Читать книгу Mit schwarzen Flügeln - Daimon Legion - Страница 8
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ОглавлениеMan hatte ihn wieder mal ins Tribunal bestellt.
Zu Luzifels Erstaunen aber nicht um seiner selbst wegen, nein, diesmal sollte er nur seinen Posten beziehen und gegebenenfalls eine Bemerkung abliefern. Es ging hauptsächlich um ein paar Anhörungen von einzelnen Engeln zu verschiedenen Themen, die zu banal waren, als dass er sich gemerkt hätte, was überhaupt der Fall war. Irgendwie waren es langatmige Planungen zu belanglosen Festlichkeiten und das Durchkauen neuer Gesetze.
Und ein unvorsichtiger Engel der Mächte hatte sich bei der letzten Siegesfeier einen Fauxpas geleistet, wofür er eigentlich hätte vor das Hohe Gericht müssen, jedoch boxte ihn Michael günstig raus. Als Anführer der Mächte unterlag es schließlich ihm, ein Strafmaß wegen einer solchen Bagatelle zu fällen.
Kamaels wütender Gesichtsausdruck darauf war Gold wert gewesen und der Jurist wurde gleich noch ungehaltener, weil er Luzifels Schadenfreude aufschnappte.
Nachdem alle Anlässe abgeklärt waren, entließen Metatron und Sandalphon ihre Berater und zogen sich zurück. Wahrscheinlich, um mit Gott zu diskutieren, wie sie das gemeine Volk weiter unter ihrer Fuchtel halten konnten.
„Geht es dir besser, Lou?“, fragte ihn Michael beim Hinausgehen.
„Mir geht’s blendend, Kleiner“, entgegnete er scharfzüngig.
„Da siehst du es. Das waren alles nur flüchtige Launen in letzter Zeit. Es gibt für uns Seraphim doch wirklich nichts zu beanstanden. Gott kümmert sich schon um uns.“
„Oh ja, aufopfernd.“ Luzifel bezweifelte, dass Michael den Doppelsinn spitzkriegte.
„Wir können froh sein, Gott zu haben. Ich denke nicht, dass Satan für seine Dämonen nur halb so viel macht. Seit Neustem kreist das Gerücht herum, Gehenna gleiche einer kargen Wüstenlandschaft ohne Wasser und mit brennend heißer Sonne, die einem das Fleisch auf den Knochen gar brät. Nein, mit denen dort unten will ich nicht tauschen. Bei uns ist es wesentlich schöner.“
Leise brummte Luzifel ein: „Ja, hast recht.“
Während Michael weiterredete, stiegen beide die Treppen hinunter, um auf den Großen Platz zu kommen. Seinem Bruder hörte Luzifel bei all den Adorationen nur halb zu. Sie klangen für ihn nach einem müden Versuch, Jahwe gut dastehen zu lassen. Seit er sie mehr und mehr beim Namen nannte, verlor sich irgendwie der klägliche Rest Respekt vor ihr ...
„Erinnerst du dich noch an den alten Satan, Lou?“, sprach Michael ihn direkt an, dass er nicht mehr bloß so tun konnte, als folge er dem Gespräch.
„Ein bisschen. Ist ja schon lange her.“
Er sah ihn noch genau vor sich. Den geflügelten Drachen, die gefiederte Schlange. Mit Schuppen so hart wie heiliger Stahl und rot glühenden Augen. Die schwarzen Klauen rafften seine weißen Gardisten wie der schneidende Wind dahin.
„Dich nannte er einen Hänfling“, sann sein kleiner Bruder nach, „und ich war bloß eine aufdringliche Fliege, die wild um ihn herumschwirrte, ohne etwas ausrichten zu können. Der ganze Himmel erbebte unter seinem Gebrüll und noch lange roch man das Blut der Toten in der Luft. Das war ein gefährlicher Kampf damals, nicht wahr? Wer weiß, was wir ohne dich gemacht hätten.“
Ja, wer weiß?
Wie wäre der Krieg wohl ohne ihn verlaufen?
Ein Fiasko – höchstwahrscheinlich.
Am Fuße des weißen Gebäudes verabschiedete sich Michael fröhlich von ihm. Er wollte zurück in den vierten Himmel und dort weiter seine Pflicht zu erfüllen.
Luzifel war das nur recht.
Seinen Gedanken nachhängend, sah er sich in der Gegend um. Auf dem umliegenden Terrain wandelten verschiedene Engel, um verschiedene Wege zu gehen. Die Zivilisten erschienen ihm erstaunlich bunt. Manche trugen eine Gardeuniform, andere blasse Alltagskleidung. Der eine stellte seine Flügel zur Schau, der nächste nicht. Es gab Blonde – ab und an einer, der so blond war, dass er fast weißes Haar hatte – und dann natürlich noch Schwarzhaarige wie ihn.
Er bummelte über das Areal auf ein flaches Wasserbecken in der Platzmitte zu. Es war eine eher schmucklose Verzierung des Gebietes, dennoch schwammen weiß-goldene Fische unter der klaren Oberfläche. Sich auf den Beckenrand setzend, beobachtete Luzifel, wie sie ihre glatten Körper bogen und drehten, um im Wasser voranzukommen.
Ob diese Geschöpfe je auf den Gedanken kämen, dass ihre heile Welt nur eine kleine Lache inmitten eines weit enormeren Kosmos’ wäre? Fragte einer unter diesen Winzlingen nach dem Sinn seiner Existenz? Und wenn, kam dann der riesige Kescher und entfernte ihn von den anderen?
Er war der Störfaktor in der Perfektion.
„Du entwickelst dich zu einem Risiko, Morgenstern“, höhnte einer.
Luzifel schaute auf und entdeckte Kamael, mit etwas Abstand bei ihm stehend.
Der silberblonde Richter blickte erhobenen Hauptes auf ihn herab, seine weiße Tunika wehte wie sein Haar ausladend in der Brise.
„Was willst du?“, fragte Luzifel ihn im giftigen Ton. Lang genug hatte er den arroganten Kerl im Tribunal ertragen müssen. Warum folgte der ihm jetzt auch noch?
„Es heißt, du seist in letzter Zeit unbeständig hinsichtlich deiner Loyalität. Treibst dich mit Grigori-Abschaum herum und suchst Ausflüchte, um nicht in den Dienst zu treten. Und dann noch diese Geschichte mit dem Thron. Mach nur so weiter, dann kann der Rat endlich einen würdigen Anführer für die Garde wählen, statt dich abgehalfterten Spinner.“
Luzifel baute sich so gut es ging vor ihm auf und erwiderte stolz: „Muss ich mir so was von einem bedeutungslosen, niedrig gestellten, armseligen, unterwürfigen Opportunisten wie dir sagen lassen?“
Zu ihm hinuntergebeugt, dass ihre Gesichter einander fast berührten, raunte Kamael: „Du verträgst keine Wahrheit, hochmütiger Morgenstern. Jeder, der lange genug in deine Augen blickt, erkennt deine unreine Seele. Mörder so vieler Dämonen, dass er selbst zum Dämon wurde. Du kannst noch so sehr auf deinen ersten Rang pochen und ein Seraph sein – du bleibst ein misslungenes Werk.
Ich hörte, die Truppe schimpft dich Todesstern. Ein äußerst passender Name.“
„Seltsam, dass ich trotz aller Gerüchte und feiger Falschheit noch immer Gottes meistgeliebter Engel bin. Du kannst mir zwar drohen und mich einen Spinner nennen, doch mein Wort wiegt schwerer als deines. Aus dir spricht der blanke Neid, ebenfalls eine Todsünde.
Was sorge ich mich überhaupt um dein rechthaberisches Geschwätz? Du bist es nicht würdig, einen meiner Gedanken wert zu sein. Kümmere dich um deinen Kram und wälze die Strafregister Machons, anstatt mir auf die Nerven zu fallen.“
Kamael trat grimmig zurück und drehte ihm den Rücken zu. „Das werde ich auch tun. Denn ich hoffe darauf, bald deinen Namen in ihnen zu finden.“
Was sollte dieser Einschüchterungsversuch? Plante Kamael etwa, ihn in das Gefängnis der fünften Sphäre werfen zu lassen, nur weil er mal etwas Unbedachtes sagte oder tat? Für den Aufenthalt in einer legalisierten Spelunke musste er nicht hinter Gitter wandern. Auch lag der letzte Besuch bei Ramuel schon lange zurück ... Oder? Ob der Grigori noch etwas wusste?
Ach, was gab er auf den eifersüchtigen Kerl?
Sich vom Wasserbecken und den Großen Platz abwendend, ging Luzifel nach Hause.
Dort erwartete ihn eine Notiz von Samael, der ihn daran erinnerte, dass er zum Bankett geladen war.
Eine unwichtige Lustbarkeit ohne Sinn und Verstand, gekrönt von dem Konzert der bekanntesten Harfenspieler Aziluts. Luzifel hätte abgesagt, wenn die Einladung nicht von Jahwe persönlich wäre.
Während der ganzen Prozedur war es seine Aufgabe, nicht von Gottes Seite zu weichen und dem dümmlichen Gebrabbel ihrer hofierenden Gäste zu lauschen. Man würde ihn in endlose Diskussionen verwickeln, die allesamt ermüdend waren und die musikalische Untermalung würde ihm den Gnadenstoß geben.
„Als wenn ich das heute noch gebraucht hätte“, seufzte er zu sich selbst.
Luzifel erschien brav und artig im Palast Gottes, gekleidet in seinem besten weißen Anzug.
War es nötig, Gottes Residenz zu beschreiben? Weiß, hell, warm und von so üppiger Ausstattung, dass sein Heim wie ein schlichter Stall wirkte, den man nicht entmistet hatte. Überall standen Statuen von, ja, gottgleicher Schönheit und bildeten athletische Körper, wie sie nur die Engel haben konnten.
Nur, dass die Flügel fehlten, aber sonst waren die Formen klar definiert und zeigten, wie es um den Geschmack Jahwes stand, wenn es ihre Schöpfungen anbelangte. Mit ihm in leiblicher Person. Er, das Prunkstück ihrer Sammlung.
Engel der oberen Triade hielten sich im Gebäude auf, gekleidet in leichtem Samt und schwerem Brokat, jedoch immer schillernd glänzend. Farblich nichts anderes als wieder Weiß, Gold und Silber.
Und kaum, dass man seine Anwesenheit bemerkte, stürmten die Schleimer mit Gesprächen auf ihn ein. Wollten wissen, wie es im Hohen Rat aussah, bei der Garde, in den letzten Schlachten gegen das Dämonenheer (Was denn für ein Heer?) und ob es wahr war, was die Gerüchteküche über ihn verbreitete, wie zum Beispiel den Mord an Thron Tzaphiel.
Er klemmte sich ein Lächeln ins Gesicht und antwortete, man solle nicht alles glauben, was Neider und Heuchler verbreiteten.
Zu dem Bankett zählte ein Gelage, wie man es allein bei Gott genießen konnte.
Nur verging dem eigenwilligen Engelsfürsten der klägliche Appetit – Engel aßen nie aus Hunger, das hatte Jahwe so eingerichtet – beim Anblick der goldenen Früchte, die weitestgehend angeboten wurden. Ihr süßes Fleisch hatte einen herben Beigeschmack, als würde er Wein mit Blut versetzt trinken.
Früher, zum Beginn allen Seins, hatte man ihm und den anderen erstrangigen Erzengeln stets die Früchte der Erkenntnis vorgesetzt, um ihr Wissen und Denken zu schärfen. Das ging so einher, bis er selbst schließlich begriffen hatte, dass die Frucht auch abhängig machte, und Engel bei Dauerkonsum entgegengesetzt in komplett törichte, meinungslose, leicht kontrollierbare Puppen verwandelte.
Er ließ besser die Finger davon, sah jedoch welche, die unwissend und in einer haltlosen Gier die gelbfleischigen Happen aßen. Das war der schnelle Weg ins Verderben.
Ja, Gott achtet auf ihre Kinder. Damit die nichts anstellten und anfingen, eigenmächtig zu handeln. Oder ihr gar zu widersprechen drohten.
„Was schaust du so zornig und finster drein, mein Schöner? Denkst du wieder schlecht von mir?“
Lautlos stand sie hinter ihm, mit diesem süffisanten Lächeln in dem herrlichen Antlitz ohne Alter.
Jahwe trug ein blassblaues Gewand zu dem Anlass, versetzt mit funkelnden Topasen. Ein jeder beugte sein Haupt bei ihrem Anblick und so musste Luzifel wohl oder übel mitspielen. Obwohl er sie lieber laut angepflaumt hätte, weil sie ständig an seinem Verstand herumfingerte.
Ehrerbietend machte er vor ihr einen Diener, nahm ihre zarte Hand und drückte dieser einen leichten Kuss auf. Jeder wusste, dass er der Einzige war, dem sie eine Berührung erlaubte.
„Ich habe keinen Grund, etwas Schlechtes von Euch zu denken. Ihr seid mein Gott, dem ich zur Treue verpflichtet bin“, spulte er mechanisch sein Gelübde ab.
„Das freut mich zu hören, Luzifel.“ Sie streichelte ihm die blasse Wange. „Dann zieh nicht so ein Gesicht in meinem Heim, wenn du mir treu bist. Es wäre schade, dich wiederholt maßregeln zu müssen.“
Typisch Gott. Luzifel biss sich ausnahmsweise doch auf die Zunge, bevor er etwas sagte, dass er ganz sicher bereuen würde. Es kostete ihn mehr Kraft als ein Waffengefecht gegen alle Erzdämonen.
Gemächlich geleitete er Jahwe durch die Räume und Gänge ihres Palastes und stand schweigend daneben, während sie kokettierend mit anderen Gästen redete. Wie er diese gespielten Albernheiten hasste. In seiner Fantasie explodierte das Gebäude in einer immensen Feuersbrunst. Die unwürdigen Massen wurden vom Druck zerfetzt und in die Luft geschleudert, bis ihre Gebeine im blutigen Regen niederfielen. Trümmer, Geschrei, Verzweiflung. Die Musik des Krieges. Irgendwie fühlte er sich in diesem Szenario heimischer als zwischen all dem losen Geplänkel.
Sie trafen auf Metatron und Sandalphon, die über etwas debattierten, bei dem die Zwillinge sich mal wieder uneins waren, und so manches Mitglied des Hohen Gerichtes war auch zugegen. Zum Glück traf er aber Kamael nicht an, sonst wäre die Party schnell gesprengt worden.
Seine Wege kreuzten aber die von Gabriel und Uriel, die augenblicklich zu flüstern aufhörten, als sie merkten, dass er sie beobachtete. Was die spießige Statthalterin und der pingelige Herr vom Ordnungsamt zu verheimlichen hatte? Bestimmt nichts Gutes. Er würde ihre Schnapsideen sicher ausbaden müssen.
Zu späterer Stunde versammelte sich die vergnügte Gesellschaft im Hörsaal, um dem angekündigten Harfenkonzert zu lauschen. Luzifel nahm einen Platz im hinteren Teil von Jahwes Loge im Schatten des grellen Bühnenlichtes ein und hoffte, zumindest den Eindruck zu machen, als ob es ihn gefiel, was seine Ohren hörten.
Das himmlische Musikverständnis hatte ihm nie behagt. Das seichte Gezupfe und Tongeplätscher war seiner Meinung nach nicht weniger überflüssig, wie das ganze reine Weiß um ihn herum. Wäre die Welt Gottes nicht immer noch die ihre, wenn man mal etwas an der Ausstattung ändern würde? Er verlangte ja nicht viel. Bloß etwas mehr Farbe. Kontrast. Lautstärke.
Nach drei Stücken hatte er das Gefühl, sein Kopf sei mit Luft gefüllt. Jede neu gezupfte Saite war ein reißender Nervenstrang in seinem Gemüt.
„Langweilt dich die Vorstellung, mein Luzifel?“, lächelte Jahwe ihn an, wohl wissend, was er dachte.
„Sie ist entsprechend der Veranstaltung.“ Eine Zumutung.
Sie kicherte verspielt.
Schön, wenn sie sich so amüsiert, dachte er spöttisch und verdrehte die Augen. Ich habe andere Sorgen ...
„Jahwe, ich würde gern mit dir im Vertrauen sprechen wollen“, flüsterte er ihr ernst zu, da gerade ein weiteres Stück geendet hatte. Dieses Gespräch war seiner Meinung nach lange überfällig und er wollte es führen, ehe sie auf ihre Art den Abend zum Abschluss brachte.
„So sehr mich dein delikater Anblick auch erfreut, es ist jetzt noch nicht die Zeit dafür, mein hübscher Junge. Ich will vorerst den Ball genießen. Später lasse ich nach dir rufen und widme deinem Körper meine ganze Aufmerksamkeit.“
Ihre Stimme gurrte verführerisch und augenblicklich durchfuhr ihn die nackte Angst vor diesem Später. Beim bloßen Gedanken daran, kochte ihm das Blut hoch.
„Das habe ich nicht gemeint, Jahwe!“, zischte er vor Wut und Scham. „Und ich hab dir oft genug gesagt, dass ich nicht wie ein Spielzeug behandelt werden will! Ich bin nicht dein Eigentum!
Es ist mir wichtig, dass du mir auch mal zuhörst, wenn ich dir etwas sagen -“
Das milde Lächeln verschwand und seine Gesprächspartnerin schlug einen ähnlich heftigen Sprachton an wie er, als sie fauchte: „Ich muss mir gar nichts von dir anhören, Luzifel! Ich bin Gott! Und Gott bestimmt! Gott ist deine Welt und dein Gesetz, dem du zu gehorchen hast! Du aber bist ein Nichts ohne mich! Du wurdest geschaffen, um jedem meinen Wünschen Folge zu leisten! Wage es nicht, deinem Gott zu befehlen! Also schweig und warte die Zeit ab!“
Ein Knurren war die einzige Antwort, zu der er fähig war. Ihr Bann presste seinen Kiefer zusammen und er blickte schweigend zu Boden wie ein unartiges Küken. Doch zornig bebte sein Herz. Ihre Worte machten nur zu deutlich, was sie von ihm hielt.
Von wegen Gardeführer, Seraph, Kriegsheld und Gottes geliebter Engel. Alles mehr Schein als Sein.
Er war niemand.
Er hatte nur das Glück, begünstigt zu sein.
Jahwe spürte seine Enttäuschung und setzte kalt nach: „Und im Übrigen, dummer kleiner Luzifel: Du bist mein Spielzeug. Wenn ich dir wegen deines neuartigen Starrsinns überdrüssig werde, werfe ich dich fort, und nehme mir einen neuen Liebhaber.
Keiner wird meine Entscheidung infrage stellen, weil ich Gott bin. Und du bist mein Diener.“
Das war zu viel. Er musste hier weg.
„Bleib sitzen!“, befahl Gott. „Wage es nicht, mich lächerlich zu machen!“
Seine Glieder gehorchten ihr nicht. Sie zitterten, statt still zu stehen.
Raus. Raus!
„Luzifel!“
RAUS!
Bevor er sein Handeln begreifen konnte, rannte er aus der Loge, unkoordiniert, doch er rannte. Ohne zu beachten, dass einige sein Gehen interessiert verfolgten.
Der Schmerz seiner Wut drohte ihn zu zerreißen. Tränen stahlen sich aus seinen Augen und verschleierten ihm die Sicht auf die Straßen. Ein paar Mal stieß er mit jemanden zusammen, aber er rannte weiter.
Er war ihr nichts wert. War entbehrlich, austauschbar. Sie schlug ihm die Wahrheit hart ins Gesicht. Alles, was er besaß, waren diese unzähligen Ketten, die ihn an eine Lüge fesselten. Sein ganzes Leben stützte sich bloß auf ihre Gunst und Grausamkeit. Auf ein Sklavendasein. Stets zu Diensten.
Ja, er war ihr meistgeliebter Engel. Doch nur, solange er mitspielte. Solange er alles tat, was sie wollte, war er dieses Trugbild aus falschem Glanz und gekauftem Ruhm. Wenn sie seiner dann müde wurde, verlor sie das Interesse und er sein Selbst.
Ein Gott besaß kein Herz. Denn das machte verletzlich und fehlbar. Und Gott ist ohne Fehler.
Wer war er?
Was war er?
Wem machte er hier etwas vor?
Seine Existenz war ein albtraumhafter Versuch. Ein undurchdachtes Experiment. Der Erste seiner Art. Belastet mit allen Komplikationen. Mit einem schwachen, brechenden Herzen. In der traurigen Gewissheit, weggeworfen zu werden und namenlos zu vergehen.
Wäre er frei ... freien Willens ... könnte er entfliehen ...
Abrupt blieb er stehen.
Frei?
Es dämmerte ihm.
Ich habe mich ihr widersetzt.
Sie hatte ihm befohlen zu bleiben und er war gegangen.
In der leeren Gasse stehend, wurde ihm heiß und kalt. Die Tränen trockneten auf seiner Haut.
Was habe ich getan?
Ich habe ihr nicht gehorcht.
Wie ist das möglich?
Und was soll ich jetzt tun?
Wohin jetzt?
Seine Hände zitterten noch immer.
Zu Ramuel? Nein, sein Wein würde ihn weder heilen noch stärken können, auch wenn er ihm das Lager leertrank. Außerdem wollte er den Grigori nicht in seine brodelnde Fehde hineinziehen. Jahwe war garantiert wütend wegen seinem Bruch.
In sein heimisches Gefängnis wollte er auch nicht flüchten.
Die Lösung war erschreckend einfach. Was er brauchte, um dieses verwirrte Chaos in sich zu richten, war das geradlinige, klare Gemetzel einer Schlacht. Ja, genau. Der Todesstern wollte Blut sehen. Schreien, zerstören und töten. Was er halt am besten konnte.
Eine merkwürdige Ernüchterung breitete sich in ihm aus.
Luzifel rannte weiter. Bald blieben Aziluts Stadttore hinter ihm zurück und er hechtete durch weiße Wiesen und vorbei an Bäumen aus Glas und Kristall. Erschöpfung nahm er gar nicht wahr, sein Verlangen nach dem Tod anderer trieb ihn voran.
Endlich erreichte er einen klaren See, der im Sonnenlicht wie Silber glänzte. Ein heller Steg aus Elfenbein führte vom kreideweißen Kiesstrand in die Mitte des Gewässers und Luzifels Stiefel donnerten über die Planken.
Am Ende der Anlegerbrücke läutete er stürmisch eine goldene Glocke, dass diese beinahe aus der Halterung brach, und wartete, während sich seine Brust vor Anstrengung bebend hob und senkte.
Nebelschwaden zogen über dem Wasser auf und wurden dichter. Ein Horn tönte mystisch.
Unruhig ging Luzifel hin und her. Der Typ soll schneller machen und aufhören, den Unheimlichen zu spielen, fluchte er in Gedanken.
Aus dem Dunst trat der Bug eines hölzernen Bootes hervor. Die Barke hatte bereits bessere Tage gesehen, wirkte morsch und roch schimmlig. Der Kapitän war auch nicht mehr taufrisch und wüsste Luzifel nicht, wer Charon war, hätte er den Rotbärtigen für eine zerlumpte, unwichtige Vogelscheuche gehalten.
„Sieh an, sieh an, wer mich da ruft“, neckte der Fährmann mit einer Stimme jenseits vom Diesseits. „Ist dieser Hitzkopf nicht der sonst so erhabene Engelsfürst Morgenstern? Was kann ich für dich tun?“
„Bring mich nach Hades!“, befahl Luzifel ihm.
„Sind deine Flügel lahm, dass du den Flusslauf als Reisemöglichkeit wählst?“, lachte Charon rau. „Ich werde mich nicht beschweren, so hab ich wenigstens mal etwas zu tun. Aber du weißt, mein Dienst kostet.“
Luzifel zog aus seinem Jackett einen Beutel und warf ihn zu Charon ins Boot. Der Inhalt klimperte.
Der Fährmann hob die buschigen Brauen. „Oh, das klingt nach vielen Münzen.“
„Ich weiß, dein Sold ist mies und deine Aufträge gering. Nimm von mir aus alles, doch ich fordere dein Schweigen ein. Verrate niemanden, dass ich nach unten fahre. Besonders deiner Herrin nicht.“
Sein Geschäftspartner zuckte die Schultern. „Wie du willst, ich kann schweigen. Und der Hades ist neutral, du kannst dort Urlaub machen, wie du willst.“
Von Urlaub war keine Rede, jedoch würde Luzifel ihm sein Reiseziel nicht erklären. Dem seltsamen Kauz ging sein persönliches Problem mit Jahwe nichts an. Er betrat die Barke und setzte sich in den Kielraum nieder, die geballten Fäuste jetzt unruhig vor Tatendrang.
Schwankend lenkte Charon die kleine Nussschale hinaus aus Araboth.