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Eins

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Daniel


Dieses Mädchen gehört definitiv zu meinen größten Herausforderungen. Sechs Monate sind vergangen, seit ich mich ihr zeigte. Sie glaubt immer noch, dass ich ein Hirngespinst von ihr war. Dennoch hat sie meinen Brief behalten. Fast jeden Tag liest sie ihn, und fragt sich, wie dieses Papier in ihren Besitz gekommen ist. Manchmal glaubt sie, dass irgendein Witzbold ihn in ihre Tasche gesteckt hat. Sie verliert den Glauben an mich. Was aber schlimmer ist, sie verliert den Glauben an sich selbst. Ich muss etwas unternehmen.

Sie fragen sich sicher, wie das so geht mit uns Schutzengeln. Ich wette, es gibt eine Menge Menschen, die nicht an uns glauben. Ich versichere Ihnen: Es gibt uns. Der Job ist hart, und manchmal versagen wir leider. Einige von uns nehmen es auch nicht so genau mit dem Beschützen. Die kriegen dann Ärger mit dem… Oh! Ich rede zu viel. Das ist ja alles streng geheim. Es versteht sich, dass wir im Hintergrund arbeiten. Wenn wir uns mal zeigen müssen, dürfen wir nicht sagen, dass wir Schutzengel sind. Ich weiß, ich habe Carolina das erzählt. Und ich kann Ihnen sagen, das hat mir eine Verwarnung eingebracht. Ich wäre beinahe runtergestuft worden. Was das bedeutet, wollen Sie gar nicht wissen. Davon abgesehen, darf ich es eh nicht verraten.

Nur so viel: Jeder Schutzengel hat ein kleines Gerät (ähnlich wie diese neumodischen tragbaren Computer, die Sie kennen), um seinen Schützling zu beobachten.

Ich sitze also jetzt hier in meinem Zimmer und schaue mal wieder Carolina zu, die sich gerade in ihrem Büro befindet und langweilige Zahlen in ihren Computer tippt. Sie hat schon ein paar Tage nicht mehr gelächelt. Das gefällt mir nicht. Aber sehen Sie selbst:


Carolina


Ich hasse das. Ich hasse das. Ich hasse das. Dieser Tag zieht sich mal wieder wie Kaugummi. Immer, wenn ich denke, ich bin jetzt durch mit diesen blöden Zahlen, kommt die Hartke und bringt mir eine neue Liste. Gut, dass heute Freitag ist. Noch zwei Stunden - dann hab ich diese elende Woche geschafft.

„Hey, Caro“, ruft mir Sabine zu, „was hast du am Wochenende vor?“

Himmel, ich erschrecke mich. Hab nicht damit gerechnet, dass Bine mich anspricht. Naja, eigentlich muss ich immer damit rechnen. Sie ist eine Quasselstrippe. Nur eben jetzt gerade, in diesem Augenblick, meine ich, habe ich es nicht erwartet.

Ich starre sie an. „Nichts.“

Was glaubt sie denn? Jeden verdammten Freitag stellt sie mir dieselbe Frage. Und jeden verdammten Freitag bekommt sie dieselbe Antwort. Warum sollte das heute anders sein?

„Komm doch nachher mit rüber ins Café.“

„Keine Zeit.“, antworte ich mürrisch. Sie soll mich in Ruhe lassen.

„Ich denke, du hast nichts vor.“ Bine lacht mich an. Das Schlimme an ihr ist ihr sonniges Gemüt. Sie nimmt nie etwas krumm. Sie ist nicht nachtragend, und sie denkt von allen Menschen (und Tieren) das Beste.

Würg. Das nervt.

Ich atme tief durch, in der Hoffnung, sie merkt, dass sie mir auf den Keks geht. „Ich muss nach Hause, Bine. Ich erwarte Besuch.“

Mit ihren großen blauen Augen schaut sie mich an. Dann erscheint ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht, das mit jeder Sekunde wächst. Und auf einmal lacht sie laut. „Klar doch, Caro.“ Sie kriegt sich gar nicht ein. „Du erwartest Besuch. Ich kenn‘ dich jetzt wie lange?“

„Ähm… Ein knappes Jahr? Seit du in dieses ehemals friedliche Büro gestürmt bist und das Chaos mitgebracht hast.“

Ich bin unfair. Na und? Mir egal.

„Du meinst, in dieses ehemals langweilige, trostlose Büro.“

„Büros sind nun mal langweilig und trostlos. Das hier ist nur ein Job.“

„Fakt ist, dass du heute keinen Besuch kriegst. Caro, ich kenn dich nicht sehr gut. Aber ich weiß, dass du dich mit niemanden triffst. Schon gar nicht bei dir zu Hause.“

„Woher willst du das wissen? Spionierst du mir nach?“

„Nein. Natürlich nicht. Das bräuchte ich gar nicht. Also, kommst du nun mit? Auf einen Kaffee?“

Ich bin gerade dabei, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. Doch Bine hält mein Schweigen für eine Zustimmung.

„Juchu“, jubelt sie, „das ist toll!“

„Was ist toll?“

„Dass du mitkommst. Ich freu mich so.“

Ähm…


Daniel


Sehen Sie, was ich meine? Carolina geht von Montag bis Freitag in ihr Büro und danach nach Hause. Sonst nichts. Kein Treffen mit Freunden. Kein exzessives Shoppen, wie andere Frauen das gern tun. Kein Kino. Kein Spaß. Von einem Freund mal ganz zu schweigen.

Dabei habe ich extra dafür gesorgt, dass Sabine Müller zu ihr ins Büro kommt. Verstehen Sie das nicht falsch. Frau Müller ist keine von uns. Sie ist ein ganz normaler Mensch, der einfach sehr lebenslustig ist. Im gleichen Alter wie Carolina, also Anfang vierzig. Ihr Schutzengel und ich hatten vereinbart, dass Sabine meiner Carolina auf die Sprünge hilft. Bisher ohne Erfolg. Doch heute scheint sich die Warterei ja mal gelohnt zu haben. Ich bin gespannt.


Carolina


Endlich Feierabend. Nur raus hier. Und bloß nicht Bine in die Arme laufen. Die grinste mich in den letzten beiden Stunden nur blöd an, stemmte ihre Faust in die Luft und schrie tonlos „Hurra“. Meine Güte.

Während der Computer runterfährt, räume ich meinen Schreibtisch auf, ziehe meine Jacke an, nehme meine Tasche vom Stuhl und drehe mich nach Sabine um - die verschwunden ist. Auch gut. Kann ich also ganz entspannt nach Hause gehen.

Ich verlasse das Büro, laufe die drei Etagen über das Treppenhaus hinunter - nicht, dass mir im Lift noch jemand begegnet und das dämliche Spielchen mit dem „Schönes Wochenende“ beginnt. Montage und Freitage sind hier ätzend. Montags wollen alle wissen, was man so gemacht hat an den beiden freien Tagen. Man muss sich Berichte von diversen Partys anhören. Oder von Familienzusammenkünften. Oder von Ausflügen. Wie langweilig.

Freitags dann dieses oberfröhliche Gequatsche von den bevorstehenden Plänen.

Wozu? Warum kann man sich am Wochenende nicht einfach zu Hause aufs Sofa legen, sich durch das öde TV-Programm quälen oder ein gutes Buch lesen? Warum muss man immer irgendetwas tun? Wie kann dieses ewige Hin und Her glücklich machen?

Mittlerweile bin ich unten angekommen und öffne die Tür nach draußen.

„Caro! Da bist du ja endlich.“

Mist!

„Du musst damit aufhören, mich ständig zu erschrecken, Bine. Wenn du mir ans Leben willst, mach es schnell und schmerzlos.“

„Ach, du wieder.“ Sabine hakt sich bei mir unter und zieht mich lachend mit nach rechts.

„Ich dachte, ich warte lieber hier unten auf dich.“, meint sie. „Nicht, dass du versuchst, abzuhauen.“

Genau das hatte ich vor. Beim nächsten Mal muss ich schneller sein.

Ich grinse sie ein bisschen schief an. „Okay, Bine. Einen kleinen Kaffee, und dann bin ich aber weg. Und dass das nicht zur Gewohnheit wird.“

Sie strahlt. Was auch sonst?

Wir laufen ein paar Hundert Meter die Straße entlang, bis wir zu dem kleinen Bistro kommen, in dem wir oft unsere Mittagspause verbringen. Das Kantinenessen ist noch schrecklicher als unsere Chefin. Wobei das kaum möglich ist.

Im Bistro, das ziemlich gut besucht ist, finden wir einen Tisch für zwei am Fenster. Wie romantisch, denke ich mir.

„Weißt du, was ich jetzt vertragen könnte?“, fragt Sabine.

„Du wirst es mir verraten.“

„Ja. Aber nur, weil du es bist.“ Sie kichert ein bisschen. „Ich könnte jetzt ein Glas Sekt vertragen.“

„Gibt es was zu feiern?“

„Jaaaa.“

„Und?“

„Ich hab dich endlich hierher gekriegt.“

Ach je. Hat die Frau keine anderen Probleme.

„Und das willst du feiern?“

„Jaaaa.“

Mir egal. Soll sie doch.

„Na denn.“

Die Bedienung kommt an unseren Tisch, und noch bevor ich was sagen kann, bestellt Sabine zwei Tassen Kaffee und zwei Gläser Sekt.

„Du willst es aber wissen, was?“, meine ich.

„Warum?“ Unschuldig schaut sie mich an.

„Zwei Gläser. Und es ist noch nicht mal dunkel.“

„Erstens, liebe Caro, ist ein Glas für dich. Und zweitens, darf man erst etwas feiern, wenn es dunkel ist?“

„Ich will aber keinen Sekt.“

„Ach komm, das eine Glas merkst du doch gar nicht.“

Was hat sie bloß vor? Wieso will sie mit mir trinken? Wenn ich nicht wüsste, dass Sabine einen festen Freund hat, würde ich denken, sie hat sich in mich verknallt.

„Hast du heute die Bluse von der Hartke gesehen?“, fragt Sabine.

„Die konnte man ja leider nicht übersehen.“ Jetzt muss ich doch grinsen. Frau Luisa Hartke, unsere Chefin, ist Anfang sechzig. Eine große, stämmige Frau mit wasserstoffblonden, hoch auftoupierten Haaren. Sie denkt wahrscheinlich, sie bleibt jugendlich, wenn man grelle Farben trägt. Das zeigt sich bei ihr im Gesicht, was dermaßen überschminkt ist, und in ihrer Kleidung. Heute war es eben diese grasgrüne Bluse mit den goldenen Knöpfen, die bestimmt einen Durchmesser von drei Zentimetern hatten. Die Knöpfe, nicht Frau Hartke. Deren Durchmesser… Lassen wir das.

„Ist sie eigentlich noch mit Hoffmann zusammen?“, fragt Sabine.

Ich starre mein Gegenüber schockiert an. „Wie meinst du das denn?“

„Hast du das nicht mitgekriegt?“

„Ich krieg nix mit, weil es mich nicht interessiert.“ Das stimmt. „Aber DAS würde ich schon gern wissen.“ Das stimmt auch.

Paul Hoffmann ist ein Mitarbeiter der kleinen Baufirma, in der ich arbeite. Er sorgt dafür, dass es immer genügend Aufträge gibt, damit ich immer fleißig langweilige Zahlen in den Computer eingeben kann. Sabine und ich sind in der Buchhaltung beschäftigt.

Paul Hoffmann, der darauf besteht, von jedem Mitarbeiter mit Du angesprochen zu werden, ist Mitte sechzig, ziemlich groß, schlank und für sein Alter wahnsinnig gutaussehend. Seine ehemals schwarzen Haare sind mit Silberstreifen durchzogen, was ihn schon fast sexy wirken lässt. Er ist die Geduld in Person und sorgt mit seinen lockeren Sprüchen immer für eine angenehme Stimmung.

Nicht dass mich das interessieren würde, aber das sind so die Highlights im Büro, wenn Hoffmann bei uns auftaucht und Smalltalk mit Bine macht. Ich halte mich da raus. Hab immer viel zu tun. Sage ich.

„Vor ein paar Wochen“, beginnt Sabine, „kam die Hartke in unser Büro. Du warst gerade in der Mittagspause. Sie setzte sich auf die Kante meines Schreibtisches, grinste wie blöde und erzählte mir, dass sie am Abend davor mit Paulchen - ja, sie nannte ihn tatsächlich so - zuerst in einem Konzert und anschließend zum Essen im Palazzo war.“

„Wow.“ Mehr fällt mir dazu nicht ein. Wie hat der Hoffmann diese Frau einen ganzen Abend ausgehalten? „Und wie kommst du darauf, dass sie zusammen sind?“

„Weil sich das Ganze wiederholt hat. Mehrmals.“ Bine nickt wissend mit dem Kopf und sieht sehr ernst aus.

„Ist ja interessant. Ich dachte immer, Hoffmann macht sich über die Hartke genauso lustig wie alle anderen. Die passen zusammen wie…“

„Himmel und Hölle.“, ergänzt Sabine.

Ein Donnergrollen ist zu hören, und wir wenden beide unseren Blick durch die Fensterscheibe.

„Nanu?“, sagt Sabine erstaunt, „Es wurde doch gar kein Gewitter angesagt.“

„Was weiß schon der Wetterbericht.“

Aber der Himmel sieht ganz und gar nicht nach Regen aus. Naja.

Unsere Bestellung wird gebracht.

„Auf einen schönen Feierabend.“ Sabine erhebt ihr Glas und prostet mir zu. Ich greife nach dem Glas, zögere kurz und denke, so what.

„Cheers, Bine. Darauf, dass du mich rumgekriegt hast.“

Sie lacht mich an, und trinken beide von unserem Sekt, der gar nicht mal so übel schmeckt.

„Darf ich dich was fragen, Caro?“

„Du fragst doch immer, was du willst?“

„Was ist eigentlich los mit dir? Warum ziehst du dich so zurück? Du redest nie über Privates. Bekommst nie Anrufe im Büro. Dein Handy schweigt auch den ganzen Tag. Warum?“

„Das ist… privat. Warum soll ich auf der Arbeit mein Privatleben breittreten? Reicht doch, wenn die anderen pausenlos ihr eigenes ungefragt kundtun.“

„Jetzt siehst du aus, als hätte ich einen ziemlich wunden Punkt getroffen.“

Das mag sein. Ich merke selbst, dass sich meine Stirn in Falten gelegt hat.

„Ich will nicht drüber reden.“

„Ach, Caro.“ Sabine legt ihre Hand auf meine. Automatisch ziehe ich sie zurück.

„Carolina, auch wenn du immer so ekelhaft bist - ich mag dich irgendwie. Keine Ahnung, warum. Das ist einfach so. Und ich denke, du hast eine Menge Mist durchgemacht in deinem Leben. Du hast Angst, dass dir noch mehr davon passiert und versteckst dich.“

Ich schüttele den Kopf und lasse die Schultern fallen. Ich will nicht dran denken. Ich kann nicht dran denken. Es tut weh, und ich will nicht, dass es wehtut. Ich will auch nicht, dass mich jemand mag. Wozu? Die, die mich mögen verschwinden sowieso wieder. Also gar nicht erst dran gewöhnen.

„Caro, ich will, dass du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Wenn du quatschen willst oder dich mal ausheulen oder was auch immer - ich bin da.“

„Danke.“, murmle ich, „Aber das wird nicht nötig sein.“

„Niemand kann ewig allein für sich bleiben. Der Mensch ist ein Rudeltier. Du hast dein Rudel verloren. Stimmt das?“

Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen?

„Okay“, meint Sabine, „ich will dich nicht nerven. Ich wollt’s nur mal sagen. Ich mag dich und bin für dich da. Lass es dir einfach mal durch den Kopf gehen.“

Wir plaudern noch ein bisschen, während wir Kaffee und Sekt austrinken. Das heißt, Sabine plaudert. Ich nicke ab und zu, werfe auch mal ein „Hmm“ oder „Aha“ ein. Zu mehr kann ich mich nicht durchringen. Das merkt auch meine Arbeitskollegin. Nach einer knappen Stunde sagt sie: „Hey, das war ein schöner Feierabend. Wir sollten das wiederholen. Was meinst du?“

„Mal sehen.“

Wir bezahlen unsere Getränke und treten hinaus auf die Straße.

Sabine tritt auf mich zu und umarmt mich kurz. „Mach dir ein schönes Wochenende, Caro. Bis Montag.“

Ich hatte mich schon versteift und dachte, das wird jetzt was Gefühlsduseliges. Aber Bine ist halt so. Sie hat keine Berührungsängste. Zu niemanden. Wenn sogar die Hartke ihr von ihren Dates mit Hoffmann erzählt. Hmm.

„Ja. Mach’s gut.“, antworte ich und gehe die Straße zurück in Richtung Büro. Sabine muss in die andere Richtung. Ich entscheide mich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Der Aprilabend ist recht schön. Wettertechnisch, meine ich. Die Sonne scheint recht warm, und der Spaziergang in das Randgebiet unserer Stadt, in dem ich wohne, wird mir gut tun.

In Gedanken versunken mache ich mich auf den Weg. Das Gespräch mit Sabine geht mir durch den Kopf. Was mit mir los ist, wollte sie wissen. Ich hatte es schon gut verdrängt. Mir eine Strategie zurechtgelegt, um nicht jeden neuen Tag dran zu denken. Aber jetzt… Alles ist wieder da. Als wäre es erst gestern passiert. Dabei ist es jetzt fast zwei Jahre her…


Es war in einer Samstagnacht. Mike und ich waren seit sieben Jahren zusammen. Er lud mich damals ein. Meinte, wir hätten was zu feiern. Nicht nur unser Siebenjähriges, sondern noch etwas anderes. Wir gingen in unsere Lieblingsbar, die sich nicht weit entfernt von unserer damaligen Wohnung befand.

Irgendwann strahlte Mike mich feierlich an. Er zog ein kleines Kästchen aus seiner Jackentasche, fiel mitten in der Bar auf die Knie, schaute mit seinen himmelblauen Augen zu mir rauf, neigte seinen Kopf etwas zur Seite (Oh, wie ich das liebte.) und fragte mich, ob ich ihn heiraten wolle.

Ich sehe diese Szene immer noch vor mir. Er trug an diesem Abend eine dunkelblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Seine blonden Haare hätten theoretisch einen Schnitt nötig gehabt. Doch ich hielt ihn immer wieder davon ab, zum Friseur zu gehen. Ich mochte es, wenn er so aussah. Wenn seine Haare sich langsam Richtung Schulter bewegten. Wenn er seine Haare aus seinen Augen pusten musste, um besser zu sehen. Wenn ich abends neben ihm im Bett lag und seine Haarsträhnen um meinen Finger wickelte.

Ich war damals überrascht. Eigentlich hielten wir beide nichts von der Ehe. Wir waren zusammen, und wir liebten uns. Was sollte da ein Stück Papier ändern?

Mike war der Vernünftige von uns beiden. Er wollte Sicherheit für mich, falls ihm was passiert.

Falls ihm was passiert…

Falls ihm was passiert…

Falls ihm was passiert…

Falls ihm was passiert…


Ich sagte Ja. Ich wollte ihn heiraten. Ich wollte mit ihm alt werden. Wir hatten den Traum, als Greise in einem kleinen Häuschen an irgendeinem Strand zu leben. Nebeneinander sitzend aufs Wasser zu schauen. Zusammen in den Sternenhimmel sehen. Zusammen…

Wir wollten gerade die Straße überqueren, als es passierte. Ein dunkelrotes Auto raste auf einmal um die Ecke. Der Fahrer bekam die Kurve nicht und kam direkt auf uns zu. Wir standen erschrocken an der Bordsteinkante. Das Auto erweckte nicht den Anschein, als wollte es bremsen. Mike stieß mich so heftig zur Seite, dass ich gegen die Hauswand flog und mir den Kopf anschlug. Es wurde dunkel.


Ich wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Mit höllischen Kopfschmerzen und einem Verband um meinen Kopf. Meine Mutter saß neben meinem Bett. „Was mache ich hier?“, fragte ich sie. Ich konnte mich an nichts erinnern.

„Du hast dir bei einem Sturz den Kopf angeschlagen und bist ohnmächtig geworden.“ Meine Mutter legte mir die Hand auf den Arm. Ich versuchte mich zu erinnern. Wann war ich gestürzt? Wo bin ich gestürzt?

„Wo ist Mike?“, fragte ich sie. Ich konnte mir nicht erklären, warum Mike nicht bei mir war. Wahrscheinlich wartete er draußen auf dem Gang. Meine Mutter und er konnten sich nicht sonderlich leiden. Sie hielt meinen Freund für einen Träumer. Er hielt sie für eine arrogante Zicke. Weil ich Mike Recht geben musste - meine Mutter ist eine arrogante Zicke - machte ich mir also keine Gedanken. Meine Mutter sagte nichts weiter. Nach zehn Minuten unangenehmen Schweigens war es mir zu dumm. „Kannst du Mike reinholen?“, fragte ich sie.

„Nein.“

Was? Jetzt übertrieb sie es aber.

„Warum nicht?“

„Er ist nicht hier.“

„Wo ist er denn?“

Meine Mutter stand auf und verließ wortlos das Zimmer. Ich verstand gar nichts mehr. Weder, wie ich hierhergekommen war, noch, warum meine Mutter sich so seltsam aufführte.

Nach ein paar Minuten betrat ein kleiner Mann in einem weißen Arztkittel mein Zimmer. Er sah mich besorgt an und stellte sich direkt vor mein Bett.

„Frau Buchner, mein Name ist Hillig. Ich bin ihr Arzt.“, stellte er sich vor. „Können Sie sich erinnern, was mit Ihnen geschehen ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wo ist mein Freund?“, fragte ich. So langsam bekam ich Angst. Höllische Angst. Solche Szenen kannte ich aus dem Fernsehen. Gibt ja genügend Arztserien.

„Frau Buchner, es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Mike Köhler bei dem Autounfall ums Leben gekommen ist. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“

Was?? Was redete dieser Mensch da? Was für ein Autounfall. Wir waren nicht mit dem Auto unterwegs. So langsam tauchten Bilder in meinem Kopf auf: Mike vor mir kniend. Mike mit seiner Frage, ob ich ihn heiraten will. Wir auf dem Nachhauseweg, lachend und an den Händen haltend. Das Auto. Mike schubste mich weg. MIKE!!

„Frau Buchner? Frau Buchner!“ Jemand berührte mein Gesicht. Ich öffnete die Augen und sah diesen Arzt. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

ALLES IN ORDNUNG??

Er erzählte mir gerade, dass Mike ums Leben gekommen war. Und da fragte er mich, ob alles in Ordnung war?

Ich kann mich an die folgenden Tage nur sehr schwer erinnern. Irgendwie war meine Mutter bei mir. Sie wollte mich nicht allein lassen. Am Abend von Mikes Beerdigung saß sie neben mir in meiner Küche. Ich weiß nicht mehr, was sie alles erzählt hat. Aber an ein paar Sätze kann ich mich gut erinnern. „Sei froh, dass du ihn los bist. Er hätte dich niemals weitergebracht in deinem Leben. Mike lebte fern von jeder Realität. Er griff nach Sternen, anstatt an Sicherheit zu denken.“

Ich sah meine Mutter an. Schockiert und mich fragend, ob ich gerade richtig gehört hatte. „Was? Meinst du das wirklich so?“

„Ja, Carolina. Auch wenn es sich hart anhört. Es ist das Beste, was dir passieren kann. Jetzt kannst du dich auf dich selbst konzentrieren und aus deinem Leben etwas machen. Ohne einen Klotz am Bein.“

Ich sprang auf. „Du meinst, Mike wäre mir ein Klotz am Bein gewesen?“

„Du hast dich nicht weiterentwickelt, seit du mit ihm zusammen warst.“

„Du konntest Mike nie leiden. Das weiß ich. Ist dir bewusst, dass du mir gerade klarmachst, dass du Mikes Tod gut findest?“

„Ach Kind, so meine ich das gar nicht. Es wäre nur nicht von Dauer gewesen.“

„Wir wollten heiraten, Mama. Er fragte mich an diesem Abend, ob ich ihn heiraten will.“ Meine Stimme überschlug sich. Ich konnte es nicht fassen und lief in der Küche auf und ab.

„Heiraten? Das ist nicht dein Ernst? Du hättest doch diesen Träumer nicht geheiratet?“

Direkt vor ihr blieb ich stehen und sagte mit leiser, aber fester Stimme: „Doch, Mama. Das hätte ich getan. Ich hab Mike geliebt. Kannst du dir vorstellen, dass man andere Menschen lieben kann?“

Meine Mutter war immer partnerlos gewesen. Von meinem Vater wusste ich nichts. Auf meine Fragen nach ihm, hieß es immer, es wäre ein einmaliges Ding gewesen. Sie hat mir den Namen nie verraten.

„Liebe…“ Verächtlich schnaubte meine Mutter. „Was ist Liebe? Mit Liebe kommst du nicht weiter. Du erreichst nichts. Du drehst dich pausenlos auf der Stelle. Deine Energien und dein Kraft fließen in einen fremden Menschen. Du siehst doch, was du davon hast. Dein Mike ist tot, und dir geht es schlecht.“

Ich griff nach der Tasse, die vor mir auf dem Tisch stand und warf sie mit aller Kraft an die Wand gegenüber.

„Verschwinde, Mama. Hau ab. Ich will dich nie wieder sehen. Du hast keine Ahnung. Und die wirst du auch nie haben.“, schrie ich meine Mutter an.

„Carolina, reiß dich zusammen.“

„Raus hier!!“

Das war das letzte Mal, das ich meine Mutter gesehen habe. Sie hat mich noch einige Male angerufen, aber ich hab sie ignoriert. Auf dem Handy hab ich sie weggedrückt, und das Festnetztelefon hab ich einfach klingeln lassen. Jetzt waren bestimmt acht Monate vergangen, seit sie es zum letzten Mal versucht hatte.


Ohne es zu merken, komme ich zu Hause an. Ich schließe meine Wohnungstür auf, trete ein und ziehe Jacke und Schuhe aus. In der Tür zu meinem Wohnzimmer bleibe ich stehen und schau mir das Zimmer an, als wäre ich zum ersten Mal hier. Auf der rechten Seite steht mein geliebtes Sofa, das mir Trost und Schutz bietet. Es ist ein fuchsiafarbenes Ecksofa und nimmt einen großen Teil des Raumes ein. Davor steht ein rechteckiger flacher Tisch.

An der linken Seite befindet sich ein Regal, das sich über die ganze Wand erstreckt. Darin findet man Bücher, CDs, DVDs und den Fernseher, den Receiver und DVD-Player. Und Fotoalben. Mit Bildern von Mike und mir.

Geradeaus ist die große Fensterfront, durch die man auch auf den Balkon gelangt. Mein Balkon ist klein. Es passen gerade einmal zwei Stühle und ein schmaler Tisch darauf. Für mich reicht das. Der zweite Stuhl steht eh nur da, um meine Füße darauf zu legen.

Ich gehe auf das Regal zu, nehme ein Fotoalbum in die Hand, schlage die erste Seite auf und sehe Mike und mich. Wir lachen in die Kamera. Ich streiche über das Bild, über Mikes Haare und kann sie beinahe spüren.

Langsam sinke ich auf den Fußboden. Schaue mir Seite für Seite an und weine zum ersten Mal seit sechs Monaten um Mike.


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