Читать книгу Im Herzen barfuß - Dana Schweiger - Страница 6

KOMM KLAR, KIND!

Оглавление

»Früher war alles besser.« Sagen ja alle jenseits der 50 über ihre Kindheit, ist das irgendjemandem schon mal aufgefallen?

Ich weiß nicht so recht. Ist es so? Ich denke nicht, dass die Welt schlechter wird und auch nicht viel besser, sie weiß sich nur immer wieder zu wandeln und neu zu erfinden. Vielleicht lässt uns auch die Tatsache, dass eine Kindheit ohne größere Schicksalsschläge wohl die sorgenfreiste Zeit unseres Lebens ist, in einen Nostalgie-Loop eintauchen. Ich selbst bin verdammt glücklich darüber, dass es iPhones in meiner Kindheit noch nicht gab – ich wäre selbstverständlich genauso eine Handysüchtige geworden wie die meisten Jugendlichen es sind und sicher nicht halb so viel in der freien Natur gewesen. Meine Mutter hätte allerdings auch einen hysterischen Lachanfall bekommen, wenn ich damals gesagt hätte, so wie es heute meine Kinder tun – und all die Kinder meiner Freunde –, dass ich aber ECHT, WIRKLICH, UNBEDINGT, ÜBERLEBENSDRINGEND das neue iPhone 11 supreme in supernaturalbubbleblue bräuchte.

Wir waren alles andere als wohlhabend. Allein deswegen kann ich nicht uneingeschränkt sagen: Früher war alles besser. Meine Eltern haben den ganzen Tag gearbeitet – und ich war ganz schön einsam. Sie haben mich und meine Schwester natürlich geliebt – trotzdem habe ich mich wie ein Haustier gefühlt, dem man zu essen und zu trinken hinstellt und dann sagt: »Und nun, husch, husch, wieder raus mit dir! Kannst wiederkommen, wenn es dunkel wird.«

Wenn ich dagegen meine Tochter Emma sehe: Nach der Schule kommt sie in dem Wagen nach Hause, den Til ihr zum Geburtstag geschenkt hat, setzt sich an den Tisch, um die Mahlzeit zu essen, die ich ihr zubereitet habe, macht in ihrem Zimmer in Ruhe Hausaufgaben, surft auf ihrem Laptop, schwimmt eine Runde im Pool. Am Nachmittag trifft sie sich mit ihrer Freundin, um bei Sephora die neuesten Kosmetik-Gadgets zu testen und geht abends mit den Hunden am Strand spazieren, der kaum 500 Meter entfernt ist. Dann denke ich: Wow, sie hat es verdammt einfach – verwöhnen wir sie zu sehr? Aber es sind eben andere Zeiten … Und ich kann gar nicht anders, als meine Kinder zu umsorgen. Ich freue mich, wenn es ihnen allen so gut wie nur irgendwie möglich geht.

Meine Kindheit war in Emmas Alter vorbei – als ich 16 war, verkündeten meine Eltern mir: »Dana, du bist jetzt alt genug, deine Krankenversicherung selbst zu bezahlen. Benzin und die Autoversicherung übrigens auch. Ach ja, und wenn du studieren willst: deine Gebühren ebenfalls.« So einfach war das: Deal with it – komm klar damit, Mädchen!

Sie wollten mir mit der Ansage keine Lektion fürs Leben erteilen – sie kannten es einfach nicht anders. Für alles, was meine Eltern besaßen, mussten sie richtig hart arbeiten. Sie starteten mit nichts, als Kinder armer Hafenarbeiter, die aus Schweden und Norwegen eingewandert waren, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Kennengelernt haben sie sich auf der Highschool und geheiratet haben sie, als meine Mutter Joyce 19 war und mein Vater John 22. Er wurde Elektriker. Viel Auswahl blieb ihm auch gar nicht, weil er nach seinem Abschluss nicht besonders gut lesen konnte. Ihm war Feiern wohl wichtiger als Bildung. Meine Großmutter hat mir mal erzählt, dass mein Vater gern in Bars rumhing und wenn er zu viel trank, fing er an, sich zu streiten. Was dann folgte: wilde Kneipenprügelei, Festnahme, Ausnüchterungszelle und der obligatorische Anruf bei meiner Mutter: »Könnten Sie Ihren Mann abholen?« Fand meine Mom nicht lustig – sie pflegte meiner Oma zu sagen: »Pass auf, ich habe keine Zeit, deinen Sohn aus dem Gefängnis zu holen – ich wollte dir nur Bescheid sagen.«

Dann kamen wir – ich, als sie Anfang 20 waren, drei Jahre später Erica. Mein Vater nahm ein Darlehen für ein Haus in einem Vorort von Seattle auf und als ich etwa sechs Jahre alt war, kauften sie sich dazu eine kleine schlichte Skihütte für etwa 10 000 Dollar. Mit ihr verbinde ich meine schönsten Kindheitserinnerungen. Sie war eine ehemalige Unterkunft der damaligen Eisenbahnarbeiter der Great Northern Railway aus dem 19. Jahrhundert, in einem Kaff namens Skykomish, ungefähr eine Dreiviertelstunde außerhalb von Seattle, unterhalb der Berge. Skykomish war stinklangweilig – es gab gerade mal einen Einkaufsladen, eine Pizzeria, ein Café, in dem man Burger, Pommes, Steaks und natürlich Bloody Marys bekommen konnte, und eine Bar, an die 200 Einwohner, jede Menge Wald drumherum und sonst nix. Aber meine Eltern luden einfach jedes Wochenende alle ihre Freunde und deren Kinder zu uns ein und so war immer was los in der Hütte. Deswegen mag ich es wohl heute selbst so gern, wenn jedes Zimmer in meinem Haus mit Freunden und deren Freunden belegt ist.

Und dann sind wir von morgens bis abends Ski gefahren. Wenn man in Seattle lebt, fährt man Ski, alles andere wäre absurd. Man ist ja umgeben von Bergen, der Mount Rainier mit seinen 4392 Metern prägt die Skyline der Stadt. Auf ihm liegt fast das ganze Jahr Schnee – bis zu 28 Meter Neuschnee sind nichts Ungewöhnliches. Wir waren weiter südlich auf dem Cowboy Mountain auf 2000 Metern unterwegs, aber auch dort gab es immer rekordverdächtig viel Neuschnee. Wir waren alle mehr oder weniger süchtig danach, die perfekten Linien durch den unglaublich tiefen Schnee zu fahren – das war ein gigantisches Gefühl.

Wenn abends um zehn die Pistenbeleuchtung ausgeschaltet wurde, sind die Erwachsenen noch auf einen oder zwei Absacker in eine Bar gegangen und wir Kinder mussten so lange draußen warten, bis sie fertig waren. Dann ging es mit den Vans 30 Minuten runter vom Berg, im Dunkeln und auf spiegelglatter Fahrbahn. Das zum Thema »Don’t drink and drive«. Wir Kinder waren immer ganz still, weil es ein bisschen unheimlich war und die Eltern sich konzentrieren mussten. Aber das war damals einfach so – Autofahren ohne Gurt, Ski- und Radfahren ohne Helm, ein bisschen fahren mit Whiskey im Blut und Zigarette in der Hand … Kann solche Geschichten nicht jeder erzählen, der in den 70ern und 80ern Kind war?

In unserer Skihütte angekommen, wurde weitergefeiert. Gefühlt war bei meinen Eltern immer Party am Start, natürlich unterstützt von Fleetwood Mac und Neil Diamond als Hintergrundmusik von 8-Spur-Kassetten. Ich habe es geliebt. In Seattle bestand der Alltag aus viel Arbeit und Haushalt – in Skykomish sind Mom und Dad immer lockerer drauf und so viel weniger streng gewesen. Die Hütte wurde irgendwann unser absoluter Lebensmittelpunkt. Wir waren jedes Wochenende und in allen Ferien dort, weil es für meine Eltern die billigste Form war, Urlaub zu machen. Da wir es nicht anders kannten, war es okay.

Und auch ohne Fernsehen, Handy und Shoppingmall gab es genug, womit wir uns die Zeit vertreiben konnten: Im Sommer sind wir in den Bergen gewandert, lungerten an den Schienen rum, sind mit den Fahrrädern durch den Wald gefahren und haben uns viel am Skykomish River aufgehalten. Wir nannten den Fluss »unsere Riviera«, obwohl das Wasser eiskalt aus den Bergen kam und natürlich nichts von der französischen Mittelmeerküste hatte. Man konnte sich aber im Neoprenanzug mit dem Schwimmreifen vier Stunden den Fluss runtertreiben lassen – das war genial. Später als Jugendliche haben wir uns als Upgrade ein paar Dosen Bier aus dem Kühlschrank gemopst und an die Schwimmreifen geschnürt. Wir hatten alle Freiheiten – Hauptsache, wir waren eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang zu Hause. Wenn es nicht gerade in Strömen gegossen hat, war es toll, von morgens bis abends unbewacht in der Natur rumzustreunen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern vor Sorge um uns durchgedreht wären – eher im Gegenteil – sie waren froh, wenn sie uns los waren. Ganz so lässig bin ich selbst mit meinen Kindern nicht. Ich finde es schön, dass es auf dem Handy eine Trackingfunktion gibt, durch die ich weiß, wo alle meine Liebsten sind. Wenn sie denn gefunden werden möchten.

Als ich acht war, hatte mein Vater einen ganz schlimmen Autounfall in Skykomish. Er war frühmorgens mit einem Freund auf dem Weg zum Berg hoch, um Ski zu fahren, als ein betrunkener Fahrer frontal in seinen Van reinfuhr. Dabei ist einer seiner Rückenwirbel gebrochen und er konnte über ein Jahr nicht arbeiten. Von einem auf den anderen Tag hatten wir kein Einkommen mehr. Aber meine Mutter hat nicht groß gejammert, sie hat gemeinsam mit einer Freundin angefangen, im Keller Jeans zu nähen. Sie nannten ihr Label Swaby’s. Tatsächlich konnten wir uns damit erstaunlich gut über Wasser halten, denn die Jeans waren unter den Jugendlichen der Renner und wurden ganz beachtlich in einem Laden in einer angesagten Shoppingmall in Seattle verkauft. Und meine Schwester und ich bekamen 20 Cent für jede Hose, der wir die sichtbaren Nahtfäden abschnitten …

Meine Mutter wurde daraufhin immer mutiger und als sie auf einer Stoffmesse Gore-Tex aufgetan hat (das war damals der neue Hightech-Stoff), hat sie ihr zweites Label Dynamic Designs gegründet und Skianzüge genäht. Ihre Kunden kamen aus dem ganzen Land, sowohl die Bergwacht als auch Skischulen haben ihre Skianzüge bei meiner Mutter bestellt. Zu unserem Leidwesen waren Erica und ich ihre Werbeträger. Sie hat uns jede Saison zwei ähnliche Exemplare angefertigt, damit wir im Partnerlook rumlaufen konnten. Für angehende Teenager wohl die Höchststrafe. Wenn wir nebeneinander im Skilift saßen, waren die Leute ganz entzückt und fragten, woher wir denn die tollen Skianzüge hätten und ich sagte brav meinen Spruch auf: »Meine Mama hat das für uns genäht. Willst du auch so einen?«

Als mein Vater wieder arbeiten konnte, wollte meine Mutter nicht alles wieder hinschmeißen und machte mit seinem Einverständnis weiter. Irgendwann später gab sie die beiden Firmen aber doch auf und fing an, in einem Laden für Inneneinrichtung zu arbeiten, den sie später kaufte. Im Rückblick muss ich sagen, dass meine Mutter wirklich ein Gespür für Design hatte – die Jeans mit dem hohen Bund und den weiten Beinen im 70s-Style würden sich heute wieder richtig gut verkaufen und die Ski-Jumpsuits in Orange mit schrägen Streifen und die Jacken mit Tiger-Prints ganz sicher auch. Damals fanden Erica und ich sie leider nur peinlich und hätten alles dafür gegeben, Helly-Hansen-Anzüge tragen zu dürfen. Aber für Designerklamotten war kein Geld da. So war das Jahr für Jahr: Die Skier wurden secondhand gekauft, Mama nähte die Skianzüge und zu Weihnachten gab es die Skipässe als Geschenk.

Was unsere Kinder dagegen schon alles unterm Weihnachtsbaum hatten … Til, seine Familie und ich haben es eventuell ein bisschen zu gut gemeint. Soll heißen: Es gab einen Riesenhaufen Scheiß. Mit dem haben die Kinder zwei Stunden gespielt – und dann verschwand alles in der Versenkung (es sei denn, ein anderes Kind entdeckte es wieder, dann wurde bis aufs Blut darum gekämpft: »Das ist MEEEINS!«).

Wobei ich zu meiner Verteidigung anmerken muss, dass ich meine Kinder im Alltag nicht mit unnützem Zeug überflutet habe. Ich bin ohnehin stolz darauf, ihnen beigebracht zu haben, sparsam mit Geld umzugehen. Wenn man so wie ich aufgewachsen ist, vergisst man nicht, wie hart es sein kann, Geld zu verdienen. Deswegen gab es auch nie verschwenderische Shoppingtouren – und Markenkleidung war auch nicht furchtbar wichtig im Hause Schweiger. Es wurde gekauft, was nötig ist, nicht mehr und nicht weniger. Gerade habe ich mit Valentin und Luna zusammengesessen und ihnen gezeigt, wie sie ein Monatsbudget aufstellen, wie sie also mit dem Geld, das sie zur Verfügung haben, klarkommen. Damit sie wissen, wie viel sie verdienen müssen, um die Versicherungen und die Miete selbst zahlen zu können.

Zum Glück mussten meine Kinder nie so viel arbeiten wie ich als Kind. Schon mit zwölf hatte ich meinen ersten Nebenjob nach der Schule. Ich wusste, wenn ich nicht irgendwoher Geld bekomme, kann ich mir nie mal Kaugummis oder ein Extra-Spielzeug kaufen. Ich habe zweimal die Woche Müll auf einem Parkplatz aufgesammelt, später kam Babysitten dazu und seit ich 16 war, hatte ich am Wochenende eine Festanstellung in einem Baumarkt. Natürlich musste ich immer mit anpacken, wenn was im Haus oder in der Skihütte anstand. Ich musste beispielsweise mit meinem Vater Holz hacken, es in den Truck laden und hinterm Haus aufstapeln. Das habe ich sogar genossen, denn bei diesen Gelegenheiten war ich mal allein mit ihm. Wenn ich Glück hatte, hat er mich ein Bierchen mit sich trinken oder von seiner Pfeife ziehen lassen. Und es war ganz selbstverständlich, dass ich als die Ältere nach der Schule zu Hause die Wäsche gewaschen, geputzt und meistens auch das Abendessen gekocht habe. Meine Mutter hat mir die Rezepte am Telefon durchgesagt – abends gab es dann Rosmarin-Knoblauch-Hühnchen à la Dana. Von dem alle aßen – nur ich nicht. Die Innereien aus dem Viech zu holen, die Knochen und die Adern zu sehen, war ein bisschen zu viel für mich.

Der Vorteil, den man erst im Nachhinein sieht – und ich meine damit jetzt nicht, Tiere auszunehmen – ist natürlich, dass man sehr selbstständig wird. Ich muss schon stark mit den Augen rollen, wenn das bei uns zu Hause etwas anders abläuft. Neulich schrie eine meiner Töchter lauthals durchs Haus: »Mama, wo ist denn das Saahaalz?« und sie hat ernsthaft erwartet, dass ich aus dem Schlafzimmer nach unten in die Küche komme, um es ihr zu suchen. Dass sie selbst mal dort nachguckt, wo es schon sein wird, nämlich in einem der Küchenschränke – Fehlanzeige …

Meine kleine Schwester hatte den vollen Nesthäkchen-Bonus. Erica musste lange nicht so viel im Haushalt mithelfen und sie durfte eigentlich immer alles. Ich habe es so empfunden, dass sie mir ganz klar vorgezogen wurde. Ich weiß noch, dass ich zum Beispiel immer Fußball spielen wollte, aber bei mir hieß es: »Mädchen spielen nicht Fußball, die machen Ballett.« Dann kam Erica drei Jahre später daher und durfte auf einmal Fußball spielen. Meine Eltern sind gefühlt zu jeder Sportveranstaltung meiner Schwester gegangen, aber wenn ich irgendwas in der Schule hatte, ist niemand zum Zuschauen gekommen. Ständig durfte ich mir anhören: »Oh, die Erica ist eine so tolle Fußballerin. Oh, die Erica kann aber gut Ski fahren …« Ich weiß noch, wie ungerecht ich das alles fand. Als Kind ist man doch so angewiesen auf die Anerkennung der Eltern und manchmal wusste ich gar nicht, auf wen ich wütender sein sollte: auf meine Eltern oder meine kleine perfekte Schwester.

Erica wiederum hat mich, glaube ich, ziemlich um meine Figur beneidet – sie war eher der robuste Typ, ich war klein und zart. Trotzdem hat mein Vater in Erica eine Mischung aus sportlichem Sohn und naivem Engel gesehen. Mir hingegen hat er alles zugetraut. Dabei waren wir beide extrem sportlich und beim Feiern hat Erica in meiner Erinnerung wesentlich öfter über die Stränge geschlagen als ich.

Im Gegensatz zu mir haben meine Eltern Erica auch die Ausbildung finanziert: Erst ging sie auf eine private Skischule, dann durfte sie sogar in Paris studieren. »Aus ihr wird einmal was«, sagte mein Vater. Und fügte hinzu: »Du machst ja eh nur Party.«

Dass wir so ungleich behandelt wurden, hat mich tief verletzt – aber wenn ich jetzt Bilanz ziehe, sehe ich es ein bisschen mehr im Kontext: Ich habe vier Kinder, meine Schwester zwei. Ich war erfolgreich als Model, hatte eine gut gehende Firma und habe die Produktionsfirma meines Ex-Mannes unterstützt. Sie besitzt zwar einen Abschluss in Biochemie, doch mehr hat sie aus dem teuer bezahlten Studium nicht gemacht, ist stattdessen Immobilienmaklerin geworden. Prinzipiell habe ich das Gefühl, dass sie viel leichter überfordert ist und gar nicht gut mit Stress umgehen kann. Ich glaube, weil ich alles allein machen musste und auf mich selbst gestellt war, bin ich generell besser klargekommen. Wenn dir keiner hilft, findest du allein einen Weg. Aber wenn immer alles für dich gemacht wird, fällt es dir allein schwerer.

Später, als wir geheiratet und beide Kinder bekommen haben, war all das Konkurrenzdenken und das Buhlen um die Aufmerksamkeit null und nichtig – mittlerweile besteht ein richtig gutes und inniges Verhältnis zwischen uns. Wir haben den gleichen trockenen Humor meines Vaters geerbt und lachen viel miteinander. Neulich hat sie mich besucht und wir unterhielten uns über unsere Eltern, da sagte sie zu mir: »Ach du, du hattest es doch früher einfach. Du warst ja Mamas und Papas Liebling …« Ich hätte beinahe den Rotwein aufs Sofa geprustet. »So ein Bullshit«, habe ich gesagt. »Genau umgekehrt war es, my dear!« Aber so ist das vermutlich in allen Familien. Meine Kinder streiten sich auch oft darum, wie viele Redeminuten sie angeblich hatten. Und jeder geht am Ende gefühlt als Verlierer und Benachteiligter daraus hervor. Es tut dann so gut, auch nach so vielen Jahren, dass man seine Gefühle teilen kann und sich nicht mehr wie der ewig zurückgesetzte Außenseiter der Familie fühlt.

Eines der letzten gemeinsamen Familienereignisse war der Urlaub auf Hawaii, als ich 18 Jahre alt war. Da sind wir endlich auch mal woanders hingefahren als in unsere geliebte Skihütte. Ich habe lange Jahre gar nicht gecheckt, dass es so etwas wie »in andere Bundesstaaten oder gar Länder reisen« gibt. Aber als Teenager dachte ich, wenn alle braungebrannt aus den Winterferien nach Hause kamen und von Hawaii, Florida oder dem Disneyland erzählten: Na toll, und wir fahren immer in die olle Hütte. Ich schätze, meine Eltern haben ähnlich empfunden und als es finanziell ging, sind wir endlich nach Hawaii geflogen. Danach hatte ich lange den Traum, irgendwann eine Kaffeeplantage auf der Insel zu kaufen und dort zu leben. Die Natur, das gute Wetter, die Farben – es war traumhaft schön dort und ein unfassbarer Urlaub. Schon ein Jahr später bin ich als Model allein durch die Weltgeschichte geflogen. Und auch wenn ich noch ein paarmal wiederkam, war die gemeinsame Familienzeit endgültig zu Ende.

Die Skihütte und das Haus meiner Kindheit wurden vor etwa zehn Jahren abgerissen. Meine Mutter hatte die Finanzen sehr gut im Griff, sodass meine Eltern sich ihr Traumhaus am Lake Washington leisten konnten. Mittlerweile sind sie seit über 55 Jahren zusammen. Beeindruckend, oder? Ich muss ehrlich sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten haben, aber wenn zwei Menschen zueinanderpassen, dann funktioniert es wohl. Ich hingegen habe es nicht aushalten können und bin froh, dass ich niemandem mehr die Unterwäsche hinterherräume, ständig abgestandene Weingläser einsammle und volle Aschenbecher ausleere. Dieses Lebenskonzept, Traummann finden, heiraten, 50 Jahre zusammen sein, hatte ich komischerweise nie im Kopf. Als junges Mädchen habe ich zu meiner Mama gesagt: »Mein Mann wird mein Nachbar sein.« So war das in meiner Vorstellung: Ich lebe in meinem Haus, er nebenan in seinem und zusammen haben wir vier Kinder. Immerhin, das mit den Kindern hat geklappt.

Meine Eltern leben mittlerweile ziemlich zurückgezogen, aber dadurch, dass wir uns nun wieder auf dem gleichen Kontinent befinden, statt 4900 Kilometer, lediglich 1800 voneinander entfernt, sehen wir uns regelmäßiger – dennoch habe ich ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Sie sind lieb und unkompliziert, das schon. Aber ich frage mich immer, ob sie prinzipiell nur sehr relaxt sind oder extrem gleichgültig. Ob sie stolz auf mich sind? Ich habe keinen blassen Schimmer. Bis heute haben meine Eltern so was in die Richtung nie erwähnt. Als ich als Model international erfolgreich war: keine Reaktion. Als ich sie anrief, um von meinem Heiratsantrag zu erzählen, sagten sie nur: »Ach Mensch, nett, Kind.« Als sie Til und mich einmal in Hamburg besuchten, fragten sie IHN: »Können wir dein Büro mal sehen?« Für die neuen Geschäftsräume von Bellybutton haben sie sich gar nicht interessiert. Am Wichtigsten ist für die beiden, glaube ich, dass wir nicht drogenabhängig geworden sind oder andere Probleme haben, wie so einige Kinder ihrer Freunde.

Als ich selbst anfing, darüber nachzudenken, wie ich als Mutter so sein möchte, kam ganz oft der Satz in mir hoch: »Das will ich anders machen als meine Mutter.« Ich wollte unbedingt warmherziger sein und Gefühle ernst nehmen. Meine Mutter empfand ich als maskulin und streng. Wenn ich kuscheln wollte, hat sie mich weggeschoben. Wenn ich traurig war, hat sie abgewinkt: »Was soll das denn jetzt? Stell dich nicht so an!«

Natürlich habe ich mich auch dabei ertappt, trotz aller Vorsätze, doch ganz vieles so zu machen wie sie. Meine Mutter ist so ziemlich die planloseste Person, die ich kenne. Wenn Erica und ich nicht wären, würde sie selbst Weihnachten vergessen. Ich bin leider fast genauso chaotisch geworden. Gepaart mit der Grundgelassenheit meines Vaters, kann ich Freunde und Geschäftspartner damit in den Wahnsinn treiben, dass ich zu spät zu einer Verabredung komme oder sie ganz vergesse. Einmal haben Til und ich sogar Lillis Geburtstag vergessen. Dafür durften wir auch sehr lange Buße tun. Mit unendlich vielen Extra-Umarmungen.

Ich will meine Mutter nicht verurteilen, denn ich vermag es mir nicht vorzustellen, wie es für meine Eltern gewesen sein muss, immer von der Hand in den Mund zu leben. Und was ich so mitbekommen habe, haben sie selbst nicht gerade viel Geborgenheit in ihrer eigenen Kindheit erfahren. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als kleines Mädchen meinen Großvater zum Abschied küssen wollte. Der schob mich mit den Worten weg: »Lass das. Das gehört sich nicht.« Wie ist es da erst meiner Mutter ergangen?

Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass meine Mutter mehr für mich da gewesen wäre. Mütter spielen im Leben der Töchter lebenslang eine zentrale Rolle. Sie sind eine Referenzperson, egal ob wir uns gegen sie positionieren oder uns auf ihrer Seite fühlen. Natürlich habe ich auch vieles von ihr, was ich schätze: Wie sie die Dinge in die Hand genommen hat, als die Familie in Not war. Wie sie sich selbstständig gemacht und hart dafür gearbeitet hat, dass es funktioniert. Diese Stärke ist auch in mir. So konnte ich Bellybutton gründen, als ich mich von Til unabhängiger machen wollte. So schaffte ich es, mit den Kindern weiterzumachen, als Til und ich uns getrennt haben und ich quasi über Nacht in einem neuen Land alleinerziehend war.

Ich würde mir heute wünschen, mehr ernsthafte Gespräche mit meiner Mutter führen zu können. Aber irgendwie kriegen wir das einfach nicht hin. Sie stöhnt nur, wenn ich mich mal überwinde, sie auf früher und auf unser Verhältnis anzusprechen. Ich glaube, wenn man alt wird, traut man sich nicht mehr, die Themen zu bearbeiten. Aber ich bin auch entspannter und versöhnlicher mit allem geworden. Das passiert automatisch, wenn man selbst Mutter wird und einen die Erkenntnis mit voller Wucht trifft, wie schwer es ist, den eigenen Vorstellungen gerecht zu werden. Und ich kann mir nun lebhaft vorstellen, dass ich als Kind durchaus meinen Teil zu den Dingen beigetragen habe. Das erlebe ich ja nun dreifach live (Valentin muss ich da raushalten, der ist meistens tiefenentspannt). Ob ich mich sorge oder gelassen bleibe, lobe oder kritisiere, berate oder mich zurückhalte, rede oder schweige – es kommt der Augenblick, wo alles zu viel, alles zu wenig ist. »Mom, das verstehst du nicht«, »Für Lilli nimmst du dir viel mehr Zeit, warum hörst du mir nie so viel zu«, »Du bist eine schlechte Mom!« Alles Sätze aus den hübschen Mündern meiner Töchter, alle nicht allzu lange her, aber mir ist so, als hätte ich dieselben Sätze so oder so ähnlich zu meiner Mutter gesagt. Das ist eben der Zeitpunkt, wenn die Kinder die Mutter vom Sockel stoßen, um ihren eigenen Weg gehen zu können. Im Idealfall bleibe ich ein Hafen, in den meine Töchter immer wieder zurückkommen können. Das würde mich dann von meiner Mutter unterscheiden. Ich liebe sie zwar, ich kann sie auch immer anrufen – die innere Distanz und gefühlte Gleichgültigkeit mir gegenüber ist aber irgendwie geblieben. Ich hoffe, dass meine Kinder später nicht nur schnell und zackig all meine Defizite runterrezitieren können – davon gibt es sicher auch ein paar (wenige), sondern feststellen, dass ich zugehört und ihnen Geborgenheit gegeben habe.

Ich würde mich unendlich freuen, wenn meine Kinder später einmal zu mir sagen werden: »Du warst die beste Mutter, die du sein konntest.«

Im Herzen barfuß

Подняться наверх