Читать книгу Clara - Dana Seefeld - Страница 5
Stark
ОглавлениеJa, das war sie. Beispielslos war sie eine starke Frau. Sie konnte sich gut durchsetzen und ihre Werte und Normen selbstbewusst vertreten. Mehr als das sogar: sie hatte im Laufe ihres Lebens- und durch einige Rückschläge, die sie persönlich zwar stärker machten, aber ihre Schatzkiste auch gleichzeitig tief in ihrer Seele vergruben und sie selbst abschotteten, gelernt, auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen und sich vor allem nur auf sich selbst zu verlassen. Ob das gut tat? Das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Aber sie hatte sich mehr als vorgenommen und es zu einer Art Lebensmotto gemacht, nie mehr so enttäuscht und verletzt und ausgenutzt zu werden, wie es noch vor einiger Zeit passiert war. Das hatte sie sich hoch und heilig geschworen. Um sich selbst zu schützen.
Aktuell sehnte sie sich nach sich selbst. Danach, sich zu spüren, Kontakt mit sich selbst du haben und vor allem nach Ruhe, um dann in sich selbst ruhen zu können. Es war eine Wohltat für sie, geerdet und im inneren Frieden ausgeglichen in den Tag hineinzuleben- ohne Pläne und Vorhaben, ohne Gedanken und ohne diese drückende und alles ins Dunkel ziehende Schwere, die auf ihren Schultern lastete und die sie als blinden Passagier immer mit sich herum trug. Manchmal verzog sich dieses Gedankenbündel in Claras Unterbewusstsein, aber da war es immer.
Jeden Morgen, wenn sie aufstand und auch jeden Abend, wenn sie ins Bett ging um zu schlafen. Es gab nur wenige Möglichkeiten, diese Schwere zu vertreiben: Schokolade, zweisame Kuschelzeit oder das Vertieft-Sein in ein gutes und fesselndes Buch oder einen ebensolchen Film. Es erschreckte sie zum Teil selbst: Es war ein guter Tag, die Sonne schien und auch ihre Laune war gut- kein prä- oder postmenstruelles Syndrom in Sicht und keine Wolke am Himmel. Und dann: aufgrund einer Kleinigkeit oder eines belanglosen Zwischenfalls, der ihre Gedanken durcheinanderwirbelte, machte sich der blinde Passagier breit und begann zu wachsen und an Macht zu gewinnen. Er potenzierte seine Kraft und wuchs ins beinahe Unermessliche. Dann brauchte Clara all ihre Kraft, um nicht sofort loszuweinen, zu schreien und um sich zu schlagen wie ein kleines trotziges Kind. Sie musste ihre Gefühle zähmen und sich anpassen, damit sie nicht selbst überrannt wurde von ihnen. Sie musste selbst stark sein, um nicht von der Stärke ihres Mitbewohners übermannt zu werden. Stärker als alles andere und härter als alles andere.
Aber wie ist man stark? Wie schaffen es andere Menschen, so stark zu sein und alles scheinbar mühelos unter einen Hut zu bekommen? Clara wusste keine Antwort auf alle diese Fragen. Doch war dies ein Thema für sie: Andere.
Sie beneidete aktuell einfach jeden: Singles darum, dass sie Single waren. Rentner darum, dass sie nicht mehr im Beruf sein mussten, Eltern darum, dass sie Kinder hatten, Hausbesitzer darum, dass das Haus besser, größer, schöner, war, als ihr eigenes. Hundebesitzer darum, dass sie Hunde hatten, Selbstständige darum, dass sie selbstständig waren und Angestellte darum, dass sie Arbeit hatten. Sie beneidete Menschen, die einen Traumjob hatten, fand aber manchmal selbst, ihr Job sei ein Traumjob. Es war alles besser als ihre aktuelle Situation und sie konnte vor allem eines nicht: Sich mit etwas abfinden. Sie konnte und wollte sich nicht mit der Aufgabe ihrer Träume abfinden oder mit der Tatsache, dass alles wahrscheinlich in ihrem Leben hätte anders werden können und anders ablaufen. Sie bereute getroffene und nicht getroffene Entscheidungen. Sie wollte keine Veränderungen innerhalb des Berufes, gleichzeitig suchte sie aber dringend eine neue Stelle. Vor allem war sie aber unzufrieden. Sie war unzufrieden, weil alles arbeiten und jede Bewerbung um einen noch perfekteren Job ihr eines nicht abnehmen konnte: sich bewusst zu entscheiden, mit allem was dazu gehörte. Mit dem nötigen Rückgrat und dem nötigen Rückhalt. Sie war in ihrem Hamsterrad gefangen, spulte das gleiche Gerenne immer wieder ab und war vor allem eins: Stark. Aber nicht für sich selber oder ihre Bedürfnisse, sondern für alle anderen und deren Vorstellungen, denen sie entsprechen wollte um jeden Preis.
Stark sein. Ja, das war vielleicht das einzige, was sie perfekt beherrschte. Funktionieren. Das Hamsterrad am Drehen halten und immer in scheinbarer Bewegung bleiben. Und im Widerspruch zu sein. Vor allem im Widerspruch mit sich selbst. Denn es war schlimm, sich einerseits Ruhe und innere Ausgeglichenheit zu wünschen und doch selbst immer zu hetzen und zu jagen und niemals da anzukommen, wo man gerne hinmöchte.
Und so blieb ihr nur eins: sich auf der scheinbaren Stärke auszuruhen, keine Schwäche zu zeigen und das Hamsterrad am Drehen zu halten und den Zugang zur inneren Schatzkiste damit soweit es ging in den Hintergrund gelangen zu lassen und zu verstecken. Und das beste Versteck war gerade gut genug.