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Donnerstag, den 7. Juli

Während ich auf Mutters Tod warte, habe ich erneut im See gebadet. Zu früh, um Bekannte zu treffen. Die Badenden, Männer und Frauen, alle schon älter, waren wie ich alleine gekommen zu ihrer rituellen morgendlichen Waschung, ihren Körperübungen zu Tagesbeginn, noch vor dem Ansturm der lärmenden Urlauberfamilien. Warten unter diesen Einsamen noch andere auf den geplanten Tod eines Menschen?

Den Tag habe ich damit verbracht, das Buch zu lesen, das Martin mir am Abend zuvor geschenkt hat, ein dicker Band auf Dünndruckpapier, die gesammelten Artikel eines Autors, der nur über andere geschrieben hat, nie eine eigene Geschichte, kein eigenes Gedicht. Genügen Kommentare zur Arbeit anderer, um dem eigenen Leben einen Sinn zu geben? Muss man ein Werk schaffen? Mutter pflegte zu sagen: «Ich habe vier Kinder großgezogen, das ist eine Arbeit, und ich war die Ehefrau eines Pfarrers, das ist ein eigener Beruf.» Ihre Aquarelle kamen noch hinzu. Im Dorf nannten die Gemeindemitglieder sie «Madame pasteur» in Anlehnung an die deutsche Form «Frau Pfarrer», so wie sie «Ma­­dame docteur», Frau Doktor, zur Arztgattin sagten.

In letzter Zeit habe ich deine Frau einmal pro Woche besucht. Jedes Mal hat sie mich gebeten, ihr etwas vorzulesen von dem, was ich gerade schreibe. Und jetzt, da sie auf die tödliche Arznei wartet, sagt sie, sie höre sich die Aufnahme meines letzten Ro­­mans an, die der Blindenverband ihr besorgt hat. Das ist mir lieber. Es würde mir schwerfallen, ihr vorzulesen, bei der kleinsten Gefühlsregung versagt mir die Stimme.

*

Der nahende Tod eines Menschen wühlt auf. Ich denke an die Bilanz, die deine Frau von ihrem Leben zieht, an die Fragen, die sie unbeantwortet lassen wird. Gemeinsam mit dir versuche ich, meinen eigenen Zweifeln auf den Grund zu gehen.

Ob man nun an Gott glaubt oder nicht, man fragt sich, woher die Kinder kommen. Die erste Erklärung, die ich von dir bekam: Wenn Mutter und Vater sich sehr lieben, schenkt Gott ihnen ein Kind. Meine Schwestern, mein Bruder und ich waren also Gottesgeschenke. Eine Erklärung, die so lange befriedigt, bis ein schlauerer Schulkamerad einem von dem kleinen Samen des Mannes erzählt, der in der Frau aufgeht. Du bist meinen Fragen zuvorgekommen. Da die Lehrer damals der Ansicht waren, sexuelle Erziehung gehöre nicht zu ihren Aufgaben, hast du das bei jedem «Schwung» neuer Katechumenen übernommen.

Mit vierzehn Jahren wurden Jungen und Mädchen von dir in allen Einzelheiten über Empfängnisverhütung, Periode, Wechseljahre, Geschlechtskrankheiten aufgeklärt. Der größte Verdienst des für junge Protestanten obligatorischen Konfir­man­den­unter­richts. Fast alle meine Klassenkame­raden waren ebenso wenig von Religion überzeugt wie ich. Dafür aber hat dein Sexualkundeunterricht dir viel Achtung eingebracht. Die Konfirmanden kamen nach Hause und sagten: «Der Pfarrer hat uns alles erklärt.» Und wenn die Mutter fragte: «Was alles?», bekam sie zur Antwort: «Alles, sogar wie man ein Kondom überzieht.» Dass in unserem Dorf weniger Mädchen sehr jung schwanger wurden, verdanken wir, glaube ich, dir. Wenn ich an deine Aufklärungslektionen zurückdenke, bewundere ich noch heute deren anatomische Präzision.

Die Liebestechnik entbindet niemanden von der Frage, woher die Kinder kommen. Für dich war das Geheimnis schnell gelöst: Wenn Mutter und Vater sich sehr lieben … Ich hätte gern eine derartige Ge­­wissheit. Dann wüsste ich, wie auf der Erde Leben entstanden ist, ohne mich mit all den wissenschaftlichen Erklärungen zur Photosynthese und anderen Wunderdingen befassen zu müssen, die die eigentliche Frage nur aufschieben: Ja, aber vorher und noch davor? In diesen Tagen sage ich mir, dass der Tod etwas Natürliches ist. Weniger natürlich ist das Leben. Zweifellos ein Wunder. Oder?

Brief an meinen Vater

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