Читать книгу Brief an meinen Vater - Daniel de Roulet - Страница 6

Оглавление

Mittwoch, den 6. Juli

Während ich auf Mutters Tod warte, bade ich frühmorgens im Genfersee, zum ersten Mal in diesem Jahr. Weil auch sie gerne im Fluss vor euren Fenstern badete? Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, ging hinunter ins Erdgeschoss, überquerte die Gasse, schwamm stromaufwärts, kehrte zurück und duschte kalt. «Das ist gut für den Kreislauf», sagte sie. Jetzt sehe ich sie vor mir in ihrem Bett, ein kleines Geschöpf, ohne Lippenstift, abge­spannte Züge, aber ruhig.

Sie hat die junge Frau, die sich um ihre Ange­le­genheiten kümmert, zu sich bestellt, um ihr An­­wei­­sungen zu erteilen, Bankkonto, Versiche­­­run­gen, Steuern, eine Überweisung an einen Afri­kane­rin­nen­­verband, eine weitere an die Nachbarin, die ihre Wäsche erledigt, seitdem sie selbst nichts mehr sieht. Und auch das Geld für die anstehenden Leistungen von Exit, das auf dem Konto sein muss, bevor ein Datum festgelegt wird. Bestimmt hat sie auch für die Bezahlung ihres Begräbnisses gesorgt. Sie wusste immer, was sie wollte. Die Aussicht auf ihren Tod wird ihr Verhalten nicht ändern.

Heute Abend traf mich deine Schwiegertochter, die Geigerin, die von einer viertägigen Konzertreise zurückkehrte, in einer seltsamen Verfassung an, vielleicht hat sie meine miserable Laune nicht verstanden. Meine Nerven lagen blank. Nach ein, zwei Gläsern Clairette de Die wurde es besser.

Abendessen mit Martin und seiner Freundin. Als ich ihnen von Mutters Entscheidung erzähle, kommen sie nicht ganz mit. Bei ihnen in Frankreich ist Freitod nicht erlaubt.

*

Ich versuche, dir die Dinge so unverblümt wie möglich zu sagen, mich an die Fakten zu halten. Du, mein Vater, Pfarrer, Sohn aus einer wohlhabenden Genfer Calvinistenfamilie. Mutter, eine Zürcherin, die dem Leben entschlossen begegnete und jetzt dem Tod. Und wir, eure Kinder, in einem Dorf an der Sprachgrenze, wir standen hinter euch, in eurem Schutz, nun stehen wir bald vorne, jeder damit be­­schäftigt, sich seine eigene mehr oder weniger heitere Antwort zu überlegen.

Ich denke zurück an deinen Tagesablauf, an das tägliche Geschäft deiner Berufung. Erstens, sehr wichtig für uns Kinder: Du hast die meiste Zeit zu Hause gearbeitet. Du hast Gemeindemitglieder empfangen, ihnen zugehört, mit ihnen Probleme besprochen, die sie nur dir anvertrauten, dich für eine Anstellung eingesetzt, Briefe geschrieben. Als Kind war mir das ein Rätsel. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, was in deinem Arbeitszimmer vor sich ging, wo wir dich nicht stören durften, «wenn Vater jemanden empfängt».

Manchmal hast du, nachdem du uns ins Bett gebracht hattest, noch Gemeindemitglieder aufgesucht, um eine Beerdigung oder eine Hochzeit vorzubereiten. Im Winter hast du mir, wenn du weiter wegmusstest, mehrmals erlaubt, dich zu begleiten. Wir spannten Robbenfelle unter unsere Skis, ich folgte dir zu einem abgelegenen Bauernhof. Mir kam es vor wie eine Reise ans Ende der Welt. Nach zwei Stunden durch den weiß verschneiten Jura betraten wir das Haus einer Bauernfamilie. Um den Ofen sitzend, empfing man uns in der niedrigen Gewölbeküche. Du hast dich nach den Kühen er­­kundigt, nach dem schneebedeckten Gemüsegarten, dir die Sorgen der Familie an­gehört, Geld- und Herzenssorgen. Keine Ratschläge. Du hast gefragt, ob du mit ihnen beten oder ihnen lieber einen Ab­­schnitt aus der Bibel vorlesen sollst, die du aus deinem Rucksack zogst. Wenn sie ein Gebet wünschten, hast du all das eingefügt, was sie dir soeben anvertraut hatten, als müssten ihre Sorgen nun zum Himmel aufsteigen.

Das also war Deine Berufung: Eine Aufgabe zu erfüllen, die Wünsche der Gemeindemitglieder weiterzuleiten, damit Gott sie hört. Damals glaubte ich noch in kindlicher Art, Gebete seien magische Anweisungen an eine himmlische Macht, die sich um alles kümmert, um gute Lateinnoten oder das Lächeln einer Freundin. Du legtest Fürsprache ein, gabst zu verstehen, dass der Himmel nicht leer sei, dass er antworten werde, wenn nicht jetzt, so doch in einem anderen Leben. Es für diese Leute zu tun, die in Armut und Abgeschiedenheit lebten, erschien mir nützlich.

Schwerer fiel es mir zu verstehen, worum du Gott für die an unseren Tisch geladenen Uhrmacher bitten musstest. Deine Frau empfing gerne Besuch. Die Kinder durften die Gäste begrüßen, nachdem sie in der Küche mit dem «Mädchen» gegessen hatten. Sobald wir uns zu benehmen wussten, durften wir mit den Erwachsenen am Tisch sitzen. Bei solchen Mahlzeiten mit Gästen war nur selten die Rede von Gott oder vom Tod. Du ergingst dich in Ausfüh­run­gen über die Wirtschaftslage, Mutter verriet das Rezept der von ihr servierten Speisen.

Wir empfingen auch solche Leute zum Essen, die auf der sozialen Leiter nicht sehr hoch gestiegen oder von dieser heruntergefallen waren, Bettelarme, Landstreicher, Männer, die aus dem Gefängnis ka­­men, keinen Schlafplatz hatten. Sie wandten sich freundlich an uns Kinder, damit deine Frau ihnen ein Bett im Pfarrhaus anbot.

Du musstest sogar Säufern helfen, das Trinken aufzugeben, indem du zusammen mit ihnen eine Verpflichtungserklärung zu sechsmonatiger Abstinenz unterschriebst. Das fiel dir schwer, dir, der sein Gläschen algerischen Wein liebte.

So haben wir Pfarrerskinder verstanden, dass die Gesellschaft sich zusammensetzt aus Reichen, die lateinische Verse zitieren, und Bettelarmen, die auf den Wiesen Blumen pflücken, um der Frau des Pfarrers einen Strauß mitzubringen. Dieses Thema lag dir am Herzen: Die Kirche muss in der Mitte des Dorfes bleiben. Du wolltest weder der Pfarrer der Reichen noch der Armen sein. Deine Frau wählte rechts, was dich nicht davon abhielt, die Sozialdemokraten zu wählen und dich zum Antimilitarismus zu bekennen. Mehr als einmal habe ich dich be­­haup­ten hören, die Arbeit sei ein Fluch, den die Menschen nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies auf sich gezogen hätten. Du sprachst von Arbeit und meintest Lohnarbeit.

Eines Tages hast du auf der Kanzel über den Werksbus der Fabrik Longines, der die Arbeiter jeden Abend um zehn nach sechs auf dem Marktplatz ab­­setzte, gesagt: «Liebe Brüder und Schwestern, falls ihr daran zweifelt, dass Arbeit ein göttlicher Fluch ist, schaut euch die Gesichter der Uhrmacher an, die abends erschöpft aus dem Bus steigen, und fragt euch, ob sie glücklich sind.» Ich habe nachgeschaut um zehn nach sechs.

Pfarrerskinder begreifen also, weil ihr Vater in der Mitte des Dorfes steht, dass nicht alle derselben Gesellschaftsklasse angehören. Dies erklärt, warum kürzlich unter den sieben Schweizer Bundesräten zwei Pfarrerssöhne waren, der eine Sozialdemokrat, der andere ein Rechtsextremer.

Das Amt, das du ausgeübt hast, gibt es in dieser Form heute nicht mehr. Ich bin beim Pfarrhaus von Saint-Imier vorbeigegangen, die Gemeinde hat das Haus vermietet. Diese Beziehung zwischen einem ganzen Dorf und der Pfarrersfamilie ist inzwischen überholt. Damals sagte man: «Pfarrerssohn, Gauner.» Man fürchtete, ein Sohn wie mein Bruder oder ich könnte dem Amt seines Vaters Schande bereiten.

Brief an meinen Vater

Подняться наверх