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Dienstag, den 5. Juli

Wie üblich treffe ich mittags mit dem Zug aus Genf bei ihr ein. «Ihre Mutter möchte nicht aufstehen», erklärt mir die Pflegerin, «sie hat mich gebeten, ihren Arzt anzurufen, er kommt gleich vorbei.» Mutter liegt im Bett, die Stimme schwach, als sei sie krank. In eurem Schlafzimmer liegt sie immer noch rechts neben deinem Bett, über das eine Decke gebreitet ist, aber ohne Leintuch. Meine Tränen fließen stumm, damit sie nichts merkt.

Es dauert nicht lange, da trifft Doktor H. ein. Rucksack, enges T-Shirt, Bauchansatz trotz seiner sportlichen Kleidung. Ich ziehe mich zurück. Nach einer Viertelstunde kommt er aus dem Zimmer, wir stimmen uns ab. «Es ist so weit», sagt er, «sie hat ge­­­nug gekämpft.» Dann gibt er der Pflegerin mit einem plumpen Scherz seine Anweisungen: «Le­­gen sie immer nur ein Pflaster auf einmal an, sonst brauchen wir Exit nicht mehr.» Zu mir sagt er: «Ihre Mutter will sterben, ich werde ihren Willen respektieren und das Rezept für das tödliche Medikament ausstellen.»

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Ist es egoistisch, lieber Vater, an seinen eigenen Kummer zu denken? Bei Beerdigungen habe ich oft festgestellt, dass Tränen, auch meine, eher Rührung über das eigene Schicksal als über das des Verstor­benen ausdrücken. Ich erinnere mich, wie ich einmal um einen Toten geweint habe. Du hast sehr verärgert reagiert, als täte man so etwas nicht in der Öffentlichkeit: «Also wirklich, Daniel!»

Du bist im Ersten Weltkrieg geboren, ich im Zweiten. Deine Mutter war fromm. Dieses Wort hast du immer besonders betont, ihre Gläubigkeit war dir zu aufgesetzt. Ihr wart vier Kinder. Wie es sich in Genfer Familien dieser Art gehört, findet der älteste Sohn seinen Platz in der Geschäftswelt, die älteste Tochter wird Krankenschwester, um sich besser um die Mutter kümmern zu können, der Dritte, also du, studiert Theologie, und das Nesthäkchen endet als Taxifahrer in Paris. Warum hast du dich für Theologie entschieden? Aus Überzeugung? Um deine Mutter nicht zu enttäuschen? Oder um deinem sogenannten aristokratischen Milieu, von deiner Frau als «dekadent» bezeichnet, den Rücken zu kehren?

Im Krieg warst du zunächst Pfarrer in der Haute-Savoie, darauf müsste man noch einmal zurückkommen. Dann wurdest du in eine jurassische Uhrmachergemeinde gewählt. Dort bin ich mit zwei Schwestern und einem Bruder aufgewachsen, ich war der Älteste. Wenn ich in der Schule nach dem Beruf des Vaters gefragt wurde, sagte ich, du hättest keinen, da du keinen Beruf hattest, sondern eine Berufung. Dieser Unterschied war dir wichtig, du übtest keine Profession aus, sondern erfülltest eine Aufgabe.

Wir wohnten also nicht in einer Wohnung oder einem beliebigen Haus, sondern in dem Pfarrhaus des Dorfes Saint-Imier. Und solltest du eines Tages die Gemeinde wechseln, würden wir in ein anderes Pfarrhaus ziehen. Im Kanton Bern sind diese Häuser schöne Residenzen in der Dorfmitte, von einem Garten umgeben. Auch einen Dachboden gab es, einen großen Keller, einen Besuchersalon, ein Zimmer für das Dienstmädchen aus der Deutschschweiz, das sich um die Kinder kümmerte. Und dein Arbeitszimmer mit dem großen, hölzernen Pult, das du dir selbst gebaut hast und an dem ich dir jetzt schreibe. Ich hänge sehr daran wegen des ganz speziellen Knarrens der Schubladen, als Kind lauschte ich hinter der Tür darauf, um zu hören, ob du arbeitetest. An diesem Schreibtisch hast du jeden Sonntag gegen vier Uhr morgens auf deiner Underwood-Schreibmaschine die Predigt getippt, die du um neun Uhr fünfundvierzig halten würdest, nach dem Verstummen der Glocken. Du würdest deine Gemeinde bitten, sich darauf vorzubereiten, im Frieden des Herrn zu sterben.

Brief an meinen Vater

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