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ОглавлениеDie drei Schwestern
11. September 2019
Der Sturm kümmert sich nicht darum,unter welcher Flagge das Schiff segelt.Walter Rudin
Am Ruder der Yacht „Hanna“ steht ein grossgewachsener Mann im Lichtkegel der untergehenden Sonne. David Burri ist 67 Jahre alt und man kann ihn mit Recht als sportlich bezeichnen. Durch das enganliegende T-Shirt, das er zu verwaschenen Bluejeans trägt, sind die Konturen eines durchtrainierten Oberkörpers zu erahnen. Wenn er keine Rettungsweste tragen würde, könnte man auf dem T-Shirt den Aufdruck „Sport ist Mord“ erkennen. Ein Zeichen für seinen manchmal aufkeimenden Sarkasmus? Ein-, zweimal fährt er sich mit der Hand durch die nassen, grauen und verstrubbelten Haare, als würde er sich vor dem Spiegel für eine Verabredung zurechtmachen.
Aufmerksam beobachten die blau-grauen Augen von David Burri den Himmel und die schnell dahinziehenden Wolken. Ein entferntes Gewitter mit einer Regenwand kündigt sich an. Der Donner gleicht einer herantrabenden Viehherde, die von etwas erschreckt, ausser Rand und Band geraten ist. Die Blitze nimmt David als kleine Feuerschweife wahr. Es beginnt zu regnen. Trotz des Sturms mit einer Stärke von 7-8 Beaufort strahlt er eine beeindruckende Ruhe aus. Die vielen Erfahrungen und kritischen Situationen in den letzten neun Jahren auf See haben ihn zu einem besonnenen Skipper werden lassen. Ein Sturm entsteht selten aus dem Nichts. Es gibt viele Anzeichen für einen drohendes Unwetter, die es zu erkennen gilt. Da das Wetter kleinräumig sehr unterschiedlich sein kann, trifft die Wettervorhersage nicht immer exakt zu.
„Kannst du mal das Ruder übernehmen?“, ruft David laut, um die pfeifenden Geräusche des Windes zu übertönen.
„Muss das sein bei diesem Wetter?“
Jenna Lindberg, die bei diesen Verhältnissen keinen Bock darauf hat, das Ruder zu übernehmen, sitzt gut geschützt neben dem Saloneingang im Mittelcockpit der „Hanna“ und versucht, trotz der schlingernden Bewegungen der gut 13.5 Meter langen Yacht, die Balance zu halten. Die „Hanna“ rauscht mit 8.5 Knoten bei achterlich einfallendem Wind unter der kleinen Sturmfock und zweifach gerefftem Gross-Segel Richtung Valletta. Seit mehr als sieben Jahren ist das Schiff ihre Heimat. Die 16 Jahre jüngere Lebensgefährtin von David verbindet eine tiefe und unantastbare Seelenverwandtschaft. Gleich bei der ersten Begegnung zwischen David und Jenna ist ein unmittelbares Gefühl tiefer Verbundenheit und Zusammengehörigkeit entstanden.
Ein blindes gegenseitiges Vertrauen, ein Kommunizieren ohne viele Worte, ein Verstehen nur mit Blickkontakt und gegenseitiger Respekt prägen die Liebe der beiden unterschiedlichen Menschen.
„Ja, bitte“, ruft David, „es ist sehr wichtig.“
Jenna steht auf und klammert sich am Haltegriff der geschlossenen Luke am Eingang der Hauptkajüte fest. Sie rümpft die Nase. Ihre Stimme ist energisch und ihre Abneigung gegen den Wunsch von David ist deutlich zu spüren.
„Bei diesem Wetter werde ich am Ruder stehend durch und durch nass und die hohen Wellen sorgen dafür, dass sich die Gischt durch den starken Wind über das ganze Schiff verteilt. Ich hasse solche Bedingungen. Was ist denn so wichtig?“
„Kommst du oder kommst du nicht?“
„Wieso gerade jetzt?“
„Weil ich dich darum bitte!“
„Eine wirklich starke Begründung!“
*****
Wie immer sind sie gut vorbereitet. Bereits vor dem Sturm haben sie alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Bei den Sicherheitsvorkehrungen gehen sie niemals Kompromisse ein. Jenna hat alle Seeventile und Luken geschlossen. David kontrolliert noch einmal alles. Das Kartenmaterial des befahrenen Gebietes liegt bereit. Die Koordinaten der ausgewählten Ansteuerungspunkte sind im GPS erfasst. Die notwendigen Seenotsignalmittel liegen bereit. Niemand sollte bei ruppiger See gezwungen sein, unter Deck zu müssen. Alle Dinge, die später benötigt werden, müssen sicher im Cockpit oder an Deck verstaut werden. Da in Extremsituationen die Zubereitung von warmen Mahlzeiten kaum möglich ist, hat David vor dem Sturm genügend Sandwiches und zwei grosse Thermosflaschen mit Tee zubereitet, die sicher in den Stauräumen im Cockpit liegen. Beide tragen eine automatische Rettungsweste und Lifelines. Die Rollenverteilung bei einem Notfall ist besprochen. Die aktuelle Position gemäss GPS an der Steuersäule jederzeit ablesbar. Im Notfall können die genauen Koordinaten übermittelt werden. Der Motor sollte -wenn immer möglich- nicht benutzt werden, da die im Tank vorhandenen Schmutzpartikel im hohen Seegang aufgewirbelt werden und den Kraftstoff-Filter verstopfen können.
*****
„Jenna, ich kann nicht ewig warten“, hört sie die Stimme von David.
Jenna seufzt und übernimmt das Ruder der „Hanna.“
„Es tut mir leid, dass du nass wirst., aber ich brauche einen neuen Dichtungsring für das Schloss der Backkiste“, empfängt David sie mit einem Grinsen im Gesicht.
„Jetzt, bei diesem Wetter? Du willst unter Deck?“
„Es kann nicht warten. Ich brauche 2-3 Minuten!“
„Du Schwindler“, antwortet sie, lächelt und gibt ihm einen Kuss. Sie denkt darüber nach, ob er es ehrlich gemeint und wirklich Mitleid mit ihr hat.
„Du musst wissen, du bist die Liebe und die Inspiration meines Lebens“, erwidert David geheimnisvoll.
„Wie meinst du das?“
„Das wirst du bald erfahren. Sei doch nicht so neugierig“, witzelt David.
Er vergewissert sich, dass Jenna die Sicherheitsleine einhakt, dreht sich um, klickt seine Lifelines aus und steigt durch die Treppe in den Salon der Yacht. Die Eingangsluke lässt er zur Hälfte offen.
Seine Bitte an Jenna das Ruder zu übernehmen ist ein Ablenkungsmanöver. Er will in der hintersten Ecke einer Schublade, gut versteckt unter Betriebsanleitungen, Plänen und einem Fernglas etwas holen, das keine Ähnlichkeit mit einem Dichtungsring hat. Der Gegenstand steckt in einer kleinen, viereckigen Schatulle aus edelstem Holz. Er wird gehalten durch einen Schlitz in der von Samt ausgekleideten Innenverkleidung. Der Ring in der Schatulle ist aus Gold gefertigt. In der Mitte ziert ein edler Diamant das Objekt, rechts und links ergänzen zwei kleinere Steine das Kunstwerk. Er hat den Ring in Horta, ihrer letzten Station vor der Rückkehr nach Valletta, gekauft. Der Ring soll ihr Eheversprechen besiegeln. Aber das ist eine lange Geschichte.
Auch nach sieben Jahren geniesst es Jenna, am Ruder zu stehen. Nur die Nässe durch die Gischt und der Regen sind nicht ihr Ding. Aber trotzdem liebt sie es , mit einem sanften Zug am Steuerrad die Kontrolle über ein Schiff zu haben, das voll beladen gegen 14 Tonnen wiegt. Sie vergisst dabei schnell ihre Abneigung gegen die Unannehmlichkeiten. Am Anfang ihrer Reise hat sie sich noch etwas schwer getan, um bald die Lücke zu den Steuermannskünsten von David zu schliessen.
Selbst im plumpen Ölzeug sieht die 51-Jährige athletisch und attraktiv aus. Das gelbe Halstuch, das sie sich um den Hals gebunden hat, damit weniger Wasser zwischen Hals und Jacke eindringen kann, passt farblich gut zu ihrem rötlich-braunen Haar, das sie halblang trägt. Man muss ein guter Beobachter sein, um zu erkennen, dass sich auch wenige graue Haare eingenistet haben. Ihre Haarpracht versteckt sie unter einer blauen Mickey Mouse Mütze, die sie seinerzeit in Panama gekauft hat. Die Gesichtszüge von Jen, wie sie von David liebevoll genannt wird, werden von zwei wunderbaren, blauen Augen geprägt, die Neugier und Lebensfreude ausstrahlen. Daffy -der Kosename von David- macht ihr oft Komplimente, über die sich Jen freut. Erst kürzlich sagte er bewundernd zu ihr, wie sie es schaffe, immer so gut auszusehen und Kleider auszuwählen, die ihren 168 cm grossen und schlanken Körper so attraktiv betonen.
Der aktivierte Autopilot und die Windfahne halten das Schiff selbständig auf Kurs und nur bei unerwartet hohen Wellen und stark rollender See, wenn die Steuerung zu langsam reagiert, muss Jenna eingreifen und selbst am grossen Steuerrad für die nötige Kurskorrektur sorgen.
*****
Sie verfällt kurz in Gedanken und sagt sich:
„Ich bin mir sicher, dass ich zwei, wenn nicht sogar drei Schutzengel habe.“
Kurz vor dem Auslaufen in Horta nimmt sie die Schutzengel in Anspruch. Horta ist die Hauptstadt der Insel Faial, einer der grösseren Inseln der portugiesischen Inselgruppe der Azoren. Die Insel hat rund 15.000 Einwohner.
Beim Verlassen des „Enrico Café Sport“ in Horta überquert Jenna die Strasse. Abgelenkt durch einen Hund auf der anderen Strassenseite, übersieht sie ein heranbrausendes Auto und schreckt erst in letzter Sekunde zurück. Natürlich glaubt sie nicht an Engel, die eingehüllt in weissen Kleidern und mit Flügeln auf uns Menschen aufpassen. Aber sie ist überzeugt, dass es eine höhere Macht gibt, die in solchen Situationen eine schützende Hand über uns legt. Schicksal, ein siebter Sinn, Humbug? Sie hat eine klare Meinung.
„Alle erleben die Anwesenheit eines Engels auf andere Weise. Als innere Stimme oder als Gänsehaut. Vielleicht als leichten Hauch auf der Haut. Egal, ob wir ihn rufen oder er alleine zu uns kommt: Auf unseren Schutzengel können wir uns verlassen“, hat sie David bereits vor Jahren erklärt.
*****
David und Jenna haben vor drei Wochen in Horta angelegt, um nachher die rund 1500 Seemeilen nach Malta in Angriff zu nehmen. Zwei Drittel dieser Etappe haben sie hinter sich und in sechs oder sieben Tagen treffen sie in Valletta, der Hauptstadt von Malta, ein. Dort wollen sie den Winter verbringen und entscheiden, ob sie das Boot nach sieben gemeinsamen Jahren auf den Weltmeeren verkaufen und sich nach einem ständigen Wohndomizil umsehen wollen.
Jenna wird aus ihren Gedanken gerissen, weil sie ein ungewöhnliches Geräusch wahrnimmt. Es klingt wie das Donnern bei einem Gewitter und das Rauschen eines riesigen Wasserfalles. Sie erblickt achterlich drei riesige 12-15 Meter hohe Wellen, die das Schiff in Kürze treffen werden. Die Monster haben eine ungewöhnliche, charakteristische Form. Der steile, ausserordentlich hohe Wellenkamm mit einer scharfen Kante an der Spitze folgt dabei einem tiefen und runden Wellental. Jenna, die solche Wellen noch nie erlebt und nur aus Erklärungen kennt, ist beeindruckt vom Ausmass des Wellentals, das aussieht wie ein riesiges Loch im Meer.
„David, riesige Wellen, mein Gott…“, schreit sie.
Die „Drei Schwestern“ genannten Monsterwellen kommen der „Hanna“ immer näher. Diese Wellen können in Küstenzonen mit stark schwankenden Meerestiefen und unterschiedlichen Strömungsverhältnissen entstehen. Sie sind nicht vorhersagbar und deshalb unberechenbar. Weitere Faktoren wie Sandbänke und lokale Strömungen sind dafür verantwortlich, dass die Wellen ihre Richtung und Geschwindigkeit ändern.
Eine brodelnde, unheimliche und donnernde Katastrophe bricht los. Tosende Wassermassen überfluten das Schiff. Was nicht durch die Wand des halb-offenen Saloneinganges aufgehalten und ins Cockpit zurück katapultiert wird, fliesst ins Innere der Yacht. Das ganze Boot erzittert, fällt ins riesige Wellental, läuft aus dem Ruder, stellt sich quer und krängt durch die Wucht der Wassermassen stark. Der Mast der „Hanna“ berührt kurz die Wasseroberfläche, bevor die Yacht sich wieder aufrichtet. Satan mit dem Fegefeuer der Hölle besucht das Schiff.
Auch David, der gerade in der Schublade nach der versteckten Schatulle tastet, vernimmt die unbekannten Geräusche. Er erhebt sich, um nachzusehen, was die Ursache für das ungewöhnliche Getöse ist. Er hat sich noch nicht ganz aufgerichtet, als die erste Welle die „Hanna“ mit unglaublicher Wucht trifft. David wird durch die Kajüte geschleudert und schlägt mit dem Kopf hart auf der Kante des Kartentisches auf. Er greift sich an den Kopf. Seine Hand ist voller Blut. David hört, dass die automatische Bilgen Pumpe sich einschaltet und ein saugendes Geräusch von sich gibt. Das eingedrungene Wasser wird aus dem Inneren der Yacht gepumpt. Bevor er einen weiteren Gedanken fassen kann, folgt die zweite Welle, die „Hanna“ legt sich erneut quer und David kann nicht verhindern, dass er auch diesmal durch den Innenraum katapultiert wird. David knallt an die Abgrenzung der Küche und spürt einen unerträglichen Schmerz. Es gelingt ihm kaum noch ein- und auszuatmen. Als er seine Hand auf die betroffene Stelle legt, zuckt er zusammen und stöhnt.
„Verdammt“, denkt er, bevor die dritte Welle über das Schiff rollt und David in die Luft geschleudert wird. Nach einem heftigen Aufprall, der ihm fast das Bewusstsein raubt, schreit er mit letzter Kraft:
„Jenna, wo bist du?“
Er flüstert noch ein kaum hörbares
„Ist alles in Ordnung?“, bevor er endgültig die Orientierung verliert und alles Dunkel um ihn wird.
David hört den langanhaltenden und angsterfüllten Schrei von Jenna nicht mehr. Die Wucht der unglaublichen Wassermassen hebt sie über die Reling und Jenna fällt in die aufgewühlte See. Benommen schaukelt sie im Wasser, die automatische Rettungsweste hat sich zischend aufgeblasen. Nur die straff gespannten Lifelines verhindern, dass sie weiter von der „Hanna“ abdriftet.
*****
Beherrschen wir Menschen die Natur oder zeigt die Natur den Menschen ihre Grenzen auf?
Eine Frage stellt sich:
Sind die Schutzengel vor Ort?
Treffen sie bald ein?
Haben sie keine Lust mehr?