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KAPITEL 3

SAMSTAG, 2. NOVEMBER 2019, 19.45 UHR

LYDIA

Jahrelang habe ich mir sehnsüchtig gewünscht, Papa und Eric würden das Kriegsbeil begraben. Jetzt wäre mir ein anderer Moment als das Spiel gegen die Bayern wahrlich lieber gewesen. Ich brauche Eric, aber die Herren sind offenbar gnadenlos versackt.

„Die beiden haben sich gegen halb sechs Richtung Tiefgarage verabschiedet. Waren offenkundig bester Laune. Alles okay. Also mach dir keine Sorgen, Lydia“, hat mir Max vor einer guten Stunde erzählt, sich mit dem Satz „Wäre gern dabei“ herumgedreht und ist wieder in der Eintracht-Loge verschwunden. Er war nicht sehr angetan davon, dass ich ihn mit einem „Ich brauche dich kurz. Jetzt!“ von seinen Gesprächspartnern weggezogen habe. Der halbe Bayern-Vorstand war dabei. Was weiß ich, was die wieder gemeinsam ausgeheckt haben. Seit dem Katastrophen-Deal mit Nico war ja eigentlich Funkstille zwischen Frankfurt und München. Aber wer weiß, vielleicht ging es ja wieder um den Coach. Ein kleiner Plausch auf höchster Ebene. Wirklich fest im Sattel hat er schon vor der 1:5-Pleite nicht gesessen und es gab nicht wenige, die hinter vorgehaltener Hand schon in der Pause getuschelt haben, dass da wohl eine ganze Mannschaft gegen den Trainer spielt.

Aber selbst, wenn der Papst dabei gestanden hätte … und Max sein „Bin ich das Kindermädchen der beiden?“ noch lauter hinausposaunt hätte, ich musste ihn stören. Veras Aussage bei der Polizei wird mit Sicherheit dazu führen, dass morgen früh eine ganze Hundertschaft vorm Stadion steht und alles auf den Kopf stellt. Aber was hätte ich tun sollen? Als Vera klar wurde, dass ich ihr die Videos nicht aushändigen kann, und Severin auch eine Sackgasse war, hat sie ziemlich heftig umgeschwenkt. Sie stürmte wütend aus meinem Büro und ich war ja schon froh, dass sie mir angeboten hat, selbst zum Polizeirevier in Niederrad zu gehen und so zu verhindern, dass jemand fragt, warum wir nicht gleich die Polizei geholt haben. „Ich sag dann, ich wäre völlig durcheinander weggelaufen und herumgeirrt. Das glauben die Bullen gerne“, hat sie mit einem hämischen Gesichtsausdruck von sich gegeben.

Mir war es recht. So ließ sich vielleicht verhindern, dass die Pressekollegen die Geschichte über Gebühr ausschlachten. „Vergewaltigung im VIP-Bereich!“ Diese Schlagzeile braucht wirklich niemand. Weil zwischen den Zeilen die Frage stehen würde: Schlamperei im Sicherheitsdienst. Sind Frauen ihren Peinigern schutzlos ausgeliefert? Und keiner wird wissen wollen, was wirklich passiert ist. Dass es sich nicht immer verhindern lässt, wenn Einzelne so etwas machen. Von keinem Sicherheitsdienst. Ich habe ihr noch meine Handynummer gegeben und sie zum Ausgang gebracht.

„Sorry, dass ich dich gestört habe“, rufe ich Max mit einem Blick auf die Uhr nach. „Ich werde die beiden schon irgendwo auftreiben.“

Aber wo? Frankfurt bietet eine Menge Möglichkeiten für zwei Kerle, am nächsten Morgen mit einem riesigen Kater und ohne jede Erinnerung aufzuwachen. Und Eric kennt sie wohl alle, schießt es mir durch den Kopf.

19.46 Uhr. Was kann ich tun? Der große VIP-Bereich vor der Terrasse ist fast leer. Ein paar „Bundestrainer“ können nicht aufhören, die 9. Minute zu sezieren. „Die Rote Karte für Boateng war’s. Keiner hat gegen den Trainer gespielt. Ein Mann weniger gegen unsere Jungs in einem Rausch … da haben sogar die Bayern die Hosen voll“, wabert eine Stimme zu mir herüber. Eine, die keinen Widerspruch duldet. Und doch reichlich dafür erntet. Ein wildes Durcheinander an Sprachfetzen saust auf den Redner nieder.

Ich wende mich ab. Blicke mich um. Die meisten haben sich längst auf den Nachhauseweg gemacht oder sind in Sachsenhausen eingefallen, um den Bayern auch noch die Unterhosen auszuziehen.

„Lydia? Du bist noch hier?“, höre ich plötzlich eine vertraute Stimme. Thomas Tamathi – sehr gut. Der Chef des Eintracht-Museums hat jetzt Feierabend und kann mir helfen, Eric zu finden.

„Hey!“, sage ich und wundere mich über die Freundlichkeit, die ich in einem Wort mit drei Buchstaben unterbringen kann. „Direktor! Dich schickt der Himmel!“

Was dann wohl eher eine Brise zu viel Freundlichkeit war.

„Keine Zeit“, antwortet er. Ohne, dass ich ihn überhaupt um Hilfe bitten konnte. „Bin verabredet und eh schon spät dran. Sorry, Lydia. Was immer es sein könnte, was du von mir willst – heute passt es gar nicht!“

„Tom. Warte. Ich brauch doch nur einen Tipp. Papa und Eric sind irgendwo in Frankfurt unterwegs. Hast du ’ne Ahnung, wo die beiden ihr Wiedersehen feiern könnten?“

Tom dreht sich im Gehen zu mir um. Eigentlich geht sein Körper weiter und nur der Kopf schaut noch zu mir.

„Na ja. Beim Griechen? Oder in Orpheus Unterwelt? Oder sie machen ’ne Tour durch die Stadt. Morgen früh sitzen sie dann bei Eric im Garten.“ Ich bewundere diesen Mann dafür, dass er nie um eine Antwort verlegen ist, aus tiefstem Herzen. Trotzdem antworte ich eher patzig.

„Na danke. Soll ich jetzt dorthin fahren und warten, bis sie eintrudeln, und mir den Tod holen? Es ist November, Tom. Aber trotzdem danke für den Tipp.“

Tom antwortet nicht. Hält stattdessen sein Handy hoch und wackelt damit hin und her.

Wie war das mit den Freunden, bei denen du keine Feinde mehr brauchst? Als ob ich nicht längst versucht hätte, Eric und Papa auf dem Handy zu erreichen.

Also gut. Dann zuerst der Grieche. Die Kneipe, die Amanatidis vor Jahren aufgemacht hat. Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden dort auf dem Tisch tanzen. Papa ist zwar seit seinem Schlaganfall nicht mehr gut zu Fuß, aber für einen Sirtaki mit Erics Hilfe und etlichen Ouzos im Blut könnte es an einem solchen Abend schon noch reichen, befürchte ich.

Es ist fast halb neun, als ich ins Parkhaus Börse einbiege. Von hier aus sind es bis in die Kaiserhofstraße nur ein paar Schritte. Ich stelle mein Auto in der zweiten Etage ab und sause schnell in Richtung Aufzug. Parkhäuser sind nicht gerade das, was ich als meine Lieblingsorte bezeichnen würde. Vor allem die Aufzüge. Zu oft sind mir dort merkwürdige Gestalten begegnet. Kerle, die so unverhohlen auf meine Brüste gestarrt haben, dass ich dachte: Hallo! Ich gucke doch auch nicht auf die Minibeule zwischen deinen Beinen wie eine notgeile Schlampe.

Mit 18 bin ich die Treppe gelaufen. Und wenn ich mit anderen im Aufzug war, habe ich immer an meinem Mantel herumgenestelt und ihn schützend vor der Brust zusammengekrempelt. Bis ich 25 war, habe ich deshalb Parkhäuser gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Heute ist mir das ziemlich egal. Lass sie doch starren. Wenn ich mit dem Aufzug fahre, weil ich in Begleitung bin, stelle ich mir dann immer vor, wie es wäre, wenn ich so einen Typen – vor allem wenn seine Frau dabei ist – ganz laut fragen würde: Na, Kleiner, mal wieder Lust auf eine ordentliche Nummer? Aber das wird sicher nicht passieren.

Vor dem Parkhaus steht eine Gruppe Männer am Automaten. Ein großer Blonder überragt die anderen und sofort kommt mir Vera in den Kopf.

„Der Kerl hatte ganz helle Haare. Fast gelb und zwei Finger haben ihm gefehlt. Der Zeigefinger und der Mittelfinger der rechten Hand“, hat sie gesagt und ich ertappe mich dabei, nach der rechten Hand des Blonden zu schielen.

„Lydia Heller! Reiß dich zusammen“, murmele ich fast unhörbar in mich hinein und beiße mir dabei ein kleines Stück Haut aus der Lippe.

Sev hätte mir eigentlich zur Seite stehen können. Aber der Idiot lässt mich hängen und ist sicher wieder mit Tim unterwegs. Die beiden sind ja anscheinend beste Freunde. Seit der Türkei. Dass ich es war, die ihn im Stadion ziemlich brüsk nach Hause geschickt hat, verdränge ich ungeniert.

Es hilft nichts. Ich muss mir meinen Weg mitten durch die Gruppe bahnen. Zwei haben ein Eintracht-Trikot an. Könnte also sein, dass sie mich kennen. Außerdem bete ich innerlich, dass sie wenigstens ihre gute Kinderstube nicht mit dem letzten Glas Bier weggeschwemmt haben.

„Na, schöne Frau, wohin so spät?“, bewegt sich einer der Kerle auf mich zu. Er weiß genau, dass ich an ihm vorbei muss, und macht sich extra breit.

„Direkt zur Polizei, wenn Sie nicht sofort Platz machen“, herrsche ich ihn an. Und tatsächlich: Der Kerl ist sichtlich eingeschüchtert und weicht zurück. Seine Freunde lachen.

„Na, Hannes? Abgeblitzt bei der Schönen, oder was?“, will der große Blonde wissen, der seine Hand immer noch tief in der Manteltasche vergraben hat.

So kalt ist es doch gar nicht, denke ich und bereite mich schon auf den nächsten verbalen Angriff vor.

„Sollen wir dich nicht besser beschützen? In dieser Stadt weiß man nie, was alles passieren kann“, fragt der Große jovial und hält mir doch tatsächlich seine Hand entgegen. So wie d’Artagnan, wenn er einer Dame aus der Kutsche hilft.

„Männer. Ihr könnt jetzt noch ein bisschen hier herumalbern, aber besser wäre es, wenn ihr mich einfach vorbeilasst. Und gut ist.“

Meine Stimme hat keinen Moment gezittert. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, sie zu gebrauchen. Deutlich zu sein. Jedenfalls beruflich. Privat – na ja.

Aber es wirkt. Wenn auch unter dem Gemaule der Gruppe. Sprüche wie „Man wird doch wohl noch nett sein dürfen?“, „Und wenn man sie gar nicht beachtet, ist es auch falsch“ und „Wohl vom anderen Ufer, die Tussi?“ folgen mir. Und ich bin froh, dass sie leiser werden und mein Herz nicht mehr so laut schlagen muss.

Beim Griechen baut sich ein baumlanger Mitarbeiter direkt hinter der Eingangstür vor mir auf. „Wir sind voll“, radebrecht er in einer wahrlich einmaligen Deutsch-türkischen-irgendwie-Mischung über mich hinweg.

„Das sehe ich. Sagen Sie: Ist Eric Presfeth da?“

„Und wenn?“, grinst der Riese.

Ich atme tief durch.

„Dann wüsste ich gerne, wo er sitzt. Ich muss mit ihm reden!“

Der Lulatsch blickt zu mir hinunter. Nickt leicht, um dann plötzlich mit dem Kopf zu schütteln: „Kommst du zu spät, kleines Fräulein. Ise schon wieda weg gegange. War mit so eine Rollitype da. Coole Gang, die zwei!“

Ich warte gar nicht erst ab, bis er mir noch mehr Einzelheiten verkünden kann, und drehe mich mit einem Okay! ab. Dann überlege ich es mir anders.

„Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollen? Ein Taxi bestellt?“, will ich wissen.

„Keine Taxi. Sind zu Fuße weg. Also die Eric. Andere Mann auf Rolle.“

Andere Mann auf Rolle, scheppert es in meinem Kopf. Die findest du nie – ohne Reiseführer.

Ich krame das Handy aus meiner Tasche und tippe auf Severins Nummer. Da saust plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Eine ziemliche Pranke. Mein Kopf fliegt herum. „Max!?“

„Ja, Ly! Suchst du immer noch deinen Papa und den lieben Eric?“ Ein gurgelndes Lachen begleitet den Satz. Offenbar hat Max die zwei letzten Stunden anders genutzt als ich.

„Ja“, antworte ich und bin nah dran, Max von Vera und der Beinahe-Vergewaltigung oder was immer es war zu berichten. Aber irgendetwas lässt mich innehalten. Seitdem ich diesen blutroten Fleck an der Wand und nicht auf der Toilettenschüssel gesehen habe, erscheint mir Veras Geschichte merkwürdig. Schon die ganze Zeit. Es macht mich verrückt. Weil ich es nicht leiden kann, wenn in meinem Kopf diese Nebel durchziehen. Ich möchte mich dann am liebsten schütteln und mir so lange mit der flachen Hand auf die Stirn klopfen, bis ich wieder klarsehe. Wobei: Es könnte ja auch sein, dass sie sich einfach nur vertan hat, als sie sagte, sie habe das Gleichgewicht verloren und sei wohl beim Fallen auf die Kloschüssel geknallt. Bei dem, was ihr passiert ist, gut denkbar.

„Die sitzen bei deinem Papa in Zeilsheim und erzählen sich alte Geschichten. Lass sie. Etwas Besseres können sie nach so langer Zeit nicht tun. Sie waren gute Freunde und gute Freunde müssen vor allem eins: reden.“

Max ist offenkundig bei weitem nicht so betrunken, wie seine allzu stürmische Begrüßung es hatte vermuten lassen. „Kann schon sein, dass du recht hast, aber wir beide werden das traute Glück jetzt ein bisschen unterbrechen!“

„Nö. Tun wir nicht!“, grummelt Max und zieht dabei eine Grimasse.

„Doch!“, antworte ich ruhig und schiebe ihn zur Tür hinaus.

„Es könnte sein, dass wir ein ziemlich großes Problem bekommen“, versuche ich besonders ernst zu klingen. Mit wenig Erfolg.

„Ein Problem, Ly?“, lacht Max. „Wir haben die Bayern mit 5:1 aus dem Stadion geschossen. Die haben ein Problem. Ich fürchte, Nico hat ein Problem. Wir nicht. Heute jedenfalls nicht!“

Er ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es keinen Alkohol braucht, um besoffen vor Glück zu sein.

„Max. Im Ernst. Ich weiß ja, dass heute wie Weihnachten und Ostern an einem Tag ist, aber wir müssen reden. Wir beide und am besten du, Eric und ich!“

Max sieht so aus, als würde ihm gerade alles aus dem Gesicht fallen. Offenbar hat er an meinem Ton erkannt, dass der Spaß jetzt erst einmal für ein paar Stunden vorbei sein wird.

„Okay. Dann lass uns mal fahren. Und vielleicht bist du so nett und klärst mich auf dem Weg nach Zeilsheim schon mal auf. Ich habe nämlich keine Ahnung, ob wir von Eric und deinem Vater überhaupt noch ein klares Wort zu hören bekommen.“

Eigentlich müsste ich mir bei dieser Ankündigung Gedanken um meinen Vater machen. Der Mann hatte schließlich vor 15 Jahren einen Schlaganfall, an dessen Folgen er bis heute laboriert. Sein Kopf ist klar und er hat gelernt, wieder ohne zu holpern zu sprechen. Nur das linke Bein versagt nahezu komplett seinen Dienst. Weshalb er im Rollstuhl durch sein kleines Häuschen kurvt und sieben Jahre Überredungskünste nötig waren, ihn von einem Treppenlift zu überzeugen. Sieben Jahre, in denen er das Gäste-WC mit Minidusche dem geräumigen Bad im ersten Stock vorgezogen hat. Meistens mit den Worten „Geht schon!“.

Und nun hockt er offenbar mit seinem ältesten und gerade wiedergewonnenen Freund in seiner verstaubten Kamorke und ist wahrscheinlich schon längst nicht mehr zurechnungsfähig. Natürlich mache ich mir Sorgen!

Max mustert mich eindringlich. „Ly, mach dir nicht so viele Gedanken. Die beiden sind keine kleinen Jungs mehr. Und Eric weiß, was er tut. Auf jeden Fall nichts, was deinem Vater schaden würde. Da bin ich sicher“, versucht er mich zu beruhigen. „Und jetzt erklär mir doch mal in drei Sätzen, warum wir überhaupt zu diesen beiden Oldies fahren, statt beim Griechen auf unseren Sieg anzustoßen.“

„Ich habe einfach ein blödes Gefühl in der Magengegend und will vermeiden, dass wir in etwas hineinschliddern.“

„Hineinschliddern“, wiederholt Max amüsiert.

„Ich habe auf der Toilette im VIP-Bereich eine Frau gefunden. Diese Vera Lichtenthaler ist offenbar von einem unserer VIP-Gäste attackiert worden. Jedenfalls hat sie eine Platzwunde am Kopf. Und jetzt ist sie bei der Polizei und macht eine Aussage. Und ich weiß nicht genau, was sie erzählt.“

Max nickt, aber wirklich überzeugt ist er ganz offenkundig nicht, dass die Geschichte auf uns zurückfallen könnte. Es kommt mir eher so vor, als sei er vor allem darauf gespannt, was uns bei meinem Vater erwartet.

„Dritte links und brems bitte rechtzeitig vor der Haustür“, höre ich mich sagen. Und schüttele ungläubig den Kopf. Das kann doch nicht sein, dass man manche Sachen einfach nicht los wird. Ich erkläre Max, der nebenbei erwähnt schon oft hier war, wie er fahren muss. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmele ich.

„Dass du mir den Weg zu euch erklärst, wie es deine Mutter immer getan hat?“

„Ja“, antworte ich, ohne zu zögern. Warum auch. Max und ich kennen uns schon so lange. Lange, bevor er in den Vorstand der Eintracht berufen wurde. Wenn er nicht mein Chef und ich seine Mitarbeiterin wäre, würde ich sagen, wir sind eine Familie. Freunde auf jeden Fall.

„Mach dir nichts draus. Hat dein Papa auch immer so gemacht. Sogar, als sie euch schon lange verlassen hatte.“

Das Haus liegt in einem schummrigen Dunkel. So wie die ganze Straße. Künstlich durch ein paar Laternen und die Scheinwerfer unseres Wagens erleuchtet. Kein Licht von innen.

„Bist du sicher, dass sie da sind?“, frage ich halblaut.

„Ja!“, Max deutet auf einen Wagen in der Einfahrt. „Soweit ich weiß, fährt dein alter Herr nicht mehr. Und das da sieht eher nach Erics Karre aus.“

Mein Puls sinkt spürbar. Sie sind zu Hause. Mehr als eine Alkoholvergiftung und Wahnvorstellungen sind nicht zu befürchten. Gut so.

„Hast du einen Schlüssel?“, will Max wissen, nachdem er zweimal vergeblich auf den Knopf gedrückt hat. „Fürchte, die Klingel ist abgestellt.“

Als ob Papa mir einen Schlüssel überlassen hätte.

Ich bollere mit beiden Fäusten an die Tür. Mit einer Mischung aus Wut, Angst und Sorge. Nicht nur um Papa. „Hallo? Macht auf, bitte. Wir haben ein Problem!“

Max neben mir grinst. „War das nicht Houston mit dem Problem?“

Dann legt er den Finger auf seine Lippen.

„Psst!“

Und tatsächlich: Von drinnen hören wir Geräusche.

„Wer da?“, kommt es schroff.

„Ich bin es, Papa. Und Max. Wir müssen etwas mit Eric besprechen. Mach bitte auf“, rufe ich und hänge ein „Geht es euch gut?“ dran.

„Was ist das denn für eine Frage?“

Die Tür öffnet sich und Papa steht vor mir.

„Wo ist dein Rollstuhl?“, stottere ich fassungslos.

„Da“, deutet Papa mit dem Daumen hinter sich. „Eric hat gemeint, ich soll mal hier nicht das Mädchen geben.“

Ich starre ihn an. „Das Mädchen geben?!“

„Ja. Der Präsi findet: Schlaganfall hin oder her. Ich soll mich nicht so hängen lassen.“

„Aha“, sage ich und muss ernsthaft darüber nachdenken, was ich in den vergangenen 15 Jahren bei der Betreuung falsch gemacht habe. Mein Blick spricht Bände.

„Du bist eben nur meine Tochter und nicht der Präsi“, doziert Papa mit einem Grinsen. Dann wird er ernst.

„Wir haben noch gute zehn Jahre Vergangenheit aufzuholen. Also: Was müsst ihr so Wichtiges mit uns besprechen?“

Ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu sammeln. Eigentlich ist in den letzten vier Stunden viel zu viel passiert, um dies in annehmbarer Form zu präsentieren.

„Eine der Catering-Aushilfen im VIP-Bereich ist offenbar sexuell und körperlich attackiert worden. Ich habe sie auf der Damentoilette gefunden. Sie hatte eine Platzwunde am Kopf.“

„Im VIP-Bereich?“

„Ja, Papa. Im VIP-Bereich. Als ihr losgezogen seid, bin ich auf die Toilette und habe sie gefunden.“

„Und die Polizei gerufen, nehme ich an?“, steckt Eric den Kopf aus Papas Kammer und mischt sich unvermittelt in das Gespräch ein.

„Ja. Später. Also: Sie ist aufs 10. Revier. Sie wollte erst nicht. Und ich wollte sie auch nicht drängen. Irgendetwas erschien mir merkwürdig an ihrer Geschichte. Sie hat mit einem Besucher gewettet. Um Geld und einen Kuss. Und dann ist die Sache wohl eskaliert ...“

„Lydia. Hat sie bei der Polizei eine Anzeige erstattet?“

„Ich denke ja, aber ich weiß es nicht so genau. Wir haben mit ihr gesprochen und dann ist sie weg.“

„Wir?“

„Ja. Carlos und ich und äh … Severin.“

„Severin Klemm? Was hat der denn damit zu tun? Als ob die Geschichte aus der Türkei nicht genug Wellen geschlagen hat!“

Erics Blick ist plötzlich seltsam ungehalten. Na klar: Er hat sich auf meine Bitte hin bei Galatasaray dafür eingesetzt, dass Severin bis zu seiner Verhandlung erst einmal nach Deutschland ausreisen darf. Begeistert war er nicht. Im Gegenteil.

„Du weißt schon, dass die Türken jetzt etwas bei mir gut haben, Lydia. Das gefällt mir nicht. Ich habe nicht gerne Schulden!“

Hätte ich mir eigentlich denken können, dass dieses Gespräch eher unangenehm wird.

„Ja, aber das Ganze hörte sich so an, als ob die Wett-App damit zu tun haben könnte. Ich wollte erst abklären, ob es nur um ein blödes Spiel ging.“

„Und?“ Max Augen sind leicht aufgerissen. Den Teil hatte ich im Auto nicht erwähnt.

„Er sagt Nein“, antworte ich schnell und bete heimlich dafür, dass sich der Boden unter meinen Füßen auftut und ich in einem großen schwarzen Loch verschwinden kann. Was habe ich mir nur dabei gedacht, solch einen Aufstand zu machen. Es ist doch gar nicht meine Angelegenheit, zu klären, was da zwischen Vera und dem Kerl abgelaufen ist. Das soll die Polizei machen. Warum habe ich nicht einfach die Polizei gerufen?

„Hat sie nun eine Anzeige gemacht oder nicht?“, fragt Eric noch immer mit diesem leicht genervten Unterton.

So, als würde er gleich losbrüllen: „Verdammt, Lydia. Dein Vater und ich sind erwachsene Männer. Du solltest aufhören, dich als Kindermädchen aufzuspielen. Das hast du bei deinem alten Herrn ohnehin viel zu lange getan. Werd endlich selbst erwachsen! Und vor allem hör auf, dir irgendwelche abstrusen Geschichten auszudenken, um uns hier auszuspionieren.“

Recht hätte er und ich bin froh, dass er es bei einem genervten Blick zur Decke belässt.

Ich nicke. „Ich glaube schon. Sie war ziemlich angenervt von Sev.“ Ich mache eine kurze Pause und nehme dann meinen ganzen Mut zusammen. „Und wenn die Polizei morgen im Stadion auftaucht, um Spuren zu sichern oder die Überwachungsbänder zu konfiszieren?“

„Dann wird Carlos das regeln!“, knurrt Eric und schenkt Papa von dem Rotwein nach.

„Und die Presse?“

„Die sind Sonntag zum Auslaufen eh da. Und nach unserem gigantischen Sieg gegen die Bayern wahrscheinlich in doppelter Stärke. Aber: Wir haben einen Pressesprecher. Hallo! Vergessen? Informiere ihn gleich morgen früh … Ach nein. Besser, ich schicke ihm eine WhatsApp – wir können ja nichts dafür, wenn irgendein Zuschauer so ’ne Scheiße macht.“

Ich nicke stumm. Wahrscheinlich haben Max und Eric recht. Vermutlich wird die ganze Geschichte sowieso im Sande verlaufen. Wer weiß, ob Vera überhaupt eine Anzeige erstattet hat. Nur mit einer Wunde am Kopf lässt sich doch eh nichts beweisen. Das kennt man doch, versuche ich mich zu beruhigen und mir den Gedanken daran, dass irgendetwas an ihrer Geschichte nicht zusammenpasst, aus dem Kopf zu schlagen. Betonung auf versuchen. Ich kenne mich zu gut, um ernsthaft davon auszugehen, dass das klappt.

Plötzlich dreht sich Papa um, hält mit Mühe das Gleichgewicht und wischt mit einer ausholenden Handbewegung jeden Widerspruch von vornherein weg.

„Also. Freunde der Nacht. Können wir dann mal zum Wesentlichen zurückkommen. 5:1 haben wir die Bayern weggeballert. 5:1. Da werden wir uns doch nicht von irgendwelchen kri … krinima … listischen Ungereimtheiten die gute Laune verderben lassen, oder?“, zeigt die zweite Flasche Burgunder, die Eric und er geköpft haben, Wirkung.

„Lydia Heller. Meine Lydia. Ich sage es äußerst ungern, aber hier ist jetzt eine reine Herrenrunde angesagt. Kein Platz mehr für das schwache Geschlecht“, prostet er mir mit einem Zwinkern zu.

Ich schaue kurz zu Max. Er ist schließlich mit mir hergekommen. Aber seine Handbewegung zeigt mir deutlich, dass er nicht daran interessiert ist, mit mir zurückzufahren. Mit sicherem Blick hat er festgestellt, dass es an Rotwein-Nachschub in dieser Nacht nicht fehlen wird. Und an alten Eintracht-Geschichten ohnehin nicht. Mit einem Grinsen hält er mir seinen Autoschlüssel vor die Nase.

„Nimm meinen Wagen. Es dürfte ohnehin besser sein, wenn der nicht hier in der Nähe auf mich wartet.“

Ich rappele mich langsam auf. Bin aber über die Entwicklung noch ein wenig verwirrt und fühle mich an den Film Drei Männer im Schnee erinnert.

„Okay. Papa. Eric. Max. Habt einen schönen Abend. Und … äh … macht keinen Scheiß! Ich brauche euch morgen früh.“

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