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Abschied mit Skandal

7. März 2010

Freiheit bedeutet, dass man nichtalles so machen muss wie andere Menschen. Astrid Lindgren

David steht vor dem Spiegel des luxuriös eingerichteten Badezimmers. Lange hat er das warme Wasser unter der Dusche genossen. Er blickt in das Gesicht eines 58-jährigen Mannes. Braun- gebrannt und glattrasiert. Seine grauen und kaum zu bändigen Haare bereiten ihm wie üblich Sorgen. Täglich spricht er mit ihnen und droht mit der radikalen Rasur auf 2 mm, wenn sie sich nicht seinen Vorstellungen anpassen. Das Zeremoniell zeigt absolut keine Wirkung. Er sagt sich, dass diese verfluchten Haare entweder taub sind oder kein Schweizer Mundart Deutsch verstehen. Er hat es deshalb auch schon auf Hochdeutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch versucht. Alles ohne Erfolg!

Er spürt Stolz, als sein Blick nach unten gleitet und er seinen durchtrainierten Körper sieht. Nachdenklich sagt er zu sich selbst:

„Heute ist dein letzter Tag im alten Leben, ab morgen beginnt dein neues. Freue dich, es ist das, was du so lange ersehnt hast. Keine nervigen Sitzungen mit Klienten, kein Hasten von Termin zu Termin, kein blauer Anzug, keine teuren Hemden mit Seidenkrawatte und keine für Normalsterbliche unerschwingliche, englische und nach Mass gefertigte Lederschuhe. Dagegen Jeans, T-Shirt, bunte Unterwäsche und bequeme Sneakers.“

Vor fünf Jahren hat er sich entschlossen, seinen Traum einer Weltumsegelung umzusetzen. Vor vier Jahren begannen die Vorbereitungen.

Seit 20 Jahren ist er mit Astrid Lindberg verheiratet, nachdem sie vorher eine zwanglose Freundschaft verband. Sie haben sich nach dem Studium kennengelernt. Die Beziehung ist kinderlos geblieben. Beide arbeiten als bekannte Anwälte in der gleichen, renommierten Kanzlei an bester Lage in Zürich. Die 50-jährige Astrid ist eine attraktive Frau. Die langen, blonden Haare fallen ihr bis auf die Schultern. Die sanften Gesichtszüge passen zu ihrer schlanken Statur. Sie gleicht einer schwedischen Frau, die in einem Werbeinserat eines Reisebüros für Ferien in Schweden Modell steht.

„In 20 Minuten müssen wir das Haus verlassen, damit wir rechtzeitig im Büro sind. Es ist unsere Abschiedsfeier und es ist unanständig, wenn wir zu spät kommen.“

Die Stimme von Astrid tönt angespannt, wie so oft in letzter Zeit. David antwortet gelassen:

„Ich bin wie immer pünktlich, also kein Problem.“

Ein leichter Unterton der Gereiztheit ist nicht zu überhören.

*****

„In den letzten zwei Jahren haben wir uns auseinandergelebt. Nichts ist mehr wie früher. Seit ich den Berger-Prozess von Astrid übernommen habe, weil man ihr einen erfolgreichen Ausgang nicht zugetraut hat, ist sie gekränkt und gibt mir die Schuld daran.“

Obwohl David nicht einen Freispruch bei der Verteidigung von Hans Berger erwirken kann, gelingt es ihm, die auf Indizien beruhende Anklage der Staatsanwaltschaft zu zerpflücken, so dass der zuständige Richter ein wesentlich milderes Urteil als von der Anklageseite beantragt, ausspricht.

*****

„Noch 15 Minuten“, tönt es vom unteren Geschoss.

David ist angezogen und bindet sich die Krawatte. Er will sein neues Leben ab morgen konsequent umsetzen, aber heute ist noch der teure Anzug mit passendem Hemd Pflicht.

„Ich bin schon fast fertig“, antwortet David genervt.

„Das sagst du immer. Aber nie trifft es ein. In der Kanzlei bist du immer pünktlich. Du hast Petra.“

„Was soll das jetzt bedeuten?

„Das fragst du mich?“, regt sich Astrid auf.

„Ich bitte dich, du unterstellst mir etwas, das nicht wahr ist.“

„Aber alle Spatzen pfeifen es vom Dach. Du solltest wenigstens ehrlich sein.“

Sein Handy klingelt, das er vorsorglich mit ins Badezimmer genommen hat. Eine Nummer leuchtet auf. Er kennt sie auswendig. Es ist die Nummer der Werft, bei der Astrid und er 2007 das Boot in Auftrag gegeben haben. „Astrid“ soll die Traumjacht als Namen tragen. In blauer Farbe wird der elegant wirkende Schriftzug das Heck der Yacht zieren. Er nimmt den Anruf trotz heftiger Proteste von Astrid entgegen.

„Hey, hey David, wie geht es dir?, fragt Jens Berglund. Er ist der Chef des 4-köpfigen Teams, das die Yachten einer renommierten schwedischen Werft verkauft.

„Wenn ich dich höre, geht es mir immer gut“, entgegnet ein vergnügter David.

„Ich brauche von dir das definitive okay wegen der Einlösung des Bootes. Bleibt es dabei, dass du unter Schweizer Flagge segelst?“

„Ja klar, ich werde doch die Schweiz in die Welt hinaustragen.“

“Alles klar, dann leiten wir alle Formalitäten ein.“

„Super, der Übergabetermin im September steht noch?“

„Du kannst dich auf uns verlassen. Du hast eine neue Yacht bei uns bestellt, die dich mit aller Ausrüstung rund 600‘000 Euro kosten wird. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, deine „Astrid“ hat absolute Priorität für uns.“

„Du erinnerst dich aber schon, wir haben 580‘000 und nicht rund 600‘000 abgemacht“, präzisiert David.

Astrid steht vor der Badezimmertür und zeigt mit bösem Blick und nervös auf ihre teure IWC-Uhr.

„Ja, ich komme gleich, sobald ich fertig bin“, gibt David gestresst zurück. Er nimmt das Handy ans Ohr und fragt:

„Jens bist du noch dran?“

Aber Jens hat bereits aufgelegt und die Verbindung ist unterbrochen.

„Verdammt, kommst du nun endlich?“

„Astrid, es reicht jetzt. Ich treffe meine Entscheidungen überlegt und noch immer selber. Wenn ich telefonieren will, dann telefoniere ich, weil es für mich wichtig ist. Wann kapierst du das endlich?“

„Ändert es etwas? Nein! Mach doch, was du willst. Das tust du immer. Wieso lebe ich noch bei Dir?“

*****

Astrid und David sitzen zusammen im Auto. Ein Maserati Quattroporte 4.7 V8 S Automat, den sich David vor zwei Jahren geleistet hat. Astrid war dagegen, weil sie keinen Wert auf teure Autos legt. Trotz aller Proteste von Astrid kauft David den schnellen Boliden mit 450 PS.

„Du siehst hübsch aus in deinem neuen Kleid.“

Ein Kompliment, das David besser nicht gemacht hätte. Die bissige Antwort von Astrid folgt umgehend.

„Ich habe dieses Kleid bereits vor einem Jahr gekauft und es mindestens schon viermal getragen. Aber das hast du natürlich nicht bemerkt. Seit du nur noch an dein verdammtes Schiff denkst, bin ich dir gleichgültig.“

„Aber Astrid, ich…“

„Halt einfach den Mund und lass mich mit deinem Wiedergutmachen-Gesülze in Ruhe.“

„Du hast aber schlechte Laune, Astrid.“

„Da hast du wohl recht. Ich bin nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch Lust habe auf das blöde Boot mitzukommen!“

„Ach, Astrid. Wir haben uns so gefreut, dieses Projekt zusammen anzupacken.“

David schluckt seinen Ärger und seine aufkommenden Emotionen herunter. Schweigend sitzen sie im Auto als David seinen Maserati auf den firmeneigenen Parkplatz der renommierten Kanzlei lenkt und auf dem noch für ihn reservierten Parkfeld abstellt.

*****

Viele Leute -zu viele für David-, lautes Gequatsche, fragende und auch neidische Blicke, als Astrid und David das grosse Sitzungszimmer der Kanzlei betreten. Astrid liebt solche Anlässe. David bevorzugt es eher, sich im kleinen Rahmen zu treffen, wo man sich auch wirklich unterhalten und auf die Gäste eingehen kann. Im hinteren Bereich warten verschiedene Köstlichkeiten auf die geladenen Gäste. Wasserperlen tropfen langsam entlang der gekühlten Eiskübel. Auf den blauen Tischdecken bilden sich Wasserflecken. Blau ist die Farbe des Abends und ist dem kristallblauen Wasser der Karibik gewidmet. Die grünen Servietten liegen bereit und symbolisieren die Palmen, die am grauen Sandstrand stehen und schwankend dem Wind trotzen. Der Sandstrand wird durch die hellgrauen Pappteller dargestellt. Petra Eckert, die gutaussehende, 30-jährige Assistentin von David, hat sich das alles ausgedacht. Sie arbeitet seit gut einem Jahr für David. Vom ersten Tag an macht es den Anschein, dass sie in David verliebt ist und sie macht alles für ihn. Es beruht nicht auf Gegenseitigkeit. David schätzt Petra zwar als Mitarbeiterin, findet sie sehr sympathisch, attraktiv und freut sich über ihr natürliches und zwanglosen Auftreten, das auch bei den Klienten Anklang findet.

Nun folgen die üblichen Abschiedsreden.

„Liebe Astrid, lieber David, wir konnten gemeinsam eine schöne und erfolgreiche Zeit verbringen… blablabla…..“

David lächelt und tut so, als ob er gespannt den Worten folgt. Aber in Wirklichkeit ist er in Gedanken versunken. Er hört das Rauschen von Wasser, kann die Spritzer förmlich spüren, wenn der Bug des Bootes sanft ins Wellental versinkt. Er hört die Seemöwen, die das Schiff kreischend begleiten. Die Sonne sinkt am Horizont langsam ins Meer. Er schreckt plötzlich auf, ist zurück im heute und jetzt und versteht nur noch die Worte

"Auf Wiedersehen, Goodbye, Adieu, zum Abschied alles Gute. Geht euren Weg voll Zuversicht und mit gutem Mut."

David bedankt sich im Namen von Astrid und ihm für die netten Ansprachen und wendet sich Petra zu, hält sie an ihren beiden Händen und küsst sie auf die Wangen.

„Petra, ich danke dir herzlich für den tollen Einsatz, deine hervorragenden Leistungen. Mit deiner fröhlichen Art hast du mir an vielen Tagen geholfen, den grauen Alltag zu vergessen. Und ganz wichtig, du machst den besten Kaffee der Schweiz.“

Allgemeines Gelächter.

Astrid, die seit Wochen von Eifersucht geplagt wird, beobachtet die Szene und presst die Lippen zusammen. Sie ist wie vom Donner gerührt. Sie taxiert Petra wie ein Ausstellungsstück. Schon lange macht in der Kanzlei das Gerücht die Runde, dass David und Petra einen Umgang pflegen, der über das rein geschäftliche hinausgeht. Als David in typischer Schweizer Tradition Petra drei Küsse auf die Wangen drückt, starrt Astrid gekränkt in die Visage von Petra. Ein eigentümlicher Glanz, beinahe eine Art Triumph liegt auf dem Gesicht dieses Miststücks. Dieses Bild brennt sich im Kopf von Astrid ein. Angespornt durch ihren Frust, gönnt sie sich mehrere Drinks.

David verabschiedet sich von seinen Kolleginnen und Kollegen einzeln. Er führt Gespräche, erzählt von den Vorzügen der neuen Yacht und schildert, wie er sich das Leben an Bord vorstellt. Er sieht zwei Personen, die den Raum betreten. Er erkennt Jenna Lindberg, die 42-jährige, jüngere Schwester von Astrid und ihren Mann Robert Taylor, den er mindestens zehn Jahre älter als Jenna schätzt.

*****

David hat Jenna und Robert vor drei Jahren an ihrer Hochzeit kennengelernt. Zusammen mit Astrid ist er nach London geflogen, um an der pompösen Feier teilzunehmen. Robert arbeitet als erfolgreicher Investmentbanker bei einer Bank, an deren Namen David sich nicht erinnern kann. David hält von Robert gar nichts und hat das gegenüber Astrid schon vor drei Jahren nach der Hochzeitsfeier unverblümt kundgetan. Damals sagte er zu Astrid:

„Dieser Taylor ist für mich das Paradebeispiel für einen erfolgsverwöhnten Banker. Arrogant, abgehoben, eingebildet, strotzt nur so vor Selbstüberschätzung, weiss alles besser, hört nicht zu und akzeptiert keine anderen Meinungen. Kurz gesagt: Er ist ein Arschloch und ich will nichts mit ihm zu tun haben.“

„Er heisst Robert. Er ist dein Schwager und der Mann meiner Schwester“, wendet Astrid ein.

„Gibt es eine Vorschrift, dass man seinen Schwager mögen muss?“

„David, bitte!“, erwidert Astrid genervt.

David Burri -als erfahrener Anwalt- ist Robert den ganzen Abend aus dem Weg gegangen. Er hätte sich sonst von Robert provozieren lassen und unangemessen reagiert. Das will er vermeiden.

David unterhält sich an der Hochzeitsfeier in einer ruhigen Ecke des Festsaales lange mit Jenna. Er hat sie vorher nicht näher gekannt, weil Jenna als bekannte Fotografin arbeitet und ständig auf der ganzen Welt unterwegs ist. Jenna nimmt unter den berühmten Fotografen der Gegenwart einen der vordersten Plätze ein. Der Grund dafür liegt vor allem in ihrer intellektuellen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Rollenbildern, Körperlichkeit und Sexualität. Auf ihren inszenierten Bildern setzt sie sich mit vorherrschenden Rollenbildern auseinander, was ihrer Arbeit immer auch einen aktuellen Bezug gibt. Aber auch für ihre Portraits ist sie bekannt. Alles was Rang und Namen hat, wurde von ihr abgelichtet. Zu den berühmtesten Fotos von Jenna zählen noch heute ihre Aufnahmen, die sie 2005 während einer Tournee von Mark Knopfler, dem englischen Gitarristen, Sänger und Songwriter, machte. Dabei war sie mittendrin im Geschehen, was ihre Bilder so besonders macht. Ihren Ruf als begnadete Fotografin stärkte sie noch durch ihre berühmten Bilder der Obama Familie. Während Tagen hat sie von Barack, Michelle und den beiden Töchtern Malia und Natasha unzählige Fotos geschossen. Ihre Bilder zeigen ein besonderes Gefühl der Nähe und Fürsorge für die Menschen, die sie fotografiert. Ihre Bilder sind einfach, aber stark in einer Gegenüberstellung. Durch ihren einzigartigen Ansatz erreicht sie erzählerische Aussagen in einem einzigen Bild.

Er ist von der Persönlichkeit, die Jenna ausstrahlt, fasziniert. Sie plaudert unbeschwert, fröhlich und hat immer ein verschmitztes Lächeln um die Mundwinkel. Aber das Besondere sind ihre faszinierenden Augen mit einem sanften und geheimnisvollen Blick.

„Kommst du?“, fordert Astrid David auf, „Robert wartet auf dich.“

„Es war nett, sich mit dir zu unterhalten“, sagt David zu Jenna. „Ich gebe das Kompliment gerne zurück.“ Sie erhebt sich, nimmt David spontan in die Arme und gibt ihm einen Kuss auf die rechte und linke Wange.

„Man sieht sich, irgendwann und irgendwo“, ergänzt Jenna.

*****

David wird durch die Stimme von Robert gestört und denkt, warum jetzt gerade und warum ich?

„Hi, David. Grossartig vor so einem bekannten Rechtsverdreher zu stehen. Geld hast du genug, wie ich höre. Ich habe für dich ein paar todsichere Insidertyps. Du wirst in Kürze eine Menge Kohle machen.“

David setzt zu einer Antwort an, aber Robert ist nicht aufzuhalten.

„Vergiss die üblichen Anlagestrategien. Was ich dir empfehlen werde, wird dich noch reicher machen, als du schon bist.“

Davids Schläfen schwellen an, sein Blut pocht und er spürt, dass er sich nicht mehr zurückhalten kann. Astrid schaut ihn besorgt an. Aber David blickt Robert ruhig und gelassen an, taxiert ihn, tritt nah an ihn heran und flüstert:

„Ich kenne dich nicht näher und ich will es auch nicht versuchen., Schwager. Um es noch deutlicher zu sagen, lass mich in Ruhe. Ich kenne genug solche Typen wie dich. Du gehst mir mit deinem Getue auf den Geist!“

Robert reagiert sofort und schiesst scharf zurück:

„Wow, bin ich so schlimm? Ich kann dich nicht zu deinem Glück zwingen. Du wirst vielleicht deine Meinung noch ändern.“

“Lass es gut sein“ und David wendet sich ab.

Für einen kurzen Augenblick verändern sich die Gesichtszüge von Robert und ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht.

Astrid versucht Robert zu beschwichtigen und eilt dann David nach. Sie zischt:

„Du bist unmöglich.“

„Nein, ich bin ehrlich. Ich fahre zurück ins Hotel. Kommst du mit oder bleibst du noch?“

Sie bleibt. Um zwei Uhr morgens betritt sie nach einer 20minütigen Fahrt mit dem Taxi schwankend das Hotelzimmer. David ist noch wach. Sie geht ins Badezimmer. David hört die Dusche. Nach fünf Minuten schlüpft sie nur mit einem Slip bekleidet ins Bett und schmiegt sich eng an David.

„Ich sehne mich so sehr nach dir.“

„Ich aber nicht nach dir. Besoffene Weiber stossen mich ab.“

„Dann lassen wir es“, faucht Astrid zurück.

Am nächsten Morgen nehmen die beiden das gemeinsame Frühstück schweigend ein. Astrid macht ihrem Mann, der in Ruhe die Zeitung lesen will, nach dem Frühstück Vorwürfe wegen seines Verhaltens gegenüber Robert. Er wiederholt, was er von Robert hält. Verstimmt und nachdenklich kehren sie von London zurück nach Wollerau, wo sie in einer herrschaftlichen Villa mit direktem Seeanstoss und eigenem kleinen Hafen mit Anlegestelle wohnen. An diese Szenen vor drei Jahren erinnert sich David, als Robert und Jenna den Raum betreten.

„Hast du sie eingeladen?“, fragt er Astrid.

„Ja klar, es ist meine Schwester mit ihrem Mann. Ich habe sie beide seit der Hochzeit vor drei Jahren nicht mehr gesehen.“

„Du weisst, was ich von Herr Taylor halte? Jenna sehe ich gerne wieder, aber die Fehlbesetzung Robert?“

“Sie bleiben ein paar Tage bei uns und du kannst Robert -während ich mit Jenna in Stockholm bin- besser kennenlernen und ich werde mich um meine kleine Schwester kümmern. Nach dem unerwarteten Tod unserer Mutter Hanna gibt es auch noch einige Dinge zu klären.“

“Wieso erfahre ich nichts? Du kannst doch nicht einfach Leute zu uns einladen, ohne mich zu informieren.“

„Du hast nie Zeit für mich. Ich hatte keine Gelegenheit, dich zu fragen“, giftelt Astrid.

Aber es ist schon zu spät. Der Ungeliebte ist im Anmarsch. Robert kommt auf David zu.

„Hallo, alter Knabe, wie geht es dir?“

„Danke der Nachfrage. Es geht mir ausgezeichnet. Und dir?“

Dummes blabla-Gequatsche. Ich muss da durch, geht David durch den Kopf.

„Ich fühle mich ausgezeichnet. Ein paar Kunden sind reich durch mich geworden. Erst gestern hat mir ein Klient gesagt, dass er meine Fähigkeiten ausserordentlich schätzt. Mir würde es nicht gut gehen, wenn ich an dich denke. Mein jetziges Leben mit allem Luxus gegen eine kleine, feuchte Kajüte tauschen? Meine neun Zimmer und drei Badezimmer sind mir schon lieber. Schwimmen kann ich auch in meinem Indoor-Pool und die Sonne geniesse ich im Solarium. Weisst du, was der Nachteil ist? Im Pool hat es nicht so viel Müll wie im Meer.“

„Ja, so ist das im Leben, jeder hat andere Vorstellungen. Gerade dein Leben ist mir zu langweilig. Zu öde. Was ich will und suche, ist die persönliche Freiheit, jederzeit das zu machen, was ich will.“

„Eine interessante Philosophie, die genau zu den Ansichten von Jenna passt.

Mit einem Lächeln unterbricht Jenna das Gespräch und sagt zu Robert:

„Langweilst du meinen Schwager?“

„Nein, nein, von Langeweile kann keine Rede sein. Wir haben unsere Diskussion soeben beendet“, sagt David.

„Wie geht es dir, Jenna?“

Robert gibt anstelle von Jenna Antwort:

„Sie wird dich gleich mit ihrer heilen Welt bekanntmachen und versuchen, dir ihre Weltanschauung näher zu bringen. Mein Ratschlag an dich; nicht hinhören. Du könntest sonst überzeugt werden.“

*****

Robert wendet sich ab und sucht sein nächstes Opfer. David schaut Jenna lange in die Augen und wiederholt seine Frage, wie es ihr geht. Er hat mitbekommen, dass Astrid und Jenna eine unvergessliche Jugend bei ihrer alleinerziehenden Mutter Hanna auf der äussersten Schäreninsel Sandön mit ihrem kleinen und gemütlichen Ort Sandhamn erlebt haben. Bereits auf der Fahrt nach Sandhamn fühlt man sich wie in den Ferien. Angekommen auf der Insel warten dann Cafés, Restaurants, wunderschöne Sandstrände und Badeplätze. Stockholm liegt nur wenige Kilometer entfernt und dennoch fühlt man sich wie in einer fernen Welt. Einer Welt, in der es keinen Stress gibt. Deswegen sollte man die Zeit in Sandhamn so lange wie nur möglich hinauszögern. David hat Hanna bei einem zweiwöchigen Besuch vor fünf Jahren näher kennengelernt. Ausser an seiner eigenen Hochzeit mit Astrid und an derjenigen von Jenna und Robert hat er nur einmal in zwanzig Jahren Zeit gefunden, sich mit seiner Schwiegermutter zu unterhalten. Darauf ist er nicht stolz, denn Hanna ist eine ganz besondere Frau, die ihr Leben aufopfernd ihren Töchtern gewidmet hat und die den frühen Unfalltod ihres Ehemannes Lars zu verkraften hatte. Hanna ist vor einem Monat nach einer schweren Krankheit verstorben. Sie hat niemals mit ihren Töchtern über ihre Krankheit gesprochen und ist allein, aber zufrieden mit sich und ihrem Leben, friedlich eingeschlafen.

Jenna und David setzen sich auf ein bequemes Sofa und sie beginnt zögernd:

„Ich weiss nicht, wieso ich dir alles erzähle. Ich kenne dich kaum. Aber mein Bauch sagt mir, dass es bei dir gut aufgehoben ist. Bei dir kann ich mich selber sein. Du verstehst mich. Es ist so schön, dass ich dich kenne. Du bist mein Lieblingsmensch!“

David bleibt vorerst stumm. Er greift nach beiden Händen von Jenna, blickt sie an, lächelt.

„Danke, Jenna. Deine Worte bedeuten wir sehr viel. Der Tod eurer Mutter tut mir sehr leid. Sie war eine besondere Frau.“

„Ja, das war sie. Du musst wissen, ihr Tod hat mich aufgewühlt und sehr traurig gemacht. Ich habe über Vieles nachgedacht.

„Das verstehe ich.“

„Zudem sehe ich ein, dass ich mich nach den drei Jahren, mit denen ich mit Robert verheiratet bin, fühle wie jemand, dem man die Flügel abgerissen hat. Eine Welt bricht für mich zusammen. Ich hole mir jetzt Stück für Stück meine Freiheit zurück. Ich werde mich wieder voll in die Arbeit stürzen.“

„Das sind doch bewundernswerte Neuigkeiten. Als meine Eltern vor sieben und acht Jahren verstorben sind, bin ich auch in ein tiefes Loch gefallen. Ich finde es toll, dass du wieder arbeiten willst. Als Fotografin?“

„Ja, das habe ich vor.“

„Was sind die Gründe dafür?“

„Ich glaube, das Gefühl der persönlichen Freiheit. Wie soll ich es am besten ausdrücken? Ich denke, es ist die Überzeugung, keinen inneren und äusseren Zwängen folgen zu müssen. Verstehst du das?“

„Ja, sicher. Aber ist das nicht Wunschdenken? Ist das möglich?“

„Davon bin ich überzeugt. Aber wichtig scheint mir, dass man zwischen der Freiheit als -lass mich kurz überlegen- einzelnes Individuum, als einzelner Mensch oder im Zusammenhang mit der Freiheit in der globalen Gesellschaft unterscheidet.“

„Wo siehst du den Unterschied?“, fragt David nach.

„Du stellst genau die richtigen Fragen. Ich würde es so umschreiben, dass Freiheit die Fähigkeit bedeutet, aus eigenem Willen Entscheidungen zu treffen oder die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Alternativen auswählen zu können.“

„Freiheit bedeutet also, über sich selbst bestimmen zu können. Dazu gehören Meinungsfreiheit, Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Bildungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Vertragsfreiheit, …“

„Ja, so sehe ich das. Natürlich bedeutet das noch lange nicht, dass wir alle gleich frei sind.“

„Verstehe ich das richtig? Frei ist, wer seine Freiheiten auch nutzt?“

„Grundsätzlich bedeutet Freiheit für mich ein Nein zu Zwängen und ein Ja zu Möglichkeiten.“

David ist in Gedanken versunken. Er runzelt die Stirn und überlegt. Mit der Zunge drückt er die Oberlippe nach oben, um sie nachher wieder fallen zu lassen. Er wendet sich Jenna zu:

„Sind wir nicht alle in einem goldenen Käfig gefangen? Wir arbeiten zu viel, sind durch äussere Gegebenheiten eingeschränkt, unterliegen gesellschaft-lichen Normen, leben mitten in Denkmustern und Vorurteilen.“

„Da gebe ich dir recht. Die Selbstbestimmung beginnt erst, wenn ich die Möglichkeiten zum freien Handeln auch ausnutze.“

„Aber das ist nicht immer einfach“, erwidert David.

„In dem Moment, wo wir unsere Freiheiten nutzen und Ja zu etwas sagen, gehen wir Risiken ein. Wie sagen Ja zu Beziehungen, zu Reisen oder äussern eine kritische Meinung und wir wissen, dass die Konsequenzen daraus schmerzhaft sein können. Zur Freiheit gehört es eben auch, Risiken einzugehen und alle Konsequenzen daraus selbst zu tragen.“

„Ich denke, genau hier unterscheiden wir Menschen uns. Eine Gruppe hat diesen starken Freiheitsdrang und ist bereit, dafür die Risiken einzugehen. Die andere Gruppe schätzt Stabilität und Sicherheit weitaus höher, weshalb auf Freiheiten verzichtet wird. Das eigene Wohlbefinden ist je nach diesen Grundwerten auf der einen oder anderen Seite am höchsten.“

Es entsteht eine kurze Pause. Jenna schliesst die Augen. Danach blickt sie David direkt in seine Augen und sagt:

„Jetzt bist du dran! Als baldiger Skipper und Weltum-segler hast du dir sicher auch Gedanken zu solchen Fragen gemacht.“

„Ja, klar und nicht wenige. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es bei mir wirklich die angestrebten Werte sind. Ich habe auch Zweifel, ob ich überhaupt das Recht dazu habe, ein freies Leben zu führen.“

„Wie meinst du das?“, fragt Jenna nach.

„Ich habe mich für Astrid entschieden. Ich bin eine Verpflichtung eingegangen und damit steht mir diese Entscheidung nicht mehr offen. Auch wenn wir kinderlos geblieben sind. Du kannst mich altmodisch nennen, aber eigentlich habe ich keine freie Wahl mehr, denn meine Priorität sollte bei dem liegen, zu dem ich mich verpflichtet habe.“

„Aber Astrid begleitet dich doch. Sie hat sich für den gleichen Weg entschieden.“

„Schon. Astrid wird mich zwar begleiten, damit ich meinen Freigeist ausleben kann. Dafür bin ich ihr sehr dankbar und freue mich darauf. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es das ist, was sie wirklich möchte. Wir sind alle irgendwann erwachsen geworden und je länger wir an Bord sind, desto unfreier werden wir – es hilft alles nichts.“

„Der Weg zur Freiheit ist lang ….“, kann Jenna ihre Antwort noch beginnen.

*****

Ausgerechnet jetzt erscheint Petra. Mit einem gewinnenden Lächeln stellt sie sich vor das Sofa und fragt:

“Entschuldigung, darf ich kurz stören? David, kann ich dich noch ein letztes Mal etwas fragen und dir ein Dokument in deinem Büro zeigen?“

„Entschuldigst du mich bitte für einen kurzen Moment?“, fragt David und sieht Jenna an. Sie nickt.

*****

„Was ist so dringend, dass es nicht Peter am Montag regeln kann?“

„Warte ab, du wirst es gleich wissen.“

Er ist verärgert, denkt aber, dass es etwas sehr Wichtiges sein muss. Wieso nicht? Sie gehen gemeinsam in sein Büro. Petra schaut David schweigend an und geht dann aufreizend auf ihn zu. Sie beginnt die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Unter der Bluse trägt sie nichts. Sie nimmt die Hand von David und führt sie an eine ihrer Brüste. David ist völlig überrumpelt.

Es klopft an der Tür. Astrid tritt ein. Ungläubig nimmt sie die Szene wahr und schreit:

„Du elender Mistkerl!“ Astrid stürmt schluchzend aus dem Büro.

David ist fassungslos, kann nicht begreifen, was hier abläuft. Er starrt die lächelnde Petra an und stammelt:

„Was soll das?“

„Wollen wir weitermachen? Du willst es doch“, fragt sie arglistig.

Als David keine Antwort gibt, nestelt sie am Gurt von David und öffnet den Reissverschluss der Hose. Sie zieht sein Hemd aus der Hose. Petra zieht sich zurück und mit einem verzerrten Gesicht voller Hass und Zorn sagt sie ganz ruhig:

„Ich werde dich vernichten, bis nichts mehr von dir übrig bleibt. Du sollst büssen, für das, was du angerichtet hast.“

David spürt trotz der äusserlichen Ruhe von Petra die tiefe Verachtung und die Feindseligkeit in der Stimme. Sie dreht sich um, beginnt zu schreien, zerreisst ihre Bluse, rennt aus dem Büro und ruft verzweifelt:

„Hör auf, hör auf, nicht schon wieder.“

Was ist hier los?

David schwankt zitternd mit offener Hose zur Türe hinaus und entsetzte Gesichter starren ihn an.

Er schaut hilflos in den Raum.

Astrid, Jenna und Robert verlassen den Raum mit eiligen Schritten. Das Schluchzen von Astrid zerreisst fast sein Herz.

David Burri versteht gar nichts. Er kann sich keinen Reim auf das Verhalten von Petra machen.

Geige am Ende des Seins

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