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VORWORT

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Was packst du in deinen Koffer, wenn es um Leben und Tod geht – wenn du nur 60 Minuten Zeit hast, dich zu entscheiden? Seit dem 9. November 2018 kann ich diese Frage beantworten. Es ist nun schon ein Jahr her … Und doch erinnere ich mich an so ziemlich alles, was an diesem Morgen passierte und was ich gedacht habe. Ganz so, als wäre es gestern gewesen.

Ich lag an diesem Tag gegen sechs Uhr morgens noch in meinem Bett, in dem Haus in Malibu, das Til und ich uns 1998 in glücklichen Zeiten gemeinsam gekauft hatten. Durch die Fenster fielen Sonnenstrahlen – es sah ganz danach aus, als würde es wieder ein richtig schöner kalifornischer Herbsttag werden, als ich per SMS von der Behörde alarmiert wurde, dass alle Bewohner Malibus ihre Häuser zu verlassen haben. Am Vortag waren mehrere Feuer ausgebrochen. Das wusste ich natürlich aus den Nachrichten, aber das war ja nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Oktober und November werden hier nicht umsonst »Fire Season«, Feuer-Saison, genannt. Dass es irgendwo oberhalb der Küstenstädte in den Hügeln brennt, gehört in Kalifornien genauso dazu wie der Ozean und die Erdbeben. Ach, nur eine Vorsichtsmaßnahme – so schlimm wird’s schon nicht sein …, tat ich die Nachricht ab. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass die Santa-Ana-Winde aufgekommen waren. Sie werden nicht umsonst auch Teufelswinde genannt, denn sie fegen heiß, trocken und mit bis zu 40 Kilometern pro Stunde über Land und Meer. Und leider hatten sie über Nacht dafür gesorgt, dass sich die Brände in rasendem Tempo und völlig unkontrolliert ausbreiten konnten. Die Feuerwehr war machtlos. Ich dachte zunächst nur daran, endlich nach unten zu gehen, die Espressomaschine anzuschmeißen und mir meinen ersten Kaffee des Tages und meiner Tochter ihren geliebten Avocado-Toast zu machen. So schnell wie möglich unser Haus zu verlassen, fand ich in diesen frühen Morgenminuten undenkbar und regelrecht skurril. Ich war noch im Pyjama und schmiss mich gerade in meine Lieblingsjogginghose und ein T-Shirt, als mir Emma eine SMS schickte. Sie hat ihr Zimmer direkt unter meinem und schickt mir oft aus dem Bett heraus Nachrichten. Diesmal fragte sie mich, ob sie zu Hause bleiben dürfe, weil sie Bauchschmerzen habe. Ich sagte natürlich Ja und dachte: Na, dann kann ich mich ja heute früher mit meiner Freundin Eva treffen und durch die Santa Monica Mountains wandern … Das mache ich morgens wahnsinnig gern, nachdem ich Emma in die Schule gefahren habe. Es gibt wundervolle Wanderwege in den Hügeln, die durch die Natur führen und je nach Wetterlage einen unglaublichen Blick über die Küste bieten. Selbst nach 20 Jahren kann ich mich daran nicht sattsehen. Und da ich sowieso viel zu wenig Sport mache, gibt mir dieser halbstündige Spaziergang bergauf mit Lunas Hunden Banksy und Yoda, auf die ich aufpasste, während sie in Paris studierte, das Gefühl, dass es um mich noch nicht total verloren ist. Evas Antwort fiel allerdings anders aus als erwartet: »Sweetie, ich sitz längst mit meiner Familie im Auto, raus hier. Das solltest du auch tun. Und zwar sofort.«

Okaaaaay, dachte ich da, das erste Mal mit einem wirklich mulmigen Gefühl im Bauch. Vielleicht solltest du das doch mal ernst nehmen. Ich ging auf den Balkon, der direkt an meinem Schlafzimmer im ersten Stock liegt. Von da aus kann ich nicht nur ein Stück des Pazifischen Ozeans sehen, sondern auch in Richtung der Hügel – und auf einmal wurde die SMS durch eine gigantische, schwarz-graue und bedrohlich nahe Rauchwolke zur Wirklichkeit. Ich bin nicht der Typ, der schnell hysterisch wird, im Gegenteil: Je mehr um mich herum los ist, desto ruhiger werde ich. Wer vier Kinder hat, wird wohl in jeglicher Hinsicht stressresistent, würde ich sagen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich selbst da noch dachte: Kaffee. Der wird erst einmal helfen. Und dann kannst du immer noch entscheiden. Als ich jedoch durch das stille Haus nach unten in die Küche ging und vor der Espressomaschine stand, drängte sich ein Gedanke immer weiter nach oben und weil es noch so leise im Haus war, war er auf einmal so laut in meinem Kopf, als hätte ich ihn ausgesprochen: Verlasst das Haus, Dana, verlasst sofort das Haus. Als sei das der Startschuss gewesen, begann mein Handy mit einem pausenlosen Piepen, eingehende Nachrichten anzuzeigen. Es kamen immer mehr – von anderen Freunden, die auf der Flucht waren und fragten, ob es uns gut ginge. Von einem Nachbarn, der auf der Suche nach einem Anhänger für sein Pferd war. Von einer Freundin, die völlig verzweifelt schrieb, dass ihr Haus bereits in den frühen Morgenstunden abgebrannt sei. Ich lief zu meiner Tochter Emma und sagte so ruhig wie möglich: »Emma, du musst aufstehen. Wir werden evakuiert. Malibu brennt.« Sie war sofort völlig durch den Wind, erst recht, als eine Freundin ihr schrieb, dass die gemeinsame Schule bereits dem Feuer zum Opfer gefallen sei. »Mom, Mom«, rief sie. »Was sollen wir denn tun?« Ich versuchte sie zu beruhigen: »Keine Angst, Sweetie, wir kriegen das hin. Pack deine Sachen. Alles wird gut.« Sie nahm als Erstes ihre geliebten Kurt-Cobain-, Nirvana- und David-Bowie-Poster und die gemeinsamen Fotos mit ihrem Vater und ihren Geschwistern von den Wänden, denn die bedeuteten ihr am allermeisten, und verschwand im Kleiderschrank, um ihre Lieblingsklamotten von den Bügeln zu reißen. Sie ist mein jüngster Schatz, war gerade vor ein paar Wochen 16 Jahre alt geworden und lebt als einzige ihrer vier Geschwister noch bei mir. Ich liebe sie über alles, natürlich. Aber wie es zwischen Mama und Teenager so ist, beschränken sich unsere Konversationen derzeit meistens auf Kurzinfos wie »Aufstehen!«, »Hast du was gegessen?« meinerseits und »Man, Moooooom!« »———« und »Wo. Ist. Mein. Schwarzer. Hoodie?« ihrerseits. Auf einmal stand das Haus, in dem sie so glücklich geworden war, der realen Bedrohung gegenüber, bald nicht mehr zu existieren. Ihr verzweifelter Aktionismus zerbrach mir das Herz, ich hätte sie am liebsten sofort auf den Schoß genommen. Aber selbst wenn sie es zugelassen hätte, hätte ich mich ohnehin nicht allzu lange um sie kümmern können, denn ich musste unsere Mitbewohner wecken. Wie immer war das Grundstück randvoll mit den Freunden meiner Kinder aus Deutschland. Wer eine Anlaufstation in Los Angeles braucht, meldet sich bei mir und natürlich sage ich zu allen immer und gern »Ja, klar, stay with us.« Ich mag es, ein volles Haus zu haben. Und auch wenn es manchmal hart ist, nicht loszubrüllen, wenn mal wieder keine Milch, keine Avocado oder kein Kaffee mehr da sind und alle mich mit großen »Ich war das nicht«-Augen anschauen, macht es mich wahnsinnig glücklich, sie bei mir zu haben. Natürlich fühlte ich mich verantwortlich für diese jungen Menschen, alle Anfang 20, alle dabei, im Leben durchzustarten. Der schlagfertige Marvin und sein höflicher kleiner Bruder Alan, die zusammen einen Abi-Crash-Kurs entwickelt haben, die durchtrainierte blitzgescheite Jana, die in Los Angeles studieren und eine Karriere im Fashion-Marketing starten will, die rothaarige Carla, die nach dem Abi für ein paar Wochen aus Hamburg rauswollte und mir ein bisschen im Haushalt hilft und die eloquente Lina, die einen erfolgreichen Travel-und-Lifestyle-Blog hat. Ich klopfte an die Tür meines kleinen Gästehauses, das hinten im Garten steht, und weckte Carla und Lina. Jana war schon wach und kümmerte sich um die Hunde und die Jungs steckten verschlafen ihre Köpfe aus dem vintage Airstream-Wohnwagen, der in unserer Auffahrt steht. Sie konnten gar nicht glauben, was ich sagte und mussten sich erst einmal die Brandwolke von meinem Balkon aus ansehen. »Krass«, »Heftig«, »Guck mal, ganz schön nah« waren ihre Kommentare, als sie ungläubig Fotos machten. Die beiden sind aus Hamburg angereist – »Schietwetter« ist ihnen ein Begriff, aber nicht die Gefahr von Flächenbränden wegen einer weggeworfenen Zigarette, eines nachlässig gelöschten Campingfeuers oder eines kleinen Funkens aus einer defekten Stromleitung. Die wahren Ausmaße der Katastrophe erahnten wir natürlich alle noch nicht am Morgen des 9. November 2018. Dieses Feuer vernichtete in einer Minute eine Fläche von sechs Fußballfeldern, 88 Menschen verloren ihr Leben in den Flammen – an die vielen, vielen Tiere mag ich gar nicht denken – und über 9700 Wohnhäuser brannten nieder. Und es traf, das kann ich nach so vielen Jahren hier weiß Gott beurteilen, nicht, wie viele immer denken, nur Reiche. Malibu ist eine sehr gemischte Gemeinde, in der Wohlhabende neben Althippies und Großfamilien mit durchschnittlichem Einkommen neben alten Menschen leben. Das Feuer hat keinen Unterschied gemacht – es wird sicher Jahre dauern, bis alles wiederaufgebaut ist.

Bei uns im Haus, es war mittlerweile gegen halb sieben am Morgen, schwirrten alle umher. Die Kids, in meinen Augen sind sie das natürlich noch, versuchten, die Ruhe zu bewahren, aber ich merkte: Das war nur Fassade. Verständlich. Die Angst »Was ist, wenn uns doch was passiert?« schlummerte wohl in jedem von uns. Sie schauten mich mit großen Augen an und es stand ihnen ins Gesicht geschrieben, dass sie dachten: Was macht Dana? Und weil es als vierfache Mama seit jeher mein Job ist, habe ich das gemacht, was ich am besten kann: die Kontrolle übernehmen. »Lina, du fährst mit Carla.« »Packt genug Wasser ein.« »Vergesst nicht, Essen für die Hunde mitzunehmen.« »Nein, wir werden nicht sterben.« »Wir fahren alle den Pacific Coast Highway, bleibt möglichst dicht beisammen.« »Habt ihr alles gepackt?« Alles ein bisschen zackig im Ton, um Autorität und Sicherheit auszustrahlen. Das war es schließlich, was in der Situation alle brauchten.

Als alle ihre Anweisungen hatten, holte auch ich meine Koffer und schmiss sie aufs Bett. Da lagen sie geöffnet vor mir – mein Kleiderschrank keine zwei Meter entfernt. Was sollte ich einpacken? Was von meinem Leben musste in diese Koffer? Ich, 50 Jahre, vier Kinder, geschieden, Single, mit so vielen wunderbaren Erinnerungen und auch ein paar richtig traurigen.

Als ich mit meinen Koffern dann nach unten kam, wollte Marvin sie gleich ins Auto tragen, hob sie an und setzte sie überrascht ab. »Die sind leer. Soll ich die überhaupt mitnehmen?« »Ja«, antwortete ich. »Nimm sie mit.« Ich weiß nicht, warum ich nichts reingepackt habe. Meinen Laptop mit den Familienfotos, den Pass, das Portemonnaie hatte ich natürlich dabei. Aber ansonsten landete nur ein völlig unbedeutendes Sommerkleid in der Handtasche – zusammen mit der Jogginghose war das mein Outfit für die nächsten sieben Tage. Ich kann es mir nur so erklären: Kleidung, Handtaschen, Schmuck, die Bilder an den Wänden – davon scheint mir nichts wirklich wichtig zu sein. Ich habe schon so oft alles losgelassen, bin umgezogen mit einer ungewissen Zukunft – und habe immer neu begonnen. Egal, wie schwierig es war. Alles, was mir wichtig ist, trage ich als Erinnerung in meinem Herzen oder kann ich an die Hand nehmen. Wie meine Tochter Emma.

Im Herzen barfuß

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