schon dafür, dass in Italien die Wirtschaftskrise herrschte und eine hohe Arbeitslosenquote? Pah! Außerdem hatte gerade er am meisten darunter gelitten, dass seine Eltern in den 70er-Jahren dieses Riesen-Anwesen mit dem alten Bauernhaus gekauft hatten. Keiner hatte sich so richtig um ihn gekümmert. Nicht die Mutter, die bei der steinreichen Industriellen-Familie Boggiani die Hauswirtschafterin in deren Sommerresidenz in Mori gab, nicht der Vater, der als Gärtner dort geduldet war – auch aufgrund seines Alkoholproblems und seines störrischen Wesens – und auch nicht seine beiden älteren Geschwister, von denen jeder seiner Wege ging. Julia absolvierte damals eine Berufsausbildung zur Kinder-Krankenschwester in Genua und Raffaele besuchte das Istituto Tecnico Agrario in S. Illario, ebenfalls in Genua. Beide hatten ihre Freunde bzw. Freundinnen, waren ständig unterwegs und hatten bestimmt keine Zeit für ihren kleinen Bruder.
Doch die Zeiten änderten sich rasch Chiara ging nach dem Abitur nach Kalifornien, studierte mehr oder weniger erfolgreich an der Berkley University und heiratete einen Amerikaner, von dem sie sich jedoch nach ein paar Jahren wieder scheiden ließ. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Genua bei ihren Eltern ging sie danach nach Brasilien und fand dort in der britischen Botschaft – sie hatte immerhin auch die britische Staatsbürgerschaft – einen Job als Assistentin. Das war auch der Grund für seine einzige größere Auslandsreise im Leben. Er, Mia und Jörg besuchten Chiara dann im Jahr 2005 in Brasilien und machten eine vierwöchige Rundreise in diesem wunderbaren Land. Schließlich kam Chiara dann im Jahr 2011 endgültig nach Genua zurück. Er war in all diesen Jahren in einer Art Warteposition geparkt. War sie im Land, waren sie mehr oder weniger zusammen. War sie weg, lebte er nolens volens als Single. Ein Zustand, den seine Mutter natürlich so nicht akzeptieren wollte. Doch dann hatte Chiara, kurz vor ihrem 39. Geburtstag, ihren Kinderwunsch geäußert. Und er hatte eigentlich nichts dagegen bzw. dachte nicht allzu viel darüber nach, was das für ihn bedeuten würde. Ein fataler Fehler! Vielmehr war er damals von der Idee fasziniert, etwas Eigenes zu kreieren, etwas zu tun, was beispielsweise sein Bruder, nicht hatte: ein Kind zu zeugen. Auch seiner Mutter wollte er endlich mal etwas beweisen. Immerhin behauptete sie ständig, dass sie Kinder liebte. Und obendrein lief es mit Chiara mehr oder weniger gut, damals. Kurzum, sie hatten regelmäßig ungeschützten Sex und Chiara wurde ziemlich schnell schwanger. Das war im Sommer 2013. Im Spätsommer dann war Chiara zu ihm endgültig nach Mori zu ihm gezogen, wobei sich ziemlich schnell abgezeichnet hatte, dass das nicht gut gehen konnte. Die beiden Frauen, Chiara und Maria, verstanden sich überhaupt nicht. Ständig gab es Ärger, Streit und Auseinandersetzungen. Und er war immer mittendrin. Eigentlich begann sein Leben damals, sich zu radikal zu verändern. Aus war es mit der Ruhe, seinem lethargischen Tagesablauf, seinen kleinen Freiheiten und Fluchten. Dauernd kommandierten sie ihn herum, entweder die Mutter oder die Freundin. „Luca, mach dies, Luca lass‘ das!“ Den ganzen Tag. Kurz vor Weihnachten 2013 dann fasste Chiara den Entschluss, bestärkt durch ihre Eltern, die ihn ehedem nie leiden konnten und akzeptiert hatten, das Kind in Brasilien zur Welt zu bringen. Chiaras Vater, ein ziemlich wohlhabender Wirtschaftsanwalt aus Genua und die Mutter, ebenfalls eine Anwältin, verfolgten damit nicht zuletzt auch ihre finanziellen Interessen. Mit einem Enkel, der einen brasilianischen Pass aufzuweisen hatte, konnten sie ihr Schwarzgeld künftig nach Brasilien transferieren, um dort in Immobilien und Beteiligungen zu investieren. So hatte sie es bereits bei der Geburt ihrer eigenen Kinder mit Großbritannien gemacht. Chiara und ihre beiden Geschwister wurden in London geboren und haben neben der italienischen Staatsangehörigkeit auch britische Pässe, so dass die Eltern ihr Schwarzgeld an der Steuer vorbei auf den Carman Islands investieren konnten. Nur war dieses Steuerschlupfloch mittlerweile im Zuge der Initiativen der Europäischen Union gestopft und es mussten andere Lösungen her. So war die Idee mit der Geburt des Enkels in Brasilia, in der Privatklinik Hospital São Lucas geboren.
„Ich werde das Kind in Brasilien zur Welt bringen“, hatte ihm Chiara lapidar eines Tages im Dezember eröffnet. „Das ist für alle besser“. Seine Einwände, wie strapaziös ein Langstreckenflug hochschwanger sei, dass die Geburtskliniken in Genua doch top seien und er auch gerne dabei sein würde, zählten nicht. Er, Luca, hatte wieder mal nichts mitzubestimmen und so flog Chiara hochschwanger kurz vor Weihnachten 2013 nach Brasilien und brachte am 5. Februar 2014 Gian-Marino auf die Welt. Er hatte sie damals zum Flughafen gebracht und auch wieder abgeholt, kurz nach der Geburt mit dem Neugeborenen auf dem Arm. Nach ihrer Rückkehr nach Italien, sichtlich gezeichnet von der Geburt, zog sie wieder bei ihren Eltern in der Via Catarina in Genua ein und für Luca begann ein absurder Albtraum, das Hin und Her zwischen Mori und Genua. Seither war sein Leben noch weiter aus den Fugen geraten. „Nella merda fino agli occhi“vii oder „In der Scheiße bis zu den Augen hoch“, wie man so in Ligurien derb sagte. Er machte den Babysitter zu Tag- und Nachtzeiten, musste auf Anruf antanzen oder verschwinden, gerade so, wie es Chiara in den Kram passte. Seinen ehedem rarer gewordenen und unregelmäßigen Jobs konnte und wollte er eigentlich überhaupt nicht mehr nachgehen und nach und nach verließen ihn auch seine teuersten „Stammkunden“ bzw. andere Gelegenheitsarbeiter, vor allem aus Lateinamerika, Osteuropa oder auch Rentner übernahmen seine Aufträge. Die Freunde ebenso. Er begab sich immer mehr in eine Art ungewollte Isolation. Die Pseudo-Vaterschaft auf Abruf führte natürlich auch dazu, dass seine Mutter und seine Schwester an ihm ständig Kritik übten und so befand er sich in einem wahren Teufelskreis, einem Hamsterrad-Effekt. „Schau doch, wie Du runtergekommen bist“, war noch eine freundliche Ansage seiner Schwester Julia.