Читать книгу Rheinfall - Daniel Badraun - Страница 8
ОглавлениеFÜNF
Marguerite Duval erwacht. Ihr Kopf ist angenehm leer. Von diesem Zustand kann sie nicht genug bekommen. So schwebend und leicht. Die Augen, die sie fast geschlossen hält, lassen nur schmale Lichtstreifen eindringen, nur Licht, keine Bilder. Sie weiss, dass sie nichts muss, dass man sie in Ruhe lassen wird.
Es ist wie früher, sie ist krank, die Rollläden sind heruntergelassen, im Kinderzimmer ist es dämmrig, gemütlich, ab und zu kommt die Mutter herein, wechselt die Essigumschläge an den Beinen oder bringt ihr etwas zu trinken ans Bett, ohne viel zu fragen, ohne etwas von ihr zu wollen. Am Abend tritt der Vater ins Zimmer, sie spürt seine rissige Hand auf ihrer Stirn, hört seine warme Stimme, hinter ihm die Schwester, die ungeduldig wartet, bis sie wider mit ihr spielen kann.
Die Mutter ist tot, der Vater auch, nur die Schwester lebt irgendwo da draussen in dieser lauten Welt. Früher sind sie zusammen in den Himmel hinaufgeschaukelt, bis ganz hinauf zu den Wolken und wieder zurück. Dann sind sie auseinander gegangen, sie hat begonnen zu schreiben, erst Gedichte, dann Kurzgeschichten und jetzt diese grossen Reportagen in Buchform. Sie hat Preise gewonnen, neue Freunde gefunden, sich Feinde geschaffen. Damit hat sie sich immer mehr vom Dorf und ihrer alten Welt entfernt.
Mit jeder Seite, die sie schrieb, wurde sie besser. Jede neue Geschichte wurde noch mehr gelobt, die Zeitschriften überboten sich, um etwas von ihr abdrucken zu können. Nächtelang sass sie träumend an ihrer Schreibmaschine und flog durch Geschichten, die am nächsten Morgen sauber getippt auf dem Schreibtisch lagen.
Die Schwester, die im Dorf geblieben war, hatte immer mal wieder angerufen, kam zu den Lesungen in der Stadt. Sie erzählte von den Eltern und bat Marguerite, doch bei ihnen vorbeizuschauen. Irgendwie ist die Zeit im Rausch vorbeigezogen, erst starb Mutter, dann der Vater. Nie hat sie sich im Dorf blicken lassen, auch nicht an der Beerdigung. Sie hat sich zu sehr geschämt. Nach dem Tod der Eltern und vor allem seit sie mit Jean-Pierre zusammen ist, hat Marguerite nichts mehr von der kleinen Schwester gehört.
Sie lächelt leise, wenn sie an damals denkt. Jean-Pierre wollte sie gross machen, ihren Namen über alle Grenzen hinaustragen, nur – sie müsse angriffiger werden, dürfe keinen Skandal auslassen. So hatte sie begonnen, den Leuten mit ihren Reportagen auf den Zehen herumzutreten, Jean-Pierre recherchierte die Geschichten und sie verpackte diese in ihrem unverwechselbaren Stil. Pressekonferenzen jagten sich, erste Anklagen wurden eingereicht, Prozesse gewonnen, sie galt als Verfechterin der Meinungsfreiheit, und die Verkaufszahlen ihrer Bücher schnellten in die Höhe. Der Name Marguerite Duval prangte in grossen Buchstaben auf der Frontseite der grossen Zeitschriften.
Doch als sie keine Ruhe mehr finden konnte, brauchte sie etwas, um weiterzuarbeiten, sie trank, damit sie schlafen konnte, nahm irgendwelche Mittel, um sich am Laptop konzentrieren zu können. Kaffee reichte schon lange nicht mehr. «Meine Apotheke» nannte sie ihre Begleitung in den schweren Stunden, die sie immer wieder mit neuen Mitteln versorgte, die sie aus den Löchern ihrer Seele holten und sie schweben liessen so wie jetzt im Wagen kurz vor Zürich.
Zuerst schaut sich Margrittli bei der italienischen Musik um, wählt eine CD aus und schlendert dann hinüber zum deutschen Schlager. Wahllos greift sie sich einen Tonträger heraus und geht damit zur Theke.
«Können Sie mir diese hier abspielen?»
Die Verkäuferin öffnet die Verpackung, legt die CD auf und gibt Margrittli die Hülle.
Sie stülpt sich den Kopfhörer über die Ohren und blättert im weissen Textbuch auf der Suche nach dem ersten Lied.
«Sie wollten mit mir über Marguerite Duval sprechen?»
Der Mann neben ihr dreht sich langsam um, schiebt den Kopfhörer leicht zur Seite und dreht die Musik leiser. «Marguerite Duval ist in Gefahr.»
Margrittli summt ein paar Takte mit. «Ich habe die Zeitung auch gelesen. Irgendwelchen Spinnern gefällt nicht, was sie schreibt. Sie wird bedroht. Ein gefundenes Fressen für die Journalisten, oder nicht?»
Der Mann dreht sich um, sein Blick wandert über die Regale. «Diesmal ist es mehr, glauben Sie mir, diesmal ist es viel mehr. Denn diesmal wird man versuchen, sie umzubringen.»
Das weisse Textbuch fällt auf den Boden. Margrittli erstarrt für einen Moment. Da bückt sich der Fremde und hebt es für sie auf.
«Warum erzählen Sie mir das alles? Was wollen Sie von mir?»
«Ich will Sie warnen.»
Margrittli nimmt das Textbuch. «Warnen?»
«Sie lassen sich mit den falschen Leuten ein. Sie sind daran, ein sehr einsames Spiel zu spielen. Sie brauchen Freunde, wenn es gefährlich wird, ich wollte …»
«Sie ein Freund? Jemand, der in der Nacht um mein Haus schleicht, mich anlügt mit einer halbschlauen Hundegeschichte, jemand, der mich im Ausverkauf belästigt …»
Margrittli ist laut geworden, der Fremde legt seinen Kopfhörer auf die Theke und wendet sich zum Gehen. «Seien Sie ruhig», zischt er wütend, «es ist vielleicht jemand hier, der uns beobachtet! Nehmen Sie die Rolltreppe ins Erdgeschoss, gehen Sie zum Kiosk und kaufen Sie die hinterste ‹Glücks-Fee›. Meine Karte wird dort drin sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen …»
Wie gelähmt steht Margrittli an der Theke. Was hat der Fremde gesagt? Dass sie jemand beobachten könnte? Langsam dreht sie sich um. Ausser ein paar Schülern steht niemand zwischen den Verkaufsregalen. Eben verschwindet der Mann von vorhin bei den Fernsehern. Aber da – folgt ihm nicht jemand? Dieser kräftig gebaute Kerl mit den kurz geschnittenen Haaren?
Margrittli schüttelt den Kopf. Sieht sie schon Gespenster? Dankend legt sie den Kopfhörer auf die Theke und fährt mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss hinunter.
Dort wendet sie sich nach rechts zum Kiosk.
«Wo finde ich die ‹Glücks-Fee›?»
«Tut mir leid.» Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. «Eben war ein Herr hier, der hat alle vorhandenen Exemplare gekauft.»
Manuel Maier steht an der Rezeption im Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein und blättert in den herumliegenden Papieren. Der Portier hatte sich an einem Brötchen eine Plombe herausgebissen und war auf dem Weg zum Zahnarzt, um sich ein Provisorium einsetzen zu lassen. Manuel hatte beteuert, über genug Hotelerfahrung zu verfügen, um in der Zwischenzeit die Stellung zu halten.
Als Pietro Soldini das Hotel betritt und auf die Rezeption zugeht, beginnt das Telefon zu läuten.
«Hotel Chlosterhof, Maier … Guten Tag, Herr Murat. Ich schaue nach …» Manuel wirft einen Blick in ein Buch. «Ja, Ihre Reservation ist in Ordnung. Wann dürfen wir mit Ihrem Eintreffen rechnen?»
Pietro Soldini geht hinüber zu einem Ständer mit Prospekten und nimmt einen heraus.
«Das ist in Ordnung, dann wünsche ich Ihnen viel Spass, auf Wiederhören, Herr Murat.»
Manuel schaut sich kurz in der Halle um, geht dann zu den Toiletten, vergewissert sich, dass sie leer sind, schliesst sich in einer Kabine ein und zieht das Handy aus der Tasche.
«Hier Manuel, hallo Steff. Sie sind unterwegs. Eben hat Murat angerufen. Er wird am Abend hier eintreffen, will aber vorher noch den Rheinfall besuchen und …» Manuel stockt der Atem. Was ist das? Sind da nicht Schritte zu hören? Dazu dieses leise Knirschen von teuren Schuhen …
Er steckt das Handy in die Tasche, entriegelt die Tür seiner wc-Kabine, im gleichen Augenblick geht das Licht aus. Manuel horcht in die Dunkelheit, seine Augen suchen im Schwarz, das ihn umhüllt, einen Anhaltspunkt. Da, drüben bei den Lavabos ist wieder dieses Geräusch von Lederschuhen zu hören. Langsam bewegt sich Manuel vorwärts.
Zu seiner Linken hört er, wie ein Wasserhahn aufgedreht wird, er ballt die Fäuste, springt auf das Geräusch zu und schlägt ins Leere, unsanft wird er von der Seite gepackt und gegen die Wand gestossen. Als er sich benommen aufrappelt, hört er die Türe der Toiletten ins Schloss fallen.
Dann ist er alleine. Erleichtert atmet er aus, steht auf und macht Licht. Er nimmt das Handy aus der Tasche.
«Bist du noch dran? Nein, es war nichts, ein Witzbold hat das Licht im wc gelöscht. Hör zu: Sie sind jetzt in Zürich, mach dich auf den Weg.»
Manuel wäscht sich die Hände und wischt sich den Schweiss von der Stirn.
Freddy steckt eben sein Handy weg, Felix zündet sich eine nächste Zigarette an und Giancarlo leert demonstrativ ein weiteres Mal den Aschenbecher, da betritt Margrittli die Bar Adria.
«Endlich, wir haben schon gedacht …»
«Einen Tee bitte, Giancarlo.»
Der Kellner macht sich an seiner Maschine zu schaffen. Zischend fliesst das dampfende Wasser ins Teeglas.
«Wann und wo?»
«Zwischen vier und fünf. Auf dem Rheinfallfelsen. Wir haben einen sicheren Plan, Freddy meint, du solltest …»
Giancarlo stellt den Tee auf die Theke, wischt mit seinem Lappen über die Maschine und schaut interessiert zu seinen Gästen hinüber. «Na, Margrittli, willst du mir deine Freunde nicht vorstellen?»
Sie schaut den Kellner grimmig an. «Ich glaube, wir sollten uns mal kurz unterhalten, ja?» Dann zerrt sie den erstaunten Giancarlo nach hinten.
«Was ist los mit dir?»
«Entschuldige, ich wollte mich nicht einmischen, aber deine neuen Freunde gefallen mir wirklich nicht!»
«Mir auch nicht.» Margrittli lacht. «Kannst du mir einen Gefallen tun?»
Der Kellner nickt.
Sie drückt Giancarlo den Schlüssel ihres Randenhauses in die Hand.
«Kann ich mich auf dich verlassen?»
Wenig später sitzt sie wieder an der Theke, nippt an ihrem Tee und lässt sich von Freddy den Plan erklären.
«Noch Fragen?»
Sie schüttelt den Kopf.
«Gehen wir!» Felix legt das Geld auf die Theke.
Giancarlo hält Margrittli am Handgelenk fest. «Wenn du jetzt gehst, kannst du nicht mehr zurück.»
Sie lächelt. «Das will ich auch nicht!»