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Was habe ich getan?

März 2010

Mit einem kurzen Schwanzwedeln kann ein Hund mehr Gefühle ausdrücken als mancher Mensch mit stundenlangem Gerede. Louis Armstrong

Nach einer Nacht ohne Schlaf steht David um 06.00 Uhr auf. Er schlägt die Bettdecke zurück, schwingt die Beine über die Bettkante, verharrt einen Moment und geht ins Badezimmer, das direkt mit dem Schlafzimmer verbunden ist. Die ganze Nacht hat er überlegt, was sich am Vortag abgespielt hat. Was habe ich Petra angetan? Er weiss es nicht. Sein Handy, das im Schlafzimmer liegt, klingelt. Er beeilt sich und sieht auf dem Display die Nummer von Astrid.

„Wo ist sie wohl?“, fragt er sich.

Bevor er die Taste „Annehmen“ drücken kann, hört das Klingeln auf. Der Anruf ist unterbrochen. David ruft sofort zurück. Eine monotone Computerstimme gibt eine Antwort.

„Der gewünschte Teilnehmer ist leider nicht erreichbar, hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Pieps-Ton.“

David übermittelt eine Nachricht:

„Astrid, bitte melde dich wieder. Ich werde es auch versuchen. Wir müssen reden.“

Er entschliesst sich spontan zurück ins Bett zu gehen und verstellt den Kopfteil des Bettes in eine fast senkrechte Position. Er stellt fest, dass sich eine Vielzahl von Nachrichten in der „Combox“ befinden.

Verlassen zu werden ist ein schmerzhafter Prozess, dem nun David ausgesetzt ist. Er spürt Unsicherheit und den Verlust von Zuwendung, gemeinsamen Aktivitäten, Zukunftsaussichten und Unterstützung. Das beschäftigt David sehr und er will für eine gemeinsame Zukunft mit Astrid kämpfen.

„Ich werde ihr sagen, wie sehr ich sie liebe, sie in ihr Lieblingsrestaurant ausführen, mich so verhalten, wie sie es gerne möchte, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Aber wenn sie mich abweist, nicht auf meine Liebesbeweise eingeht? Wie werde ich dann reagieren?“

David weiss es nicht.

*****

Er hört seine Combox ab. Viele Nachrichten sind von Kollegen und Kolleginnen in der Kanzlei. Einige sprechen ihm Mut zu, denken an ihn und wünschen ihm alles Gute. Nur wenige bekräftigen ihre Freundschaft und Kollegialität und versichern, dass sie die Show von Petra durchschaut haben. Als er die Nachricht 21 abhört, erkennt er die Stimme von Astrid.

„Ich will dich treffen. Es gibt einiges zu klären. Wir treffen uns im Hotel Amigo in Zürich. Suite 5, pünktlich um 19.30 Uhr.“

Die Stimme ist energisch und lässt keinen Widerspruch zu. Er versucht noch einmal zurückzurufen. Aber wieder meldet sich die bekannte Computerstimme. Nach dem Piepston sagt David nur:

„Ich werde pünktlich da sein.“

Kaum hat er den Anruf unterbrochen, klingelt sein Handy. Es muss eine Nummer aus der Kanzlei sein. Er nimmt den Anruf entgegen:

„Hallo.“

„Guten Morgen David. Hier ist Peter. Wie geht es dir?“

„Wie würdest du dich fühlen, nach dem gestrigen Abend?“

„Verschissen, aber noch elender, wenn die Sache der Wahrheit entspricht.“

Peter, einer der Seniorpartner der Kanzlei, nimmt wie üblich kein Blatt vor den Mund. Peter und David sind privat gute Freunde und teilen beide die Leidenschaft am Segeln.

„Du zweifelst an mir?“

„David, du bist mein Freund. Ich möchte von dir lediglich wissen, ob es stimmt oder nicht. In beiden Fällen bleibe ich dein Freund und unterstütze dich, so gut wie es möglich ist.“

„Peter, ich schätze es, dass ich mich auf dich verlassen kann. Was gestern Abend passiert ist, verstehe ich selber nicht.“

„Ich habe beobachtet, wie sie dein Gespräch mit der Schwester deiner Frau unterbrochen hat.“

„Du meinst Jenna.“

“Eine interessante Frau“ stellt Peter fest.

„Wie meinst du das?“

“Lassen wir das. David, was ist dran an der Geschichte?“

„Absolut nichts, es war nie etwas und gestern auch nicht.“

„Ich danke dir mein Freund, dass du mir die Wahrheit sagst. Eine andere Wahrheit habe ich von Anfang an nicht in Betracht gezogen.“

Peter steht auf und beginnt in seinem Büro hin und her zu gehen.

“David, hast du dir schon überlegt, was wir als Kanzlei für eine Strategie verfolgen sollen? Die Angelegenheit darf auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen.“

„Nein Peter, das habe ich nicht. Für mich bricht die Welt zusammen. Um es offen zu sagen, ich habe andere Probleme“, gibt David ehrlich zu.

„Ich habe schon heute Morgen früh mit Rolf darüber gesprochen, es ist meine Pflicht als Seniorpartner. Du verstehst, dass ich unseren gleichberechtigten Partner informieren musste?“

„Klar, er konnte gestern nicht dabei sein.“

„Er unterstützt meine Vorgehensweise.“

„Und wie sieht deine Idee aus?“

„Wir bieten Petra eine Entschädigung an, zahlen ihr sechs Monatsgehälter, lassen sie eine Stillschweigevereinbarung unterzeichnen, geben ihr eine Stunde Zeit ihr Pult zu räumen und weg ist sie.“

„Also ein Schuldeingeständnis?“, fragt David.

„Wir halten in der Vereinbarung fest, dass es sich in keiner Weise um ein Schuldeingeständnis handelt.“

„Du weisst selber, dass dies juristische Spitzfindigkeiten sind.“

„Zugegeben, aber hast du einen besseren Vorschlag? Betrachte es aus der Sicht der Kanzlei und nicht aus deiner persönlichen Perspektive. Denk daran, du bist Seniorpartner“

„Wenn ich nicht zustimme…“

„….machen wir es so, wie ich dir vorgeschlagen habe.“

David kennt die Regeln, er hat sie in der Vergangenheit mehrmals in Anspruch genommen. Er wäre in der Minderheit.

„Wie hoch soll die Abgangsentschädigung an Petra sein?“

„Ich beginne mit 100‘000 Schweizer Franken. Mein Limit liegt bei 250‘000.“

David schluckt die Kröte schweren Herzens.

„David, ich muss leider abbrechen, Petra wartet im Vorzimmer. Ich rufe dich an, sobald ich mehr weiss. David, treffen wir uns zum Lunch, gewohnter Ort und gleiche Zeit?“

„Ich werde dort sein.“

*****

David empfindet das Vorgehen als persönliche Niederlage. Sie sind bitter, tun weh und kratzen am Selbstwertgefühl. Aber David kennt die Grundsätze der heutigen Leistungsgesellschaft. Scheitern liegt nicht drin. Aber gehören Misserfolge nicht zum Leben? Wurde nicht jeder in seinem Leben schon damit konfrontiert? Diese Gedanken gehen David durch den Kopf und lassen ihn nicht mehr los.

Nach dem üblichen Morgenritual im Badezimmer kleidet er sich an. Neuer Look, kein Anzug und keine Krawatte. Er redet sich ein, damit zu dokumentieren, dass er nicht mehr Teil der Weiss-Hemden-Gesellschaft ist. Er schaut in den Spiegel, erkennt einen anderen David, lächelt kurz und denkt sich:

„Etwas übertrieben, das mit der Botschaft. Aber sie gefällt mir.“

Beschwingt geht er in die Küche und bereitet sich einen Kaffee zu. Auf der Tasse steht:

„Man soll den Tag nicht vor dem Kaffee loben.“

*****

Das Handy klingelt. Peter informiert über das Gespräch mit Petra.

„Sie hat sich nicht in die Karten blicken lassen. Weder über ihre Beweggründe noch ein Motiv hat sie gesprochen. Als ich ihr das Angebot unterbreitet habe, hat sie gelächelt.

„Ich habe damit gerechnet.“

„Wo habt ihr euch geeinigt?“ fragt David nach.

„Ich habe das Limit von 250‘000 Schweizer Franken voll ausschöpfen müssen. Selbst da hatte sie nicht genug. Ich habe gepokert und ihr aufgezeigt, was juristisch alles auf sie zukommt, wenn sie ablehnt. Ich habe die Grenze zur Wahrheit mehrmals leicht überschritten. Aber es hat geholfen. Sie hat alle Dokumente unterzeichnet und vor fünf Minuten hat sie die Kanzlei für immer verlassen. Ein durchtriebenes Luder, unsere Petra.“

Sein Bauchgefühl sagt David, dass das noch nicht das Ende sein kann. Er lenkt sich bis zum Lunch mit unnötigen Einkäufen ab. Seit Jahren ist er nicht mehr auf „Shoppingtour“ gewesen. Jetzt findet er Gefallen daran. Pünktlich trifft er zum Mittagessen ein. Peter sitzt bereits am Tisch.

„Schön, dass du kommst“ begrüsst Peter ihn.

David setzt sich und beide studieren die Speisekarte. Nach der Bestellung reden sie über das weitere Vorgehen, die Kommunikationsstrategie der Kanzlei gegenüber den Kunden und über einige weitere Detailfragen. Peter erkundigt sich nach dem Befinden von David.

„Keine verschlüsselten Botschaften und keine Schönfärberei. Ich bin dein Freund.“

David schildert seine Gefühle und versucht so präzise wie möglich zu sein:

„Ich nehme zweierlei Dinge wahr. Einerseits die persönliche Niederlage. Gerade noch hatte ich Pläne, Träume und Visionen. Auf einmal ist nichts mehr davon übrig. Nur ein Scherbenhaufen bleibt. Es tut weh zu sehen, wie all das, für das man hart gearbeitet und gekämpft hat, sich in Luft auslöst.“

„Du hast Ziele, willst sie verwirklichen und stürzt nun urplötzlich auf den steinharten Boden. Ich habe schon ein paar solcher Momente erlebt und kann dir bestätigen, dass es bei mir ähnliche Gedanken gab. Ich hatte Angst, versagt zu haben und begann an mir zu zweifeln“, antwortet Peter.

„Diese Selbstzweifel verleihen der Niederlage ein solches Gewicht, dass an ein Weitermachen kaum noch zu denken ist.“

„Aber du spricht von zwei Seelen in deiner Brust. Die erste kenne ich. Wie sieht die zweite aus?“

„Ich denke darüber nach, ob ich die Niederlage nicht überschätze. Ich sollte meine Wut, meine Trauer, meine Enttäuschung zulassen. Ich will aber weitergehen und meinen Traum wahr werden lassen. Mutig sein.“

Peter unterbricht David.

„Diese Überlegungen gefallen mir gut. Lass dich von einer Niederlage niemals daran hindern, weiterzumachen, es erneut zu versuchen oder einen anderen Weg auszuprobieren. Das Leben besteht nicht aus dem, was uns passiert, sondern aus dem, was wir daraus machen.“

David realisiert, wie wichtig es ist, in solchen Momenten zu reden. Es entlastet und gibt Mut, Wege zu finden. Bei der Verabschiedung sagt er zu Peter:

„Ich danke dir. Du hast mich unterstützt und mich auf den richtigen Weg geführt. Ich verfolge meinen Weg unbeirrt weiter. Ich setze den Weg zur Umsetzung meines Traumes fort.“

*****

Um 19.28 Uhr klingelt David an der Tür von Astrid. Der Portier hat ihn mit dem Lift in den 5. Stock gefahren. Nur die Gäste einer Suite können direkt dorthin gelangen. Die Türe öffnet sich und vor ihm steht Jenna. Leise, fast flüsternd, sagt sie zu David:

„Es geht Astrid nicht gut. Sie hat den ganzen Tag geweint. Sie ist sehr enttäuscht und fühlt sich hintergangen. Rette, was zu retten ist!“

David nickt, bringt aber keinen Ton über die Lippen. Jenna verabschiedet sich förmlich und wünscht David viel Glück.

„Ich fliege noch heute Abend nach Syrien“.

„Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich unschuldig bin?“

„Das tue ich. Zu 100 Prozent“, bekräftigt Jenna.

Vor dem Lift zögert sie, dreht sich noch einmal um, schaut David mit traurigen Augen an, und steigt dann in den Lift.

Astrid empfängt ihn mit geröteten Augen.

„Hallo David, wir setzen uns am besten ins Wohnzimmer.“

„Guten Abend, Astrid. Es tut mir leid, wegen gestern Abend.“

„Kannst du erahnen, über was ich mir heute den ganzen Tag den Kopf zerbrochen habe? Ich sage es dir. Jetzt ist er weg – und mein Leben liegt in Scherben vor mir. Das tut weh, sehr weh.“

„Aber ich bin hier und nicht weg. Ich habe keine Ahnung, was gestern passiert ist“, argumentiert David.

Es scheint, als ob Astrid nicht zuhört, denn sie fährt fort:

„Bis heute begreife ich einfach nicht, was mit dir passiert ist. Wann der Moment gekommen ist, an dem ich dich für immer verloren habe. Du hast mich nicht eingeweiht in deinen Plan, mich kurz vor unserem grossen Abenteuer fallen zu lassen. Stattdessen habe ich dir vertraut. Blind vertraut. Ich hätte dir ehrlich gesagt mehr Courage zugetraut. Mehr Werte. Aber vor allem mehr Aufrichtigkeit und mehr Loyalität. Nach allem, was wir in zwei Jahrzehnten durchgemacht haben. Was wir erlebt haben. Was uns hat reifen lassen. Gemeinsam. Unsere Hochzeit war, ist und wird immer der schönste Moment in meinem Leben bleiben. Wenn ich an dein Treueversprechen, an deinen Liebesschwur denke, dann stockt mir bis heute der Atem, weil ich mir sicher bin, dass in diesem Augenblick nur dein Herz gesprochen hat.“

„Astrid, hör mir bitte zu“, fleht David.

„Nein, du hörst mir jetzt zu. Du wirst mir gleich sagen, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Ich sollte wohl davon sprechen, dass du Glück gehabt hast bei deinem Ausrutscher. Du bist schön weich zwischen den Brüsten von Petra gelandet. Vor einer Woche bist du erst nach Mitternacht nach Hause gekommen. Klar, Petra musste zur Seite springen. Dummer Zufall, dass da das Bett von Petra steht.“

Astrid steigert sich immer mehr in einen Wutanfall hinein und David kann wenig dagegen machen.

„Sag mir einfach, wann es angefangen hat. Was hat sie, was ich nicht habe? Was hast du ihr über mich erzählt? Ich habe so viele Fragen.“

David versucht es noch einmal ohne Emotionen:

„Astrid, es hat gar nie angefangen und ich bin Petra nie, ich wiederhole nie, zu keiner Zeit, zu nahe gekommen. Der Vorfall gestern ist inszeniert und hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Du musst mir vertrauen.“

Astrid verliert die Fassung vollends und schreit David an:

„Dir vertrauen, vergiss es. Wie kannst du mich verlassen, nachdem ich so viel für dich getan und aufgeben habe. Meine Karriere, nur damit ich dich auf deinem blöden Traum begleiten kann. Ein paar Jahre um die Welt segeln. Das ist etwas für Versager, für Looser, die aussteigen wollen. Dass ich dich begleite, kannst du vergessen. Aber für Ersatz hast du vorsorglich gesorgt. Der Name Petra macht sich gut am Heck des Schiffes. Ist auch weniger lang als meiner. Du kannst Kosten sparen.“

David wird energischer und sagt zu Astrid:

„Wir führen sofort eine vernünftige Diskussion, wenn nicht, dann gehe ich – für immer.“

Er bereut die Aussage sofort. Auch er hat Emotionen. Aber es ist zu spät. Astrid ist plötzlich ruhig, und sagt in gefährlich leisem Ton zu David:

„Dann geh, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Schau selber, wie du klar kommst. Ich werde nie mehr für dich da sein und dir helfen. Nie mehr. Und jetzt raus!“

Sie öffnet die Tür und David lässt sich nicht zweimal bitten.

*****

David ist völlig konsterniert, als er das Hotel verlässt. Er geht zu Fuss über die Bahnhofstrasse zum Hauptbahnhof und verpasst seinen Zug um eine Minute.

„Verdammt, auch das noch.“

Nach vierzig langen Minuten folgt der nächste Zug. Mit zehn Minuten Verspätung. Es gibt Tage an denen läuft alles schief. Mehrmals sucht er das Gespräch mit Astrid. Ergebnislos. Alle Bemühungen fruchten nicht. Astrid bleibt verletzt und will David die Trennung heimzahlen. Immer wieder in den Gesprächen streicht sie hervor, dass David zu spüren bekommen soll, wie es ist, verlassen zu werden. Auch gutgemeinte Vermittlungsversuche von Peter bringen kein brauchbares Ergebnis.

Bis im Juni macht sich David Hoffnungen, dass Astrid ihn doch noch begleiten wird. Die neue Yacht wird im September ausgeliefert. Er muss sich schnell entscheiden, um die nötigen Vorbereitungen noch rechtzeitig abschliessen zu können. Nach einem letzten Versuch bei Astrid beauftragt er einen Anwalt, eine Vereinbarung aufzusetzen, um die rechtliche Seite zu regeln. Astrid verweigert die Scheidung. Peter kann den Auftrag nicht annehmen. Er macht klar, dass er und die Kanzlei direkt betroffen sind und deshalb aus Gründen der Befangenheit das Mandat nicht ausführen können. David stimmt einer grosszügigen Regelung zu, die Astrid klar bevorteilt. Eine verbitterte Astrid unterzeichnet die Vereinbarung gegen Ende August, ohne je wieder persönlich mit David gesprochen zu haben.

Ende Juni ruft er Jens in Schweden an und informiert, ohne auf Einzelheiten einzugehen, dass er die Weltumsegelung nicht mit Astrid zusammen anpackt.

„Jens, wir brauchen einen neuen Namen. Ich denke „Mariposa“ würde ganz gut passen.“

„Schmetterling auf Spanisch. David, hunderte, wenn nicht tausende andere Yachten auf der Welt tragen diesen Namen. Hast du keinen anderen Vorschlag?“

David ist überrumpelt und muss kurz überlegen. Spontan schlägt er Jens vor:

„Wie wäre es mit Hanna?“

„Wieso nicht, ich glaube, er kommt ursprünglich aus dem Hebräischen und bedeutet Gnade oder Anmut.“

David gefällt seine Idee. Astrid und Jenna werden sicher nichts dagegen haben, den Namen ihrer Mutter auf dem Heck des Bootes zu wissen.

David, der inzwischen in einer kleinen Wohnung lebt und Astrid das Haus überlassen hat, erledigt die letzten Vorbereitungsarbeiten. Er verbringt viel Zeit am Telefon, klärt die letzten Details ab, macht einen Gesundheitscheck, lässt sich bezüglich der Impfungen beraten, überprüft noch einmal, ob mit den Versicherungen alles in Ordnung ist, erledigt alle notwendigen Formalitäten zur Abmeldung in der Schweiz. Die anfangs unendlich lang erscheinende Erledigungsliste wird kürzer und kürzer, bis Anfang September keine offenen Positionen mehr auf der Liste zu finden sind.

*****

Er hat beschlossen, den Herbst und die Wintermonate in Valletta zu bleiben. Von dort aus kann er die Yacht kennenlernen. Erst im Frühling will er mit Freunden und Kollegen das gesamte Mittelmeer bereisen. Im Herbst 2011 soll ihn die „Hanna“ vom Mittelmeer via Gibraltar zu den Kanarischen Inseln bringen. Von den Kanarischen Inseln aus beginnt die eigentliche Atlantiküberquerung. Je nach dem Stand des Passatgürtels wird man erst noch ein bisschen weiter nach Südwesten segeln, um zwischen ungefähr 15 und 20 Grad nördlicher Breite auf die beständigen nordöstlichen Passatwinde zu treffen. Die südliche Route führt nah an den Kapverdischen Inseln vorbei, so dass dort nochmals ein Zwischenstopp möglich ist. Im Januar 2012 will er die Atlantiküberquerung von den Kapverden nach St. Lucia auf den kleinen Antillen anpacken. David beabsichtigt, einer der klassischen Routen weiter zu folgen. Von der Karibik will er weiter nach Panama. Durch den Panamakanal führt der Seeweg bis zur Academia-Bucht auf den Galapagos, von dort nach Taiohae auf den Marquesas. Insgesamt sind knapp 4‘000 Seemeilen zu bewältigen. Von Marquesas aus kann man die Traumziele in der Südsee anlaufen: Tahiti, Bora Bora, die Cook-Inseln oder die Weihnachtsinseln. Diese befinden sich in einem Umkreis von nur rund 1000 Meilen. Französisch-Polynesien mit den Tuamotus ist allerdings ein tückisches Revier mit vielen Riffen und Atollen, unberechenbaren Strömungen und unsicheren Seekarten. Weiter beabsichtigt David nach Neuseeland und von dort via die Fidschi-Inseln nach Brisbane in Australien zu segeln. Von dort soll es über den Nordosten Australiens weitergehen. In den Indischen Ozean, an der Küste Südafrikas entlang und um das Kap der guten Hoffnung. Von dort aus segelt er nach Walvis Bay in Namibia. Von Namibia folgt die Querung nach Brasilien, weiter durch die Karibik und dann mit den Westwinden im Nordosten der USA via Bermudas zurück nach Europa. Für die Reise von den Bermudas zurück nach Malta wählt David die Route über die Azoren.

*****

Am 10. September fliegt David nach Valletta, nachdem er sich eine Woche Zeit genommen hat, sich von seinen Freunden und den wichtigsten Bekannten zu verabschieden. Die Umgebung und die Menschen in der Schweiz werden ihm fehlen. Aber die Freude über einen neuen Lebensabschnitt überwiegt. Als die Maschine der Swiss nach dem Start abdreht, sieht er unter sich die Stadt Zürich und den Zürichsee. Nun steigt doch etwas Wehmut in ihm auf. Er erinnert sich an eine Aussage von Roman Herzog, die er kürzlich in einer Segelzeitschrift gesehen und ihn beeindruckt hat.

„Jeder Mensch braucht ein inneres Gleichgewicht, das er nicht an jedem beliebigen Ort oder in jeder beliebigen Gemeinschaft finden wird. Der Mensch braucht die Sprache als Mittel der Kommunikation, er braucht eine Wertegemeinschaft, die er innerlich mitzutragen vermag, er braucht die Einbettung in ein Umfeld, das ihm Heimat sein kann. Aus diesen Wurzeln zieht er seine Kraft, aber erst der Blick auf das Neue, auch auf das Andere öffnet ihm die Welt mit ihren Möglichkeiten.“

Am 18. September übernimmt David in der Grand Marina von Valletta seine Yacht „Hanna“, die sein neues Heim werden soll. Der Hafen ist eine der faszinierendsten Marinas im Mittelmeer: Sie ist umgeben von den Mauern mittelalterlicher Festungen. Die dominierende Windrichtung in den Sommer- und Wintermonaten ist Nordwest, Nord und Nordost treten auch auf. Der „Grigal“ kommt aus Nordost und ist ein gefürchteter Wintersturm, der mit neun bis zehn Beaufort in die Häfen an der Ostküste Maltas hineinbläst und ganze Stadteile unter Wasser setzt. Im Frühling und besonders in den Herbstmonaten kann es bei „Schirokko“, einem heissen Wind aus Süd, ungemütlich werden. Die Grand Marina in Valetta ist aber gut geschützt vor Winden aus allen Richtungen. Der Schwall kommt von den Arbeitsbooten. Die Marina bietet 300 Plätze bis zu 65Meter LÜA und 4 bis 12 Meter Tiefgang.

*****

David wird sofort in einen Kreis aktiver und ehemaliger Yachties aufgenommen.

„Es befremdet mich, dass der ganze Abend mit Segelgeschichten bestritten wird, und die Sprache kaum einmal auf die in meinen Augen viel interessantere Fragen nach der aktuellen Lebenssituation kommt“, sagt er zu John und Julia, die seit 4 Jahren mit ihrem Katamaran unterwegs sind.

Julia antwortet ihm:

„Du liegst schon richtig. Aber ich glaube es ist eine sehr persönliche Frage, über die niemand gerne spricht.“

„Wir auch nicht“, ergänzt John.

David wird in den folgenden Monaten und Jahren erleben, wie aufgeschlossen und interessiert andere Langfahrtensegler immer wieder auf ihn zugehen, wie rasch Einladungen und Hilfsangebote ausgesprochen werden.

„Ich finde ohne mein besonderes Zutun freundliche Aufnahme in eine umfassende Seglergemeinschaft. Ich gehöre durch die „Hanna“ zu einer Szene von Yachties“, schreibt er seinem Freund Peter in einem seiner Briefe.

Am Abend nach der problemlosen Übergabe liegt David in der Achterkabine auf dem Bett. Er ist müde. Kurz vor dem Einschlafen überlegt er sich, wo er heute und jetzt steht.

„Ich bin raus aus meiner Komfortzone. Ich habe meinen Traum zur Realität werden lassen. Ich wartete nicht auf den perfekten Moment oder den idealen Zeitpunkt, an dem einfach alles passt. Ich liess nicht Zeit vergehen, um auf den Moment zu warten, wo du bereust, was du nicht getan hast. Ich wurde aktiv und tat es einfach!“

Er darf stolz auf das sein, was er geleistet hat. Er hat es geschafft anders zu denken und sich so die Türe zu den Möglichkeiten einer tollen Welt zu öffnen, die das Leben bietet. Er wird Neues aus sich herausholen und sich jeden Tag neu erfinden können. Endlich wird er lernen zu improvisieren. Er wird akzeptieren, nicht immer perfekt zu sein, dafür unglaublich vielfältig. Er wird für alle Herausforderungen eine Lösung finden.

Mit einem guten Gefühl schläft er ein. Seit langer Zeit schläft David über 8 Stunden durch.

Geige am Ende des Seins

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