Читать книгу Rheinfall - Daniel Badraun - Страница 4

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EINS

Es dämmert bereits über dem See von St. Moritz. Am grossen Fenster einer luxuriösen Suite im Palace Hotel steht eine Frau in einem langen schwarzen Kleid und schaut gedankenverloren zu, wie die letzten sonnenbeschienenen Flecken die Berge hochsteigen.

«Willst du etwas trinken?»

Sie zuckt zusammen, langsam dreht sie sich um, wie eben aus einem Traum erwacht. «Was hast du gesagt?»

«Ob du etwas trinken willst. Wir müssen reden!»

«Einen Prosecco, bitte!» Während er die Minibar öffnet, ein Fläschchen hervorzieht und die perlende Flüssigkeit in zwei Glä ser füllt, setzt sie sich seufzend auf den Diwan. «Jean-Pierre! Kann das nicht bis morgen warten?»

«Wir haben der Presse eine Mitteilung für achtzehn Uhr versprochen.»

Sie nimmt ihr Glas, schaut den Luftbläschen zu, die nach oben steigen. «Und was soll ich deiner Meinung nach tun?»

«Ich bin dein Freund, das weisst du.» Er nimmt einen Schluck. «Und als dein Freund würde ich dir raten, für eine Weile unterzutauchen.»

«Soll ich etwa weglaufen?» Sie stellt ihr Glas heftig auf den Tisch. «Niemals!»

«Ach, Marguerite!» Er schüttelt den Kopf. «Hör mir bitte einmal zu!»

«Ich habe dich nicht als Freund engagiert, Jean-Pierre, sondern als Manager. Du musst dafür sorgen, dass das Produkt ‹Marguerite Duval› gut ankommt, nicht, dass Marguerite Duval verschwindet, verstehst du?»

Der Mann, der Jean-Pierre heisst, steckt sich einen dünnen Zigarillo an. «Die Marke ‹Marguerite Duval› läuft gut, mein Schatz, und das weisst du. Und warum? Weil du im Gespräch bleibst. Weil du Skandale, Intrigen und Machtmissbrauch aufdeckst. Aber jetzt hast du übertrieben. Jetzt bist du in Gefahr!»

«Das glaubst du doch selber nicht!» Sie steht auf, unsicher, steuert auf das Fenster zu, lehnt die Stirn gegen das kühle Glas. «Ich schreibe, ich schreibe gut, sehr gut sogar, schneidend – wie die Presse meint –, bösartig auch, das Wort ist meine Waffe. Vielleicht habe ich an der Macht gekratzt. Doch bis jetzt habe ich niemanden ernsthaft gefährdet.»

«Ich fürchte, dass es diesmal anders ist.» Jean-Pierre zieht den Rauch tief hinunter. «Du bist die erste Schriftstellerin in der Schweiz, die wegen ihrer Texte bedroht wird.»

«Sag der Presse», sie dreht sich langsam um, «sag, dass ich lesen werde.»

Jean-Pierre lächelt dünn. «Das habe ich befürchtet, Marguerite! Und darum habe ich mir etwas einfallen lassen, damit du dich erholen kannst, es wird dir gefallen. Ich habe Freunde, die …»

«Ich muss mich nicht erholen!», ruft Marguerite. Ihre Stimme klingt seltsam schrill.

Er dreht sich um, geht zur Tür.

«Wo willst du hin?»

Er macht eine wegwerfende Handbewegung. «Die Presse. Die Aasgeier wollen ihr Futter!»

«Jean-Pierre! Hast du mir etwas mitgebracht?» Sie streckt die Hand aus.

Er kommt zurück, zieht eine Tablettenpackung aus der Tasche des Jacketts und drückt ihr eine gelbe Kapsel in die Hand. «Das wird dich beruhigen, Kleines!» Gedankenverloren legt er die Packung auf den Tisch und geht hinaus.

Langsam schreitet Jean-Pierre Murat die breite Treppe hinunter. Er liebt dieses würdevolle Gehen auf den roten weichen Teppichen des «Palace». Marguerites Erfolg ermöglicht ihm dies alles.

Der Concierge macht ihm ein Zeichen. «Guten Abend, Monsieur Murat. Die Presse ist drüben im kleinen Salon. Ich habe Getränke aufstellen lassen, wie Sie es gewünscht haben.»

Jean-Pierre nickt ihm freundlich zu, während eine Note diskret den Besitzer wechselt.

«Übrigens, Madame Duval hat Hunger, könnte man ihr einen Salat aufs Zimmer bringen?»

Der Concierge nickt und macht sich eine Notiz.

«Dann wollen wir mal.» Murat stösst die Türe des kleinen Salons auf, bleibt kurz stehen und blickt sich um. Wunderbar. Dicht gedrängt sitzt die hechelnde Meute, bewaffnet mit Mikrofonen. Erwartungsvoll richten die versammelten Medienleute Blicke und Kameras auf den Manager der Schriftstellerin.

Jean-Pierre geht zwischen ihnen durch nach vorne und stellt sich ans Rednerpult.

«Meine Damen und Herren, herzlich willkommen hier im Palace Hotel!» Er schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein. «Danke, dass Sie so zahlreich erschienen sind.»

«Eigentlich haben wir Madame Duval erwartet!», ruft ein blonder Lockenkopf von der Lokalzeitung.

«Marguerite Duval fühlt sich nicht gut, die ganze Aufregung der letzten Tage war zu viel für sie, das verstehen Sie sicher!» Sein freundliches Lächeln streift alle Anwesenden. «Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Sie von mir alle nötigen Informationen bekommen werden.»

Ein leises Murmeln breitet sich aus.

Jean-Pierre hebt besänftigend die Arme. «Ich glaube, Sie sind nicht umsonst gekommen. Madame Duval hat sich entschieden.» Er macht eine kurze Pause und schaut sich um, die Spannung steigt. «Sie wird in Schaffhausen lesen!»

Blitzlichter, aufgeregtes Getuschel. Einige der Presseleute zücken ihre Handys und wählen aufgeregt die Nummern ihrer Redaktionsbüros. Jean-Pierre schaut dem Rummel teilnahmslos zu, trinkt einen Schluck. «Sie lässt sich nicht einschüchtern. Von niemandem!»

«Aber sie nimmt die Morddrohungen ernst, oder?», fragt der Redaktor des «Bündner Tagblatts».

«Wir nehmen die Drohungen sehr ernst, das ist richtig. Aber Madame Duval lässt sich nicht verbieten, wo und was sie lesen will.»

«Haben Sie eine Ahnung, wer Madame Duval bedroht?», will die Dame von der «Glücks-Fee» wissen und streicht sich einige blonde Strähnen aus dem Gesicht.

«Wir wissen genau so viel wie Sie, meine Dame, falls wir mehr wüssten, wäre die Polizei schon längst aktiv geworden.»

«Und was wird Madame in Schaffhausen lesen?», hakt die Dame von der «Glücks-Fee» nach und schaut Murat bittend an.

Jean-Pierre macht eine Pause, alle Blicke sind auf ihn gerichtet. «Sie wird ihr neues unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel ‹Ein unsichtbarer Schatten› vorstellen.»

«Können Sie uns etwas über den Inhalt sagen?», fragt ein Journalist der «Schaffhauser Nachrichten» interessiert.

«Eigentlich darf ich Ihnen noch nichts über den Text erzählen. Als Vorausinformation vielleicht nur so viel: Es geht um die unerhörten Machenschaften einer grösseren Firma im Raume Schaffhausen.»

«Der Name dieser Firma?», lässt der Journalist nicht locker.

Jean-Pierre hebt lächelnd die Hände. «Kein Kommentar!»

«Wie sieht es mit den Sicherheitsvorkehrungen für Mada me aus?» Die Videojournalistin von «Tele Top» fuchtelt furchterregend mit ihrem Mikrofon herum.

«Sie werden sicher verstehen, dass wir diese Massnahmen für uns behalten.»

Mit einem Knall öffnet sich die Tür des Salons. Alle Köpfe drehen sich in die gleiche Richtung. Im Türrahmen steht ein Zimmermädchen, kreideweiss, die Augen weit aufgerissen vor Schreck. «Monsieur! Ich wollte Madame den Salat bringen, aber … Die Zimmertür stand weit offen, Möbel waren umgeworfen, Schubladen herausgezerrt und der Inhalt war im Zimmer verstreut und … Madame Duval ist verschwunden!»

In einem dunklen Büro in Schaffhausen stehen zwei junge Männer am Fenster. Sie tragen grüne Overalls mit der Aufschrift «Multitel». Hinter einem massigen Schreibtisch aus dunklem Holz sitzt ein älterer Herr mit Glatze und Bauch. Das Brummen des Verkehrs dringt gedämpft von der Strasse herauf.

Das Telefon läutet. Einmal, zweimal. Dann hört es auf. Einer der Männer am Fenster schaut auf die Uhr. «Eine Minute.» Wieder klingelt das Telefon. Einmal, zweimal, dreimal.

Peter Hofer hinter dem Schreibtisch räuspert sich. «Sie wird also lesen.»

Die beiden jungen Männer schauen auf die Strasse hinunter.

«Dann wollen wir uns mal reinhängen, Jungs!»

Hofer öffnet ein Mäppchen und legt ein eng beschriebenes Blatt vor sich auf die lederne Schreibunterlage.

«Findet heraus, in welchem Hotel sie wohnen wird, welche Zimmernummer sie hat, einfach alles. Du, Manuel, wirst im Hotel arbeiten. Du, Steff, wirst ihr auf Schritt und Tritt folgen. Habt ihr noch Fragen?»

Als die beiden draussen sind, tupft sich Hofer den Schweiss von der Stirn.

Ein kalter Wind weht vom Berg hinunter. Sie fröstelt ohne Jacke. Langsam folgt sie der Passstrasse oberhalb von Silvaplana.

«Nur weg von den Lichtern», denkt sie, «nur weg.»

Um Viertel vor sechs hatte sie eine der Tabletten genommen, die ihr Jean-Pierre hingelegt hatte. Sofort fühlte sie sich schwer, in ihrem Kopf öffnete sich ein schwarzes Loch.

«Das wird dich beruhigen», hatte Jean-Pierre geflüstert.

Sie nahm noch wahr, wie er die Tür schloss, dann fiel sie rückwärts in die tiefe Leere. Doch diesmal dauerte es nur kurze Zeit. Viel zu schnell tauchte sie wieder auf, und da war diese Übelkeit. Sie würgte, irgendwie kam sie bis ins Badezimmer, dort erbrach sie sich. Keuchend blieb sie neben der stinkenden Kloschüssel liegen, unfähig sich zu rühren.

Dann hörte sie, wie der Zimmerschlüssel umgedreht wurde, sie wollte nach Jean-Pierre rufen, brachte aber nur ein Krächzen über die Lippen. Durch die halb geöffnete Türe sah sie zwei Paar Beine vorbeigehen, hörte das Knarren des Diwans, dann wurde die Tür der Minibar geöffnet. Vorsichtig richtete Marguerite sich auf.

«Mann, die ist aber gut gefüllt!»

«Lass das, Robert!»

«Für einen Drink aus der Bar wird die Zeit doch reichen, denke ich.»

«Vielleicht sollten wir erst nachschauen, ob sie wirklich schläft.»

«Die hat was genommen, die ist hinüber.»

Zwei Männerstimmen, die sie noch nie gehört hatte. Was suchten zwei Deutsche in ihrer Suite? Und woher hatten sie den Schlüssel?

Marguerite Duval war plötzlich hellwach. Die Morddrohung! Die beiden Männer waren hier, um sie zu töten!

Vorsichtig schob sie die Tür des Badezimmers auf, tastete sich durchs Entree zur Tür der Suite, nahm den Schlüssel, der innen steckte, mit und schloss von aussen ab. Sie hastete zum Lift am Ende des Flurs, dort überlegte sie es sich anders und öffnete die Tür zur Treppe, die wohl nur von den Angestellten benutzt wurde. Sie stieg hinunter, landete in der Küche, dann in einem langen, dunklen Gang. Immer wieder hörte sie Rufe, das Echo von Schritten hinter sich. Endlich fand sie eine Tür, die ins Freie führte, sie lief den Hang hinunter, bis sie ausser Atem die Strasse am See erreichte.

Dort blieb sie stehen und winkte den vorbeifahrenden Autos, bis endlich ein kleiner Fiat mit italienischen Nummernschildern anhielt.

Der Mann hatte ununterbrochen geplaudert, er erzählte, dass er als Schreiner arbeite und am Feierabend zurück nach Italien zu seiner Familie fahre. Marguerite schaute in die Nacht hinaus, unfähig, irgendetwas zu entscheiden.

Dann sah sie in Silvaplana das Strassenschild. Julierpass, Chur. «Hier können Sie mich rauslassen, herzlichen Dank fürs Mitnehmen.»

Sie ging auf die Häuser zu, durchquerte eilig das Dorf.

Und nun hastet sie durch das Dunkel den Pass hinauf, viel zu leicht gekleidet für diesen kühlen Abend im Engadin.

Später hört sie zwei Kurven unter sich quietschende Reifen. Ein Auto nähert sich mit hoher Geschwindigkeit. Marguerite Duval versteckt sich hinter einem Baum und wartet. Ein olivfarbener Landrover rast vorbei.

Rheinfall

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