Читать книгу Rheinfall - Daniel Badraun - Страница 7
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Gegen Mittag trifft Jean-Pierre in Chur ein. Er parkt vor dem Stationsgebäude.
«Weisst du, was das ist, Linda?» Er zeigt auf die Halteverbotstafel neben dem Wagen.
«Eine Verbotstafel, fahr weiter, schnell.» Die Journalistin der «Glücks-Fee», die Murat seit der Pressekonferenz gestern Abend nicht mehr von der Seite gewichen ist, zeigt auf ein Parkfeld weiter drüben.
Jean-Pierre öffnet die Wagentür. «Das ist keine Verbotstafel, das ist Luxus, verstehst du?» Dann verschwindet er im Gebäude.
Die Journalistin nimmt die Kamera, steigt aus und setzt sich im Schatten auf eine Parkbank.
Wenig später fährt der Stadtbus vor, ein grelles Hupen, Linda Steiner hebt die Kamera, ein erstes Bild zeigt, wie der Bus knapp am grossen Audi vorbeimanövriert, ein zweites, wie der Chauffeur aussteigt und den Wagen betrachtet, ein drittes, wie er sein Handy zückt und telefoniert. Dann fährt der Bus weiter. Linda wartet.
Kaum drei Minuten später fährt ein Streifenwagen vor, durch die Linse sieht die Journalistin, wie ein Beamter umständlich einen Bussenzettel ausfüllt und ihn unter die Windschutzscheibe klemmt. Dann geht die Türe des Stationsgebäudes auf. Jean-Pierre erscheint. Neben ihm bleich und mit unsicherem Gang die Schriftstellerin Marguerite Duval. Linda hat sie noch nie so gesehen, ungeschminkt, zerzaustes Haar, zerknitterte Kleidung. Immer wieder drückt sie ab, fotografiert, wie die beiden sich dem Wagen nähern, wie Jean-Pierre Marguerite die Tür öffnet und ihr beim Einsteigen hilft, ohne den Polizisten zu beachten, der sich nun dem Wagen nähert, auf das Halteverbotsschild deutet und mit dem Bussenzettel vor Jean-Pierres Gesicht herumwedelt. Dann noch eine letzte Aufnahme, Jean-Pierre zückt seine Brieftasche, zieht eine Note heraus, lächelt. Dann winkt er Linda zu, wartet, bis sie beim Audi ist, und öffnet ihr galant die Türe.
«Schade um dein Geld.»
«Du bist eben zu kleinlich. Ausserdem gibt das doch eine prima Story für dein Blatt, oder nicht?»
«Glaubst du, dass so etwas meine Leserinnen interessiert?»
«Sonst hättest du wohl nicht so oft abgedrückt.»
Murat startet den Motor und lenkt den Wagen durch die Stadt. «Und du wirst noch einiges mehr zu sehen bekommen, das deinen Leserinnen gefallen wird.»
Auf der Rückbank ist Marguerite in sich zusammengesunken, sie murmelt unverständliches Zeug.
«Will sie so in Schaffhausen lesen?»
Jean-Pierre hält vor einer Ampel. «Sie hat eben ein Beruhigungsmittel geschluckt. Morgen wird sie wieder auf den Beinen sein.»
«Ein guter Platz, findest du nicht?» Felix kneift die Augen zusammen, beobachtet die Wassermassen, die einer Lawine gleich über die Felsen ins Rheinfallbecken hinunterstürzen.
«Nicht gut genug.» Freddy schaut sich um, eine Gruppe Japaner überquert die Brücke beim Restaurant, um zur Bootsanlegestelle zu gelangen, zwei Schweizer Familien folgen ihnen.
«Und was passt dir nicht, wenn ich fragen darf?»
«Zu wenig Leute, wir brauchen ein grosses Gedränge, wenn es unbemerkt passieren soll.»
«Komm mit.» Felix folgt den Japanern über die Brücke, mischt sich unter sie, geht lächelnd hin und her und verlässt die Gruppe bei den Booten.
«Na? Ist das nicht Gedränge genug?»
Freddy schüttelt den Kopf. «Deine blonden Haare waren immer zu sehen. Und wenn einer hier oben steht, kann er genau beobachten, was in der Gruppe passiert. So wird das nie klappen.»
Ein Boot legt an. Leute kommen an Land, schnatternd gehen die Japaner an Bord.
Felix stellt sich ans Geländer, schaut zu, wie das Boot ablegt, und zündet sich eine Zigarette an. Er sieht, wie das Boot durch die Strömung Kurs auf den Felsen hält, der mitten im tosenden Wasser des Rheinfalls steht. «Dann machen wir es dort drüben, dort ganz oben.»
Freddy schaut hinauf zur Schweizerfahne auf dem Felsen. «Wenn jemand hinter Marguerite Duval her ist und sieht, dass sie zum Aussichtspunkt hinüberfährt …»
«… dann kann er es sich leisten, hier zu warten und einen Kaffee zu trinken, denn es ist nicht anzunehmen, dass sie wegschwimmt!»
«Genau. Komm mit!»
Und dann erzählt Freddy bei einem Kaffee am Panoramafenster des Restaurants, wie er sich das Ganze vorstellt.
Margrittli sitzt an der Bar und trinkt einen Tee, als der Anruf kommt.
«Bar Adria, Giancarlo!»
Der Kellner hört kurz zu. Dann schaut er Margrittli fragend an. Diese schüttelt den Kopf.
«Nein, tut mir leid, sie war heute noch nicht hier …! Gut, ich werde es ihr ausrichten …! Genau, auf Wiederhören.»
«Danke, Giancarlo. Was hat er gesagt?»
Der Kellner nimmt einen gelben Lappen und wischt über die Theke. «Ich soll dir, wenn du kommst, ausrichten, dass du unbedingt hier bleiben und auf einen gewissen Freddy warten musst. Es sei dringend, hat er gesagt.»
«Das geht schneller, als ich gedacht habe.»
Giancarlo reibt weiter auf der gleichen Stelle herum.
«Kannst du nicht aufhören? Diese Putzerei macht mich nervös!»
«Ich mache mir Sorgen um dich, Margrittli. Diese Typen sind nichts für dich. Das habe ich schon gestern Abend gedacht. Die sind vielleicht gefährlich. Ich hab das so in der Nase, verstehst du? Ich bin doch dein Freund, ich an deiner Stelle würde …»
Margrittli steht auf. «… aussteigen, wolltest du das sagen?» Sie legt das Geld für den Tee auf die Theke.
«Genau!» Giancarlo lächelt erleichtert.
«Dazu ist es zu spät. Ich will doch nur …» Margrittli schüttelt den Kopf.
«Du bist ganz schön starrköpfig, weisst du das?»
«Das hat mein Vater auch immer gesagt.» Sie lächelt. «Dann verschwinde ich jetzt am besten.»
Giancarlo hat mit Putzen aufgehört. «Und was sage ich diesem Freddy, wenn er kommt?»
Margrittli öffnet die Türe der Bar. «Sag ihm, dass ich angerufen habe und ihm ausrichten lasse, ich sei beim Einkaufen, werde aber bald kommen, klar?»
Giancarlo nickt, trocknet sich die Hände und steckt das Geld ein.
Während Jean-Pierre Murat nachmittags um zwei den Walensee entlangfährt, Pietro Soldini zur gleichen Zeit in einem Strassencafé in Stein am Rhein sitzt und die Zeitung liest, Felix und Freddy den Rheinfall verlassen und Margrittli zum Einkaufen geht, betritt ein junger Mann das Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein. Er schaut sich in der leeren Halle um, geht dann hinüber zum Portier.
«Ich habe angerufen. Maier ist mein Name, Manuel Maier.»
Der Portier blättert eifrig in seinem Buch, schüttelt dann bedauernd den Kopf. «Tut mir leid, Herr Maier, hier ist keine Reservation unter diesem Namen eingetragen.»
Wieder schaut sich der junge Mann um. «Ich habe kein Zimmer reserviert, ich bin der neue Mitarbeiter. Herr Direktor Bucher hat gesagt …»
«Ach so, genau, der Herr Direktor hat mir von Ihnen erzählt.» Der Portier zieht die Brauen zusammen, macht sich gross, winkt dann den jungen Mann nahe zu sich heran. «Eines müssen Sie zuerst lernen, Maier, der Personaleingang ist hinter dem Gebäude. Aber wenn Sie nun schon mal hier sind, können Sie gleich mitkommen.»
Er führt den neuen Angestellten in ein Nebenzimmer und schiebt ihm ein Formular zu. «Wenn Sie dieses Blatt hier bitte ausfüllen würden. Die üblichen Formalitäten. Ich werde Sie dann in Ihre Tätigkeit einführen.»
Margrittli steht im Warenhaus Schwanen und beobachtet die Leute. Ausverkauf! Ständig dröhnen neue Sonderangebote auf die Kaufwilligen ein. Im Rausch wühlen sie sich durch Kisten, stürzen sich auf neue Ständer, die herbeigekarrt werden, klammern sich an Kleiderbügeln fest, damit sich niemand an ihren Schnäppchen vergreifen kann.
«Turnschuhe für den Herrn, nur in dieser Stunde für die Hälfte des angeschriebenen Preises, ab sofort in unserer Sportartikelabteilung!»
Einige Männer setzen sich in Bewegung, laufen an Margrittli vorbei, die sich für lange Mäntel interessiert. Sie hat schon mehrere probiert, doch scheinen ihr alle etwas zu eng. Endlich findet sie etwas, ein auffälliges gelbes Exemplar, das an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Sie schlüpft hinein, das Ding passt, dann wühlt sie sich durch einen Stapel Kopftücher, die wohl kaum jemand mit gesundem Farbempfinden kaufen würde, fischt sich ein giftgrünes quadratisches Exemplar heraus, packt noch eine grosse Sonnenbrille dazu und geht zur Kasse.
Auch hier herrscht ein unglaubliches Gedränge, und so reagiert Margrittli kaum, als sie angerempelt wird. Erst als der Mann neben ihr seinen Kopf hinunterneigt und zu flüstern beginnt, zuckt sie zusammen.
«Ich muss dringend mit Ihnen sprechen, schauen Sie bitte geradeaus, es muss niemand merken, dass wir uns kennen.»
Auch Margrittlis Stimme ist kaum hörbar: «Meine Mutter hat mir verboten, mit fremden Männern zu sprechen, gerade im Ausverkauf sei das sehr gefährlich.»
«Wir kennen uns, Frau Durrer.»
Margrittli dreht den Kopf zur Seite, starrt dann wieder geradeaus. «Hallo! Sie sind der nette Hundebesitzer von gestern Abend. Haben Sie Ihren Lucky inzwischen gefunden?»
«Das erzähle ich Ihnen später. Bezahlen Sie Ihre Waren, dann treffen wir uns in der Multimediaabteilung, es ist wichtig.»
«Und wenn ich nicht komme?»
«Denken Sie an Marguerite Duval.»
Doch bevor Margrittli etwas antworten kann, ist der Fremde bereits in der Menge verschwunden.