Читать книгу Nachspielzeit - Dana Müller-Braun - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL 4
DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019, 19:45 UHR
SEVERIN
Es gibt zwei Arten von Menschen“, nuschle ich und nippe an meinem Bier. „Lydia Heller und Severin Klemm.“
Tim und Achim werfen mir irritierte Blicke zu.
„Was?“, blaffe ich und verdrehe die Augen. „Sie versteht einfach nicht …“
„Sev. Sie hat dir wirklich geholfen. Du bist ihr was schuldig“, mischt sich Tim ein.
„Trotzdem hat sie keinen Grund, mich um Hilfe zu bitten, nur um mich dann wieder abzuservieren.“
Ich trinke weiter. Wahrscheinlich habe ich längst genug. Aber die letzten Tage haben so einiges aufgewühlt. Lydia, das Stadion … aber vor allem der tote Junge.
„Das war am Samstag. Heute ist Dienstag. Komm drüber weg.“
„Ich verstehe nicht, warum sie diese App weiterlaufen lassen“, weiche ich vom Thema ab und hebe meine Hand, damit die Bedienung, die hinter den Glasfenstern am Börsenplatz gerade ihre Zigarette ausmacht, zu mir kommt, bevor sie zur Bar geht.
„Was genau macht man da eigentlich? Ging es nicht nur um Eintracht-Fragen?“ Achim legt nachdenklich einen Finger auf die Oberlippe und streicht über seinen Schnauzer. Irgendein neuer Trend, den ich Gott sei Dank nicht mitmache.
„Erst waren es nur Fragen … Erst sind es nur Fragen“, sage ich und deute der Bedienung, dass sie noch drei Bier bringen soll. „Wenn man das hinbekommt, kommt man irgendwann in Runde zwei und wird zum Silber-Spieler. Da muss man dann die Orte aufsuchen, an denen die Geschichte zur Frage passiert ist. Also das Stadion oder den Römer oder was weiß ich.“
Tim wird unruhig. Beinahe so, als würde er hier jemanden von den App-Betreibern erwarten, der mich wieder in einen Hinterhalt locken und bedrohen will.
„Dann wirst du Gold-Spieler und hast die Chance auf einen Jackpot. Dafür musst du an Orte, die dir die App sagt, und die Antwort von dort herausbrüllen.“
„Klingt wie ein harmloses Spiel“, quittiert Achim meine Ausführungen.
Ein Lachen entfährt mir. Eins, das so freudlos klingt, dass es mich selbst erschreckt. Ich verenge meinen Blick und beuge mich vor. „Es ist tödlich. Die Orte sind gefährlich, Achim.“
„Wie das Fenster einer Uni?“ Er kann sich ein blödes Grinsen nicht verkneifen.
„Genau“, brumme ich im Gleichtakt mit meinem Handy. Ich werfe kurz einen Blick darauf und fluche innerlich.
Wo bist du? Bin in deiner Wohnung.
„Ladies, ich muss euch verlassen“, sage ich genervt, krame einen Zehner aus meiner Tasche und lasse ihn auf den Tisch segeln. „Genießt das Bier.“
„Und wer fährt dich?“ Tim schüttelt genervt den Kopf, legt dann ebenfalls Geld dazu und entschuldigt sich bei Achim, der nur abwinkt.
„Ich will eh noch den Bericht im SWR über den AfD-Abgeordneten sehen, der angeblich für diese rechtsextreme Zeitung Artikel geschrieben hat.“
„Er wird es weiterhin abstreiten“, werfe ich Achim noch zu, bevor wir Richtung Parkhaus marschieren.
Am Auto angekommen, redet Tim kaum ein Wort mit mir. Schon als ich ihm sagte, dass wir uns mit Achim im Bull and Bear treffen, war er sehr schweigsam.
Als er am Kino vorbei den Oederweg entlangfährt, räuspere ich mich und werfe einen unauffälligen Blick auf ihn.
„Entschuldige.“
„Für was?“
„Für was auch immer du sauer bist.“
Er schnauft nur und schüttelt wie so oft den Kopf. Wie ein Oberlehrer oder mein Vater.
„Was habe ich getan? Dich zu sehr rumgescheucht?“
„Darum geht es nicht. Du behandelst mich wie deinen Leibeigenen oder jemanden, der nur dein Anhängsel ist. Dabei …“
„Dabei was?“, frage ich. Meine Lider zucken.
„Dabei dachte ich, dass wir Freunde sind, Severin.“
„Sind wir“, sage ich schnell und fahre mir durch die Haare. „Wir sind Freunde und es tut mir leid. Ich war heute …“
„Ich dachte heute wirklich, du rufst mich an, um dich bei einem Bier für Samstag zu entschuldigen.“ Er seufzt. „Es ist wieder wie in der Türkei. Es hat dich zurückversetzt. Das verstehe ich. Aber rede mit mir und scheuch mich nicht herum.“
„In Ordnung.“
Er nickt zufrieden und stellt dann das Radio ein wenig lauter.
Als wir endlich bei mir ankommen, schnalle ich mich ab und drehe mich noch einmal zu Tim, der immer noch etwas angesäuert nach vorne starrt.
„Es tut mir leid, Hasibärchen. Schlaf gut. Küsschen“, sage ich in gestelzter Stimme und flüchte dann aus dem Auto, bevor er mich schlagen kann.
„Hauptkommissarin Lacker!“, begrüße ich Jules und knickse leicht, als ich in meine Wohnung trete, den Schlüssel auf meine kleine Kommode schmeiße und die Stiefel ausziehe.
Sie kocht vor Wut. „Du bist ein Kind!“
„Lady Polizei, Sie sind doch nur fünf Jahre älter“, entgegne ich gespielt schockiert. Sie brummt irgendetwas und deutet dann auf zwei weiße Tüten.
„Ich habe etwas zu essen mitgebracht.“
Mein Blick landet skeptisch auf den asiatisch riechenden Tüten auf meinem Couchtisch. „Warum?“, frage ich, statt mich einfach zu bedanken.
„Ich …“ Sie reibt sich nervös die Handgelenke. Eine seltene Geste bei Julia Lacker.
„Mache ich dich nervös?“ Ich hebe belustigt einen Mundwinkel.
„Lass das. Ich hatte Hunger und du hast sicher wieder gedacht, Bier ersetzt eine Mahlzeit.“
„Okay“, gebe ich knapp zurück und gehe zum Kühlschrank.
Das hier ist seltsam. Ich dachte, sie sei hier, um eine Nummer zu schieben, bevor sie die Nacht über wieder im Präsidium verbringt. So ist es immer. Und in meine Wohnung kommt sie nur, weil sie genau weiß, wo mein Ersatzschlüssel liegt. Was also wird das jetzt? Will sie mehr? Einen gemeinsamen Abend wie ein echtes Paar?
„Bier?“, frage ich, weil ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, was Jules trinkt, wenn sie einen Dienstagabend auf der Couch verbringt.
„Ich habe einen Sixer mitgebracht“, gibt sie zurück und deutet auf meinen Kühlschrank. Okay. Jetzt wird’s gruselig.
Ich nehme zwei Flaschen, öffne sie mithilfe meiner Arbeitsplatte und schlendere dann zurück zur Couch.
„Pass auf, Jules“, beginne ich eine ausholende und verwirrende Rede darüber, warum ich ein schlechter Kerl und sie eine viel zu gute Frau ist, aber sie unterbricht mich sofort, indem sie ihre Hand hebt.
„Spar es dir, Severin. Ich weiß, was du sagen willst, und es ist mir egal. Ich bin es leid.“
„Also verlässt du mich?“ Ich schlage mir theatralisch die Hand auf die Brust.
„Dass du Freunde hast, ist das größte Wunder dieser Welt“, faucht sie, schnappt sich das Bier und leert die halbe Flasche, bevor sie weiterspricht.
„Ich verlange nicht, dass du mich deinen Eltern vorstellst, mich heiratest oder auch nur händchenhaltend mit mir über die Zeil läufst. Ich will einfach nur etwas essen und trinken, bevor wir miteinander schlafen. Das ist eindeutig nicht zu viel verlangt.“
Ich schweige. Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll, weil sie recht hat. Sie verlangt nicht viel und doch schnürt sich meine Kehle zu.
„Ich bin es einfach leid, abends schnell einen Döner vom Imbiss zu essen, zu dir zu fahren, ’ne schnelle Nummer zu schieben und dann ins Präsidium oder allein nach Hause zu fahren. So hab ich mir das nicht vorgestellt.“
„Ich war immer ehrlich, Jules“, finde ich endlich meine Stimme wieder.
„Ja. Und jetzt bin ich es auch.“
„Heißt das, dass du auch bei mir schlafen willst? Und frühstücken?“
„Das, was es bei dir zum Frühstück gibt, lebt wieder, Sev. Also nein. Ich will nicht mit dir frühstücken.“
„Aber bei mir schlafen?“
„Wenn das irgendwie im Bereich des Möglichen liegt und du nur einen kleinen Spalt deiner Severin-Zone für mich öffnen könntest, dann – ja. Ich würde gerne zusammen mit dir einschlafen und aufwachen und ab und zu etwas mit dir essen.“
Ich presse meine Lippen aufeinander und setze mich dann endlich neben sie. Vor allem, damit ich nicht mehr ständig ihren dunkel glänzenden Zopf anstarre, statt ihr in die Augen zu sehen.
„In Ordnung“, sage ich, greife nach dem Gummi in ihren Haaren und löse es. Ich hasse diese strenge Frisur. Wahrscheinlich habe ich nur deshalb Ja gesagt. Sie wirkt unheimlich, wenn sie ihre Haare so glatt und stramm nach hinten gebunden hat.
„Das klingt nicht begeistert.“
„Hast du denn wirklich erwartet, dass ich begeistert sein würde?“, schnaufe ich.
„Geht es hier um andere …?“
„Nein!“, unterbreche ich sie und lege meine Hand in ihren Nacken. „Nein, Jules, und das weißt du. Ich will keine anderen Frauen. Ich will …“
„Deinen Freiraum?“
Ich nicke bedeutungsvoll und beuge mich ein wenig zu ihr. „Aber ich werde ein Stück davon mit dir teilen. Und es wird mich bestimmt nicht umbringen.“
Ich hauche ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und trinke dann selbst von meinem Bier. Sie wirkt nicht wirklich zufrieden. Aber zufrieden ist gerade wohl keiner von uns beiden.
„Wo warst du am Samstag noch?“, fragt sie unvermittelt, während sie die Tüten ausräumt. Na, das geht ja super los. Wir reden jetzt also über unseren Tag wie ein echtes Pärchen. Und nicht nur das. Mein Treffen mit Lydia liegt Tage zurück, aber offenbar nicht weit genug.
Sie reicht mir eine der Boxen und Stäbchen.
„Bei Lydia im Stadion“, gebe ich knapp zurück und betrachte das Essen in meiner Box. Woher weiß Jules, was ich gerne esse? Ist sie wirklich so aufmerksam und ich ein vollkommener Idiot? Ich habe das alles nicht kommen sehen. Dachte, Jules sieht das alles genauso wie ich.
„Was wollte sie denn?“ Ihre Stimme ist plötzlich viel höher.
„Ich unterliege der Schweigepflicht.“
„Severin!“, sagt sie genervt und isst ihre Nudeln wie ein verdammter Profi, während ich meine Fleischstücke mit dem Stäbchen aufspieße, um wenigstens etwas davon in meinen Mund zu bekommen.
„Dein Sarkasmus geht mir echt auf die Nerven.“
„Was war mit dem Jungen an der Uni?“, stelle ich eine Gegenfrage. Sie kneift missbilligend die Augen zusammen, während ich mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen kann.
„Er ist tot. Was soll da also gewesen sein?“
„Stellt ihr die App endlich ab?“
„Du weißt, dass sowas nicht so einfach ist. Wir löschen sie heute und morgen gibt es dieselbe App unter einem anderen Namen. Aber wir haben die Presse über den Fall unterrichtet. Vielleicht schreckt das einige ab, die App überhaupt zu benutzen.“
„Sicher“, brumme ich, stehe dann auf und hole mir eine Gabel.
„Ich …“, beginnt Jules unsicher und wirft einen verstohlenen Blick auf ihre Handtasche, „habe einen Film mitgebracht.“
Ich verschlucke mich und greife zu meiner letzten Rettung. Dem Bier. In jeglicher Hinsicht.
„Klar und danach spielen wir ’ne Runde Uno.“
Sie verzieht den Mund, beugt sich dann aber zu mir. So nah, dass ich ihren Atem an meinem Nacken spüren kann. Er streicht mein Ohr und lässt meine Haut prickeln. „Ich wäre für Strip-Poker“, raunt sie so leise und rau, dass sich jedes verdammte Haar an meinem Körper aufstellt.
„Was für ein Film?“, gebe ich mich geschlagen und räuspere mich, um wieder klar zu denken.
„Wie ein einziger Tag.“
„Jules“, maule ich und weite meine Augen.
„Das war ein Witz“, sagt sie kopfschüttelnd und zieht eine DVD aus der Tasche. Noch so etwas. Woher weiß sie, dass ich keinen Blu-ray-Player besitze? Berufskrankheit?
„Star Wars?“, frage ich ungläubig. Was zum Teufel wird das hier?
„Ich dachte, wir fangen heute an und sehen, wie es uns gefällt.“
„Wie uns Star Wars gefällt?“, frage ich entrüstet und auch ein wenig schockiert.
Sie lacht und steht dann auf, um meinen Oma-Fernseher einzuschalten.
„Wie es uns gefällt, zusammen einen Film zu schauen und dabei zu essen.“
„Schön“, nuschle ich und sehe ihr dabei zu, wie sie mit dem DVD-Player kämpft. Irgendwann erhebe ich mich, stelle alles ein und befehle ihr, sich von allem Technischen fernzuhalten. Sie lacht und brummt etwas von Technik von vor hundert Jahren.
Bis zur Hälfte des Films bekomme ich kaum etwas mit, weil ich so verdammt angespannt bin. Und dann bringe ich es endlich fertig, sie zu mir in den Arm zu ziehen.
Als der Film vorbei ist und der Abspann läuft, mustere ich ihr schönes Gesicht. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Mund ganz leicht geöffnet.
Nie zuvor habe ich sie so intensiv angesehen. Aber warum? Sie ist hübsch. Ihre sonst so skeptisch auf mich gerichteten blauen Augen bilden einen außergewöhnlichen Kontrast zu ihren dunklen Haaren. Ihre Lippen sind perfekt geschwungen, ihre Wangenknochen stehen ganz leicht vor. Ein anderer Mann hätte wahrscheinlich keine zwei Monate gebraucht, um zu begreifen, was für eine großartige Frau sie ist. Verdammt schön, aber vor allem clever, schlagfertig, selbstbewusst. Sie ist liebevoll und gleichzeitig eine echte Raubkatze. All das würde ich ihr gerne sagen. Und auch, dass ich nicht der Richtige bin und sie verletzen werde. Aber Jules hat ihren eigenen Kopf und wird sich sowieso niemals etwas von einem Mann sagen lassen.
Ich erhebe mich und überlege kurz, eine Decke über sie zu legen. Aber sie hat mich darum gebeten, mit ihr in einem Bett zu schlafen. Und das ist ihr sicher nicht leichtgefallen. Nicht ihr. Nicht einer so starken Frau wie ihr. Also nehme ich ihren schmächtigen Körper hoch, trage sie in mein Bett und decke sie sorgsam zu. Ich werde es probieren. Mir Mühe geben. Für sie und vielleicht auch für mich.
Der Geruch von Kaffee weckt mich. Irritiert öffne ich meine Augen und mustere die leere Bettseite neben mir. Hat sie wirklich das Bett gemacht? Auf einer Seite?
Frauen sind verwirrend. Ich strecke mich, erhebe mich und werfe kurz einen Blick in meine Küche. Jules steht da. Angelehnt an der Theke, eine Tasse Kaffee in ihrer Hand und in der anderen ihr Handy.
„Guten Morgen“, sage ich und zeige auf das Bad, wo ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht spritze, mir durch die Haare fahre, Zähne putze und wieder zu ihr gehe.
„Morgen“, sagt sie und deutet auf den frisch aufgebrühten Kaffee in der Kanne.
„Wir haben einen Fall reinbekommen, ich muss gleich los.“
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und nicke. „Ja, ich auch.“
„Hör zu, Severin. Es tut mir leid. Du hättest …“
„Dich wecken können?“, frage ich schmunzelnd und küsse sie auf die Wange, bevor ich leicht mit meinem Daumen ihre Unterlippe berühre. „Du warst das erste Mal an dem Abend still. Das hätte ich für keinen Sex der Welt aufgegeben.“
„Arsch!“, schimpft sie und boxt mir gegen die Brust.
„Es war nicht so schlimm wie gedacht, einfach nur neben dir zu schlafen“, raune ich und küsse sie erneut. Ihre Wangen erröten ein wenig.
„Wieso musst du so früh los? Fährst du in den Verlag?“
Ich sehe zu Boden und greife dann schnell nach einer Tasse.
„Nein.“ Es ist der 6. November.“
„Oh“, macht sie und verzieht entschuldigend den Mund.
„Ich werde Helena und die Jungs besuchen und Kevin, wenn er mich reinlässt.“
Sie nickt nur und legt mir eine Hand auf die Schulter. Der Schmerz in ihren Augen ist echt. Nicht, weil sie Mic kannte. Nein, weil sie es war, die seine Leiche im Stadion gefunden hat, nachdem er sich selbst hinuntergestürzt hat. Sie weiß, was er mir bedeutet hat. Eine der wenigen Sachen, die sie wirklich über mich weiß.
„Falls du nachher jemanden brauchst, ich bin nur eine WhatsApp entfernt“, flüstert sie, stellt ihre Tasse ab und küsst mich, bevor sie geht. Und als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, hinterlässt sie eine Leere, die vorher schon da war, ich aber nie wirklich wahrgenommen habe.
Ich warte nicht lange, bevor ich mir meine Jacke schnappe, meine Stiefel anziehe und ebenfalls losgehe. Blinzelnd stocke ich, als ich Nastis Wagen vor meiner Haustür entdecke. Sie sitzt hinterm Steuer und redet mit ihrer Freisprechanlage, die ich bis hier draußen hören kann. Als ich nähertrete und an die Scheibe klopfe, beendet sie das Gespräch und öffnet mir die Tür.
„Wie geht es dir?“
„Was machst du denn hier, Schwesterchen?“, entgegne ich verwundert.
„Na ja. Ich dachte, du brauchst Beistand. Oder jemanden der dich fährt. Wohin du willst.“
„Wo ist Leonard?“, frage ich, um nicht auf ihre Fürsorge einzugehen. Ehrlich gesagt habe ich nicht einmal damit gerechnet, dass sie weiß, welcher Tag heute ist. Vielleicht unterschätze ich Nasti manchmal. Das habe ich schon damals getan, als sie mir den Arsch gerettet hat.
„Bei Richard“, schnaubt sie. Ihre Stimme nimmt seit einem halben Jahr immer diesen bissigen Ton an, wenn sie seinen Namen sagt. Kein Wunder. Sie hat ihm nach seiner Affäre noch eine Chance gegeben, er ist ein halbes Jahr bei ihr geblieben und hat sich dann getrennt, weil er die andere liebt und sie schwanger von ihm ist. Nicht gerade die Vorzeigefamilie, die Nasti immer wollte und die beide gespielt haben.
„Woher weißt du, dass heute …“ Ich rede nicht weiter, weshalb Nasti mir ihre Hand auf mein Bein legt. Eine seltsam ungewohnte Geste von ihr.
„Was denkst du denn? Du bist mein Bruder und dieser Tag war schrecklich für dich. Das vergesse ich nicht einfach.“
Ich nicke und presse meine Lippen aufeinander.
„Würdest du mich zu Hel bringen?“, frage ich dann kleinlaut. „Du weißt schon. In Niederrad. Da, wo die Trauerfeier war.“
Als wir ankommen, bedanke ich mich und schicke sie zurück. So wie ich Nasti kenne, würde sie sonst den ganzen Tag in ihrem Auto warten und die Mandanten am Telefon abfertigen. Zumindest kenne ich sie so, seit Richard weg ist. Nein. Eigentlich sogar schon seit der Nacht, in der sie mir weinend von seiner Affäre erzählt hat. Etwas zwischen uns hat sich damals verändert. Wir werden wohl nie richtig liebende Geschwister sein. Aber wir unterstützen uns.
Als ich bei Hel klingele, dröhnt laute Musik durch die Gänge. Sie hat sich damals entschieden, in ihrer Wohnung wohnen zu bleiben und wahrscheinlich bekommt sie die Miete nur gestemmt, weil ich damals Nasti darum gebeten habe, Wohngeld für sie zu beantragen.
„Snobbi!“, begrüßt mich eine lallende Hel und breitet ihre Arme aus.
„Wir trinken schon?“
„Jap“, entgegnet sie und führt mich zu den anderen ins Wohnzimmer. Claudia, Gustav und Kevin sind da und kurz erstarre ich. Aber das Eis bricht, als es Kevin ist, der zuerst aufsteht und mich mit tränenden Augen in den Arm nimmt.
„Heute wird gefeiert. Auf unseren Mic.“