Читать книгу Wut ist gut! - Daniel Dufour - Страница 8
ОглавлениеKapitel 1
Der Unterschied zwischen der Reflexion und der Denke
Die Emotion ist Ihre größte Intelligenz, die Intelligenz aus dem Herzen der Seele! 2
ANNE MARIE LIONNET
Die »Denke« ist jene Höllenmaschine, die in unserem Kopf rumort. Sie trennt uns vom Hier und Jetzt und damit von unseren Empfindungen und unserem innersten Wesen. Es ist wichtig, zwischen der Denke und der Reflexion zu unterscheiden. Letzteres ist überaus nützlich, wohingegen die Denke völlig nutzlos ist.
Die Reflexion
Die Reflexion als Leistung unseres Gehirns nutzt unsere kreativen und intellektuellen Fähigkeiten, genau wie unsere praktische und theoretische Intelligenz. Wenn wir unsere Reflexion einsetzen, nutzen wir sie, um ein Projekt zu planen, das ebenfalls einem Bedürfnis in uns entspringt. Diese Reflexion erlaubt es uns, Entscheidungen zu treffen, zu bestimmen, welche Handlung als Nächstes kommt, und die nützlichen (und nutzlosen) Mittel dafür festzulegen, was wir unternehmen und durchführen wollen. Die Reflexion findet allein im gegenwärtigen Moment statt, auch wenn sie sich auf etwas bezieht, das erst in der Zukunft umgesetzt wird. Die Reflexion hilft uns dabei, vorwärts zu kommen, die Dinge so effizient wie möglich anzugehen. Es ist ein nützliches, dynamisches Instrument, das zu Klarheit und Durchblick verhilft. Es führt zu keinerlei körperlicher Anspannung, sondern vielmehr zu einem Gefühl des Friedens und der Ausgeglichenheit.
Die Ordnung der Dinge sieht vor, dass wir zuerst das Bedürfnis empfinden, eine Handlung vorzunehmen. Anschließend nutzen wir unser Gehirn (das genau wie Füße und Hände ein Anhängsel unseres Körpers ist), um den besten Lösungsweg zu finden. Das Bedürfnis entsteht nicht in unserem Gehirn, sondern in unserem innersten Wesen. Es hat keinerlei Stofflichkeit, erst unsere Reflexion verhilft ihm dazu, umgesetzt zu werden oder nicht. So erschafft der Geist die Materie, nicht umgekehrt.
Die »Denke«
Die Denke ist der »nutzlose« Teil unseres Gehirns, der geschwätzig wird, sobald man ihn lässt. Sie verhindert, dass die Stille sich in uns ausbreitet und betäubt uns mit »um sich selbst kreisenden Gedanken«. Damit sind die nutzlosen Gedanken gemeint, die Befürchtungen, Angst, Panik und Phobien auslösen, oder auch Bedauern und Schuldgefühle. Die Denke nutzt weder Kreativität noch Intelligenz, ganz im Gegenteil: Sie blockiert alles. Die Denke trennt uns von unserer praktischen und theoretischen Intelligenz. Das zeigt sich in einem Durcheinander von Ideen, der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, einer allgemeinen Lähmung. Diese Denke steht nicht im Dienst unseres innersten Wesens, sondern entfremdet uns einander. Sie ist geschwätzig, hilft uns aber nicht, auch nur ein Projekt umzusetzen. Sie schafft vom Moment ihres Auftauchens an eine körperliche Anspannung, die wir vielleicht nicht einmal wahrnehmen, denn diese Anspannung verhindert den Zugang zu unseren Gefühlen, unseren Sinneswahrnehmungen und unserer eigenen Wirklichkeit. Aufgrund der Denke verlieren wir unsere Persönlichkeit, denn sie trennt uns von unserem innersten Wesen. Aus all den genannten Gründen ist sie überaus schädlich und muss um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden. Erst dann können wir unsere eigene Wirklichkeit und unser innerstes Wesen wiedererlangen, das allein ein Dasein im weitesten Sinn ermöglichen kann.
Die Denke ist auch der Grund dafür, dass wir uns mit anderen vergleichen: Ich bin besser oder schlechter als der Nachbar, ich möchte haben, was der Andere hat. Sie bringt uns dazu, Regeln zu befolgen, die nicht unsere eigenen sind, weil wir das Bedürfnis haben, anonym in der Menge mitzuschwimmen. Oder sie bringt uns dazu, besonders »eigenwillig« zu sein, damit wir uns um jeden Preis von den Anderen und der Normalität abheben.
Die Denke funktioniert nie im Hier und Jetzt, sondern schickt uns in die Zukunft, wodurch sie Ängste und Befürchtungen auslöst. Viele Menschen glauben oder machen uns glauben, dass es sich bei Letzteren um Emotionen handelt. Das ist falsch. Eine Emotion kann nur im gegenwärtigen Moment wahrgenommen werden. Wir können nicht morgen glücklich, traurig oder wütend sein, wir können es nur hier und jetzt. Vielleicht werden wir es morgen sein, aber das ist ein Gedanke oder eine Hoffnung. Ängste hingegen richten sich immer auf die Zukunft und entspringen gänzlich aus unserer Denke: Wir haben Angst davor, was geschehen könnte, ob gleich, morgen, in einigen Wochen, Monaten oder Jahren. Wenn wir vor etwas Angst haben oder uns fürchten, beginnen wir unsere Sätze häufig mit einem »wenn«: Wenn der Andere mich nachher nicht anschaut, dann … Wenn ich die Prüfungen nicht bestehe, wenn ich den Flieger verpasse, wenn ich beim Vortrag anfange zu stottern, etc.
Da solche Ängste ein Konstrukt unserer Denke sind, welche uns auf die Zukunft ausrichtet, können sie keine Emotionen sein. Dieser Punkt ist wichtig, denn in der Literatur herrscht diesbezüglich eine große Verwirrung (was bedauerlich ist). Und diese Verwirrung führt (was in meinen Augen noch viel schlimmer ist) zu völlig falschen Therapieansätzen in der Persönlichkeitsentwicklung. Das bedeutet nicht, dass es keine Ängste gibt und dass alle davon Betroffenen Spinner sind. Die Denke erschafft die Ängste von A bis Z, indem sie einen Menschen in die Zukunft zwingt (und damit aus der Gegenwart herausholt). Sie ist der Spinner. Und sobald ein »um sich selbst kreisender Gedanke« von der Denke erschaffen wird, tauchen körperliche Anzeichen in Form von Spannungen auf. Sie sind keineswegs Spinnereien, sondern ein durchaus reales Signal unseres Körpers, der uns darauf hinweist, dass etwas nicht stimmt, dass etwas falsch läuft mit uns. Wenn dieses Signal von der betroffenen Person nicht verstanden und »behandelt« wird, kann es zu einer sehr starken Anspannung führen und Unwohlsein auslösen. Es kann zu Panikattacken und Phobien kommen, aber auch zu Erkrankungen wie Magengeschwüren, Mittelohrentzündungen, Blasenentzündungen und anderen Blasen- und Nierenleiden.
Die Denke zwingt uns auch dazu, in die Vergangenheit zurückzukehren, wodurch sie Reue und Schuldgefühle auslöst. Einmal mehr verleitet sie uns zu der Vorstellung, dass etwas anderes herausgekommen wäre, »wenn« wir anders gehandelt hätten. Auch das ist ein um sich selbst kreisender Gedanke, der verdeckt, was wir im gegenwärtigen Moment empfinden, und der Schuldgefühle entstehen lässt. Letztere basieren übrigens auf Spinnereien und zeigen sich in unserem Körper durch überaus konkrete Signale wie einen Kloß im Hals oder im Magen, oder auch durch Muskelverspannungen.
Die Denke bläht auch unser Ego auf, indem sie uns vormacht, wir verfügten über eine besonders ausgeprägte Intelligenz, und uns dazu bringt, die Vergangenheit zu analysieren, um an die Zukunft zu denken. Mit diesem Trick besetzt sie unsere Gegenwart und erschafft lauter Illusionen. An diesem Punkt beginnt die lange Geschichte menschlicher Leiden … Indem sie uns in die Vergangenheit oder die Zukunft zwingt, trennt die Denke uns von uns selbst ab, von unserem angeborenen Wissen, unserer Intuition und unseren Emotionen. Sie führt zum Verlust unseres Selbstvertrauens, zu Verblendung, Gewalt und Verneinung unserer selbst. Sie ist der Inbegriff der Nicht-Liebe.
Aber wie wird die Denke erschaffen?
Hauptsächlich einmal durch unsere Erziehung. Jeder von uns wird wissen, dass ein Neugeborenes noch keinerlei Kenntnis von Vergangenheit und Zukunft hat. Es lebt seine Emotionen: Es lächelt, wenn es glücklich ist, weint heiße Tränen, wenn es traurig ist, und schreit, wenn es wütend ist. Es vergleicht sich nicht mit anderen und verschwendet keinen Gedanken daran, was angeblich normal ist. Kurz: Es ist im Hier und Jetzt, denn das ist der einzige Moment, in dem wir leben. Wir waren alle einmal Kinder, folglich wissen wir, wie es ist zu sein (das ist uns angeboren). Und dann kommt die Erziehung … Natürlich muss man einem Kind helfen, es ermutigen, sich weiterzuentwickeln in dem, was es seit seiner Geburt ist, also ein Wesen voller Qualitäten und Potenziale. Um das zu tun, braucht es Freiheit, Verständnis, Vertrauen und Aufmerksamkeit, und zwar ohne Wenn und Aber. Es braucht schlicht und einfach Liebe! Erziehung sollte nur aus Liebe bestehen, aber meist ist es nur eine bedingte Liebe: Sie drängt uns den Blick der Anderen auf, sie schafft Normen, sie neigt dazu, den Einzelnen zugunsten der Gesellschaft herabzusetzen und einzuschränken. Sie legt es darauf an, die Energie des Kindes zu »kanalisieren«, damit es sich »harmonisch« entwickeln kann. Aber wer legt fest, was harmonisch ist? Doch immer die Anderen, also die Gesellschaft: Eltern, Lehrer, Gesetzgeber, Kirche, Politik und Wirtschaft. Die Gesellschaft definiert die Erziehung, und eine Sache konnte noch nie lieben, kann es nicht und wird es nie können. Sie kann dem Einzelnen höchstens einen materiellen Rahmen bieten, in dem er sich frei von finanziellen Zwängen entwickeln kann, was bereits ein großer Vorteil ist. Doch das ist leider nie der Fall, denn die Gesellschaft mit ihrem kollektiven Ego legt fest, was gut ist für den Einzelnen und was schlecht. Sie neigt also dazu, der bedingten Liebe den Vorzug zu geben, und aus dieser Quelle schöpft dann die Denke.
Eine weitere wichtige Aktivität unserer Denke besteht darin, uns von unseren Emotionen abzutrennen, was dramatische Auswirkungen auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit hat.
Es gibt drei große Gruppen von Gefühlen: Freude, Trauer und Wut. Die Denke wird alles tun, damit wir unsere Emotionen
nicht erkennen
nicht empfinden
nicht ausleben
Sie kann auf allen diesen Ebenen aktiv werden oder auch nur auf einer, doch das Ergebnis ist das gleiche: eine körperlich wahrgenommene Spannung, die – wenn sie nicht richtig interpretiert wird – anhält und zu Beschwerden führt, die sich zu sehr ernsthaften Krankheiten auswachsen können.
Die Denke kann uns daran hindern, eine Emotion überhaupt zu erkennen: Nehmen wir das Beispiel von Jeanne, deren betagte Eltern krank sind. Ihr Vater liegt im Krankenhaus, er hat Alzheimer, und ihre Mutter ist zu Hause, behindert durch ihr Gelenkrheuma. Seit einem Monat verbringt Jeanne einen Großteil ihrer Zeit mit Besuchen bei ihrem Vater, obwohl dieser sie nicht mehr erkennt, und den Rest damit, den Haushalt ihrer Mutter zu organisieren und Letztere bei ihren täglichen Verrichtungen zu unterstützen, damit sie ein würdiges Leben zu Hause führen kann, denn dort will die Mutter weiterhin wohnen. Jeanne sucht mich auf, weil sie sich erschöpft fühlt: Sie hat Schwierigkeiten beim Einschlafen, sie wacht nachts mehrmals auf und ist beim Aufstehen müde. Diese Müdigkeit hält den ganzen Tag an. Sie reagiert immer gereizter auf ihre beiden Kinder und ihren Mann und neigt dazu, bei jeder Kleinigkeit in Tränen auszubrechen. So geht es jetzt seit drei Wochen, und es wird immer schlimmer.
Als Arzt habe ich zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten: den traditionellen Weg oder den menschlichen Weg.
Der traditionelle, schulmedizinische Weg besteht darin, Jeannes Symptome zu betrachten, also die Schlafstörungen, die Erschöpfung und die depressive Verstimmung. Anschließend würde man den Missstand dann mit Medikamenten wie einem leichten Antidepressivum und einem Schlafmittel beheben. Inzwischen sind auch einige Varianten auf dem Markt der traditionellen Behandlungsmöglichkeiten: Ich kann ihr auch etwas Sanfteres verschreiben wie homöopathische oder pflanzliche Mittel. Unterstützend könnte man ihr noch empfehlen, einen Psychologen aufzusuchen, damit sie mit diesem über ihre Probleme sprechen kann. Die Erkrankung wird in jedem Fall als Feind angesehen, den Jeanne schnellstmöglich loswerden muss, damit sie ihre Rolle als liebende Tochter, Mutter und Ehefrau wieder erfüllen kann (eine Rolle, welche sie sich zuschreibt / welche die Gesellschaft ihr zuschreibt). Der Arzt spielt die Rolle des Wissenschaftlers; er hat die Macht, ein Rezept auszustellen und dadurch zur Linderung ihrer Symptome und vielleicht sogar zu ihrer Heilung beizutragen. Der Psychologe leistet dann die entscheidende Hilfe, damit Jeanne ihre Rolle als Tochter akzeptiert, auch wenn Letzteres schwer fällt, umso mehr, als sie ihren Eltern gegenüber vielleicht einen gewissen Groll hegt, der vielleicht bis in die Kindheit oder Jugend zurückreicht … Falls die Beschwerden bei der Patientin trotz der verschriebenen Behandlung anhalten, wird entweder die Dosis erhöht oder die Behandlung geändert, um die Krankheit noch wirksamer zu bekämpfen. Es handelt sich folglich um einen Kampf gegen die Krankheit, bei dem alle Teilnehmer zu braven Soldaten degradiert werden, die gegen die Abnormität zu kämpfen haben. Der tiefere Grund für Jeannes Leiden wird nicht angesprochen, denn er liegt außerhalb des medizinischen oder paramedizinischen Kontextes. Dieser Grund ist allen bekannt: der Gesundheitszustand von Jeannes Eltern, auf den sie keinerlei Einfluss hat. So wird Krankheit zum Verhängnis, dem sie sich zu unterwerfen und das sie anzunehmen hat. Dieses Annehmen läuft über ein »Loslassen« und ein »Verzeihen«, zu denen ihr der Arzt, der Psychologe oder ihre Umwelt raten werden. Die Sache ist gegessen: Jeanne wurde bestens dafür präpariert, die Probleme anzugehen, denen sie sich gegenübersieht. Sie wird es überleben, indem sie auf das Ende des »Albtraums« wartet!
Nimmt man den menschlichen Weg, betrachtet man das Problem in seiner Ganzheit, wozu der Mensch Jeanne in den Mittelpunkt rückt. Ihr Körper will ihr mit den auftretenden Beschwerden eine Botschaft zukommen lassen. So wird die Krankheit zu Jeannes Verbündetem, und sie kämpft nicht mehr gegen die Symptome, sondern für sich. Eine Erkrankung ist dann kein Verhängnis mehr, das von Faktoren abhängig ist, die außerhalb von Jeannes Einfluss liegen (also beim Gesundheitszustand ihrer Eltern). Der Arzt wird zu einem Helfer, der Jeanne bei der Entzifferung der Botschaft, die ihr Körper ausgesandt hat, assistiert. Natürlich kann er für eine sehr begrenzte Zeit Medikamente verschreiben, um Jeanne Erleichterung zu verschaffen, falls ihre Beschwerden zu stark sind, doch das darf nie zu einem Selbstzweck werden und auch nie das Ziel der Behandlung sein.
Die Frage, auf welche Jeanne und ihr Arzt eine Antwort finden müssen, ist die folgende: Worin genau besteht diese Botschaft? Ihr Körper ist ihr bester Freund, und mit den auftretenden Beschwerden will er ihr etwas sagen. Sobald man herausfindet, was das ist, ist auch die Behandlung gefunden, und es reicht, dass Jeanne sie befolgt, um zu genesen. Etwaigen Beschwerden oder Erkrankungen geht immer mindestens ein Ereignis voraus, das den Ausgangspunkt bildet und das der Patient und sein Arzt aufdecken müssen. Oft kommen die Betroffenen sehr schnell selbst darauf, ohne dass man sie danach fragt, oder auch sehr schnell, nachdem sie danach gefragt wurden. Manchmal sagt ein Patient nach kurzer Überlegung auch, dass er nichts finden könne und dass ihm »nichts Besonderes« einfalle. Ich antworte dann immer auf die gleiche Weise: »Sie kennen dieses Ereignis, denn Sie tragen es in sich, und es zeigt sich sehr konkret anhand Ihrer Probleme.« In den meisten Fällen findet der Betroffene dann auch den Auslöser.
In Jeannes Fall war die Antwort sofort da: Die Einweisung ihres Vaters ins Krankenhaus, infolgedessen ihre Mutter allein zu Hause bleiben musste, war der Auslöser ihrer Beschwerden. Das Ereignis an sich ist nicht der entscheidende Punkt. An diesem Punkt zu verweilen, bringt keinerlei hilfreiche Antwort, um mit der Heilung beginnen zu können. Zuerst muss Jeanne auf eine der folgenden Fragen antworten: Was hat dieses Ereignis körperlich in ihr bewirkt? Was wollte ihr Körper ihr in diesem Moment sagen? Was hat sie während dieses Ereignisses empfunden? Mit anderen Worten: Ist der Ankündigung, dass ihr Vater ins Krankenhaus kommt, eine körperliche Reaktion ihrerseits gefolgt? »Ja, ich habe sofort einen Klumpen im Magen gehabt, und ich war total angespannt.« Was versuchte Jeannes Körper ihr zu sagen? »Dass ich Angst hatte.« So erkennt sie, dass sie all das durchlebt, was die Angst auslöst: Sie denkt an morgen und vergisst, im gegenwärtigen Moment zu bleiben.
Gleichzeitig liefert ihr Körper – und das ist entscheidend – auch die Lösung, um den Klumpen und die Anspannung loszuwerden: Sie muss ins Hier und Jetzt zurückkehren, sobald ihre Denke sie in die Zukunft zerren will. Daraufhin versucht Jeanne nicht ohne Erfolg, so oft wie möglich in der Gegenwart zu sein, indem sie mehrmals am Tag eine einfache Entspannungsübung anwendet (die ab Seite 147 ausführlich beschrieben wird). Dadurch kann sie wieder besser einschlafen und fühlt sich nicht mehr so angespannt. Doch sie wacht nach wie vor mehrmals in der Nacht auf und ist weiterhin äußerst reizbar und erschöpft.
Also muss sie sich erneut die vorab erwähnten Fragen stellen, denn ihr Körper versucht weiterhin, ihr über diese Symptome eine Nachricht zukommen zu lassen. »Was empfinden Sie angesichts dieses Ereignisses?« Jeanne antwortet mir, sie sei traurig, habe aber angesichts ihres engen Terminplans nicht die Zeit, diese Trauer auszuleben. Außerdem könne sie ja schlecht vor ihren Kindern oder Eltern in Tränen ausbrechen … Als sie erkennt, dass ihr Körper genau das Gegenteil sagt, gestattet sie sich zu weinen, was ihr ein wenig Linderung verschafft. Doch die Symptome halten nach wie vor an. Empfindet sie noch etwas anderes außer Trauer? Was empfindet sie angesichts der Tatsache, dass sie der Krankheit ihres Vaters gegenüber total machtlos ist? Was empfindet sie bei dem Gedanken, sich neben ihrer Arbeit auch noch um die Mutter kümmern zu müssen? Jeanne erwidert, dass sie all dies als ihre Aufgabe ansieht, dass sie hinnehmen muss, was kommt, dass es sich nicht gehört, sich zu beschweren, und dass sie glücklich wäre, wenn ihre Kinder das Gleiche für sie täten, falls eines Tages sie es ist, die Hilfe braucht.
Ich rate ihr dazu, mit dem Denken aufzuhören und mir zu sagen, was sie tief im Innern fühlt angesichts all der Aufgaben, die sie seit der Einweisung ihres Vaters zu erfüllen hat. Sie gesteht mir betreten, dass sie all das »satt« habe und sich »sehr ärgere«. Sie empfindet eine Wut, die von ihrer Denke blockiert wird (Schließlich ist es nicht gut, in dieser Situation wütend zu sein!). Das führt zu einer sofortigen Anspannung, die sie körperlich wahrnimmt. Diese Anspannung zeigt sich hauptsächlich in dem nächtlichen Aufwachen und der großen Gereiztheit, aber auch in der dauernden Erschöpfung. Die Erschöpfung ist eine Folge des Kampfes zwischen der Denke, die alles daran setzt, damit Jeanne nicht einmal erkennt, was sie empfindet, und dem »lebendigen« Teil in Jeanne, der ihr sagt: »Du bist wütend, also lass es auch raus«. Jetzt ist die Lösung gefunden: Sie muss sich erlauben, diese Wut für sich auszuleben, damit sie sich Gutes tut und so jede Anspannung in sich beseitigen kann. Wir werden im weiteren Verlauf sehen, wie man das anstellt. Jeanne jedenfalls kann, nachdem sie sich gestattet hat, diese Wut auszuleben, ihre Aufgaben ohne zu leiden erfüllen, ohne Medikamente und im vollen Bewusstsein für diesen schmerzlichen Abschnitt ihres Lebens.
Man sieht also, wie verschieden diese beiden Ansätze sind und welch unterschiedliche Ergebnisse sie hervorbringen. Beim klassischen Ansatz ist das Verhängnis der eigentliche Grund für die Erkrankung, und angesichts der Tatsache, dass das Ereignis nicht zu ändern ist, »muss man das Unannehmbare annehmen«, sich nach Unterstützung außerhalb seiner selbst umsehen – häufig in Form von Medikamenten –, die Schultern einziehen und auf bessere Zeiten warten. Jeanne ist in jeder Hinsicht schwach, ihr Leben gleicht einer Nussschale auf den Wellen. Glück und Unglück hängen von anderen ab, nicht von ihr. Das bedeutet, keinerlei Eigenverantwortung zu haben – ein Synonym für Nicht-Liebe. Bei dem menschlichen Ansatz dagegen ist die Denke der eigentliche Grund für ihre Beschwerden, denn sie blockiert die Wahrnehmung der Emotionen und verdrängt Jeanne aus dem gegenwärtigen Moment. Wenn Jeanne ihre Denke selbst zum Schweigen bringt, braucht es keine Täuschungen, um die manchmal schmerzlichen Ereignisse zu durchleben, mit denen das Leben sie konfrontiert. Sie findet die wahre Kraft wieder, indem sie aus sich selbst schöpft, indem sie sich gestattet, im gegenwärtigen Moment zu leben und ihre Emotionen auszudrücken. Indem sie das tut, schenkt sie sich Aufmerksamkeit, Achtung und Respekt, mit einem Wort: Liebe.
Die Denke hindert uns nicht nur daran, unsere Emotionen zu erkennen, sondern auch, sie zu empfinden. Die Neigung zu »vergessen«, dass man Freude, Trauer und Wut empfinden kann, ist erstaunlich ausgeprägt. In meiner Sprechstunde und im Rahmen der OGE-Seminare werde ich immer wieder Zeuge, wie bereitwillig wir alle unsere Empfindungen links liegen lassen, um dem Denken, Urteilen, Tun und Machen den Vorrang zu geben. Etwas zu empfinden wird zu einer Peinlichkeit, zu einer Charakterschwäche, zur Sünde. Etwas zu empfinden gilt als Synonym für Zeit- und Energieverschwendung. Etwas zu empfinden bedeutet für manch einen gar, wieder zum Tier zu werden und seine menschliche Dimension zu verlieren.
»Ich möchte an mir selbst arbeiten, um mich in meiner Haut wohlzufühlen und in Harmonie mit anderen Menschen und meiner Umwelt zu leben«, hat mir neulich die 32-jährige Patricia erklärt, die seit ihrem achten Lebensjahr an Neurodermitis leidet. Die Krankheit war in den letzten zwei Jahren eher abgeflaut, flammte aber vor zwei Monaten plötzlich wieder auf. Da die Kortisoncreme, die ihr Hautarzt ihr verschrieben hat, nicht viel hilft, wendet sie sich mit obigem Anliegen an mich. Patricia erkennt recht schnell, welche Botschaft ihr Körper ihr sendet: Du bist sehr wütend auf deinen Freund, der dich betrogen hat, aber du gestattest dir nicht wirklich, diese Wut zu empfinden. Daher auch das heftige Aufflammen der Neurodermitis am Morgen, nachdem sie den Betrug ihres Freundes entdeckt hatte. Patricia hatte zwar einen heftigen »Zornausbruch«, bei dem sie ihren Freund beschimpft und einen Teil seiner Kleidung zerstört hat, doch sie fühlte sich trotzdem nicht besser, und ihr Körper schickte ihr nach wie vor eine Botschaft. Wie lautet diese Botschaft? Patricias Haut leidet. Diese Haut ist nur die Schnittstelle zwischen uns und den Anderen. Die traditionelle chinesische Medizin lehrt uns, dass die Haut mit der Leber verknüpft ist, dem Ort, an dem unsere unterdrückte, nicht ausgelebte Wut sitzt. Der Körper der Patientin spricht also eine deutliche Sprache. Er lässt ihr eine klare Botschaft zukommen: Du bist wütend, erlaube dir, diese Wut anzunehmen, sie zu empfinden und dann auch auszuleben.
»Was empfinden Sie angesichts dieses Betrugs?« Patricia antwortet mir, dass sie ihren Freund für einen Feigling und einen Lügner hält. Sie schwankt noch, ob sie ihn verlassen oder sich an ihm rächen soll, indem auch sie ihn betrügt. Sie schämt sich für ihr Verhalten ihm gegenüber, dafür, dass sie »den Kopf verloren« hat, was ihr im Übrigen regelmäßig passiert. Sie erzählt mir, dass sie von Zeit zu Zeit ohne ersichtlichen Grund einen unerklärlichen Zorn empfindet, dass sie förmlich »ausrastet« und dann denjenigen anschreit, der gerade in der Nähe ist. Patricia weicht aus und antwortet nicht auf meine Frage: Sie »denkt«, sie urteilt, sie redet von zukünftigen Handlungen, ohne zu wissen, welche davon sie eigentlich wirklich ausführen will. Sie ist in der Vergangenheit, wenn sie sich für ihre Zornanfälle schämt. Kurz: Sie steckt in ihrer Denke fest. Sie kann nichts empfinden, weil sie in der Vergangenheit oder der Zukunft ist und weil sie sich genauso wie ihren Freund verurteilt. Als ich darauf bestehe, dass sie meine Frage beantwortet, »gesteht« sie schließlich, dass sie sehr wütend ist, fügt aber umgehend hinzu: »Herr Doktor, wenn ich diese Wut empfinde (um sie anschließend auch auszuleben), bedeutet das für mich, meine animalische Seite herauszulassen. Dabei strebe ich doch durch die Arbeit an mir selbst danach, solche primitiven Zustände hinter mir zu lassen, denn sie haben mir nie gutgetan. Ich will eine gewisse Spiritualität erreichen und dadurch zu Liebe und Vergebung gelangen, statt diese Wut auf meinen Freund auszuleben …«
Eine solche Einstellung ist leider sehr verbreitet. Wenn wir uns ihre wahre Bedeutung genauer ansehen, werden wir feststellen, dass sich dahinter ein großes Ego und eine große Selbstgefälligkeit verbergen. Aber sie kommt auch gut an und steht in gewissen »angesagten« Kreisen oder bei wohlmeinenden Menschen hoch im Kurs: Lassen wir den Zustand des Animalischen, in dem wir geboren werden, hinter uns, um uns zur Spiritualität emporzuschwingen, also zum Nicht-Empfinden! Was für ein schöner Gedanke, was für eine Illusion! Vergebung und Liebe werden so zu Instrumenten im Dienste des Versuchs, die Realität (also unsere Empfindungen) abzustreiten, um sich auf eine Ebene zu begeben, auf der wir von unseren negativen Empfindungen abgeschnitten sind … Ich habe Patricia gesagt, dass ich ihre Denke brillant finde, dass aber ihr Körper als ihr bester Freund wohl nicht der gleichen Meinung sei, da er sich nach wie vor bei ihr meldet und sie selbst nach wie vor leidet. Diese Antwort ist in meinen Augen besser als jede müßige Diskussion, die wir mit unserem Ego führen.
Man sieht also, wie leicht die Denke uns überlisten kann: Ein angenehmer Gedanke, ein durchaus legitimer Wunsch, und schon hindert sie uns daran, eine Emotion zu empfinden. Die Emotion wird einfach als »negativ« abgetan, das Leid, welches durch die Weigerung ausgelöst wird, sie empfinden zu dürfen, wird verneint, und wir begeben uns auf einen intellektuell zwar brillanten, aber auch sehr zerstörerischen Weg. Glücklicherweise ist aber unser Körper immer da, um uns (nach welcher Zeit und welchen Leiden auch immer) wieder auf den rechten Weg zu bringen. Dann hören wir uns aufmerksam zu und respektieren uns. Die Lösung besteht für Patricia darin, ihre Wut zu akzeptieren, sich das Recht zu nehmen, sie in ihrem tiefsten Innern zu empfinden und sie dann auch auszuleben. Patricia war bereit, auf die Botschaft ihres Körpers zu hören, und die Neurodermitis war erst einmal abgeflaut, aber noch nicht ganz verschwunden. Außerdem litt sie nach wie vor immer wieder einmal an Zornausbrüchen.
Als sie ihrer Wut schließlich gestattete hervorzukommen und sie auslebte, erinnerte sie sich an ein Vorkommnis, bei dem sie im Alter von sieben Jahren eine große Wut verspürt hatte, die sie bis dato nicht ausleben konnte. Diese hatte sich gegen ihren Vater gerichtet, der die Familie wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Nachdem sie sich gestattet hatte, auch diese auszuleben, genas sie ganz von ihrer Neurodermitis und hat seither auch keine Zornausbrüche mehr. Erst kürzlich hat sie mir gestanden, dass ihr Körper, den sie so sehr verabscheut hat, zu einem Verbündeten geworden ist. Spiritualität bedeute nun für sie, auf ihren Körper zu hören und ihm Aufmerksamkeit und damit Liebe zu schenken. Das erlaubt ihr im Gegenzug, auch um sich herum Liebe zu verbreiten. Was für eine Freude habe ich empfunden, als ich das hörte und vor allem sah, dass Patricia nun wirklich ein strahlendes Leben führt.
Die Denke kann also verhindern, dass man seine Emotionen ausdrückt. »Wie macht man das, seine Emotionen ausdrücken?«, lautet die Frage, die ich am häufigsten in meiner beruflichen Laufbahn oder bei den Vorträgen zum Thema Emotionen zu hören bekomme. Sie zeugt von dem Abgrund, der uns von dem Zustand trennt, in dem wir uns bei der Geburt befanden. Säuglinge oder Kleinkinder wissen, ohne es von ihren Eltern beigebracht zu bekommen, wie man seine Emotionen ausdrückt: Sie lächeln oder lachen, wenn sie fröhlich sind, vergießen bittere Tränen, wenn sie traurig sind, und schreien, strampeln oder schlagen um sich, wenn sie wütend sind. All das bereitet ihnen keinerlei Probleme und erlaubt ihnen, im Leben vorwärtszukommen, dabei aber immer im gegenwärtigen Moment zu sein. Da jeder Jugendliche oder Erwachsene auch einmal ein Kind gewesen ist, wissen wir folglich alle sehr genau, wie man es anstellen muss: Um zu diesem angeborenen Wissen zurückzukehren, genügt es, die Blockade aufzuheben, die uns davon trennt. Also ist eigentlich folgende Frage wesentlich: »Wie schaffe ich es, mich von der bestehenden Blockade zu befreien?«
Wie drückt man seine Emotionen aus?
Der erste Schritt besteht darin, sich zu erlauben, etwas zum Ausdruck zu bringen. Ohne diese Erlaubnis wird man gar nichts ausdrücken oder ausleben können. Sich das Recht zuzugestehen, etwas auszudrücken, bedeutet, den Teil in uns zum Schweigen zu bringen, der alles blockiert, also die Denke. Diese ist natürlich einmal mehr der Schuldige; sie jubelt unserem Gehirn eine ganze Reihe von Prinzipien, Bemerkungen oder Regeln in Form von Gedanken unter, die alle ein Erbe unserer Erziehung sind: »Es bringt nichts, traurig oder wütend zu sein, die Vergangenheit kann man schließlich nicht ändern«. »Du darfst nicht wütend auf deine Eltern oder Kinder sein, denn sie haben getan oder tun, was sie können«. »Ein Mann weint nicht«. Das sind nur einige Beispiele. Unsere Denke ist sehr geschickt, wenn es darum geht, solche Bemerkungen zu erfinden oder sich daran zu erinnern. So hindert sie uns daran, vorwärtszukommen und uns zu erlauben, Emotionen auszudrücken. Die Denke auszuschalten ist der einzige Weg, sich diese Erlaubnis zu holen. Wenn wir die Denke nicht ausgeschaltet haben, kann kein Gefühl wirklich ausgedrückt werden, denn die Denke ist es schließlich, die ständig versucht, uns von uns selbst fernzuhalten.
In einem OGE-Seminar wird Paul klar, dass er sehr wütend auf seinen Vater ist, der ihm gegenüber immer sehr hart war und ihn oft schlechtgemacht hat. Er möchte diese Wut gern ausdrücken, weiß aber nicht, wie. Deshalb wird Paul die OGE-Methode anwenden, also zuerst einmal seine Denke zum Schweigen bringen, um in einem zweiten Schritt seine Emotionen auszudrücken. Unsere Denke können wir ausschalten, indem wir uns unseres Körpers und unserer Sinneseindrücke bewusst werden, wie es ab Seite 147 beschrieben wird. Unmittelbar im Anschluss wird Paul sich eine Situation vergegenwärtigen, in der sein Vater sich verletzend verhalten und ihn beleidigt hat. Er muss diese Situation als Handelnder erleben und nicht bloß als Zuschauer. Die Szene soll bis zum schmerzlichsten und beleidigendsten Moment durchgespielt werden, bevor er das Bild einfriert und die verletzenden Worte in sich nachhallen lässt, um deutlich die Wut zu spüren, die sich in seinem Bauch und seinem Unterleib ausbreitet. Dann folgt das Ausdrücken dieser Wut: Das können Schreie sein, die er durch Schläge begleiten kann, zum Beispiel auf einen Baumstumpf, gegen einen Baumstamm oder durch das Zusammenschlagen zweier Steine. Paul spürt, wie die Wut bis in seine Kehle aufsteigt. Sobald er sie ganz herausgelassen hat, entspannt er sich deutlich und hat das Gefühl, ganz leicht zu sein und freier zu atmen. Häufig wird diese Befreiung auch von einem tiefen Glücksgefühl begleitet.
Man muss sich aber im Klaren sein, dass die Denke jeden Moment einschreiten und den Prozess blockieren kann. Wie bereits erwähnt, kann sie es so einrichten, dass Paul sich gar nicht wirklich auf die Situation einlässt, sondern nur Zuschauer bleibt. Das würde ihn daran hindern, seine Wut körperlich zu empfinden. Sie kann das Ausdrücken der Wut an sich blockieren, indem sie zwar zulässt, dass Paul die Wut auf seinen Vater beim Namen nennt, ihm dann aber verbietet, wirklich zu empfinden, was er tief drinnen verspürt, nämlich den Wunsch, sein Vater möge aus dieser konkreten Situation verschwinden. Wir sehen: Die Denke ist sehr mächtig. Aber Paul kann ans Ziel gelangen, indem er sie bei jedem Auftauchen zum Schweigen bringt, denn jeder ihrer Auftritte würde sich durch körperliche Anspannung ankündigen.
Wut gegenüber den Menschen zu empfinden, die wir am meisten lieben, kann eine schlimme Erfahrung sein und ist es häufig auch. Da können wir schon einmal Lust haben, jemandem »den Hals umzudrehen«, ihn zu »verprügeln«, ihn zu »töten«. Das ist eine Tatsache, und ich wette mit jedem, dass er so etwas schon einmal empfunden hat, und sei es auch noch so flüchtig. Sicher, es mag traurig oder bedauernswert sein, aber warum sich selbst (und anderen!) etwas vormachen, statt die Realität zu akzeptieren: Wir haben eben manchmal Lust, den oder die umzubringen, die uns Leid zufügen oder zugefügt haben. Diese Gefühle existieren, und das nicht zu akzeptieren hat verhängnisvolle Folgen: anhaltende körperliche Spannungen, die ihrerseits zu Unwohlsein, Beschwerden und Krankheiten führen können. Dadurch werden auch Energien blockiert, und wir werden daran gehindert, nach vorn zu schauen. Was uns bleibt, sind Bitterkeit und Groll. Ein Mensch, der diese beiden Empfindungen in sich trägt, hat eine sehr negative Ausstrahlung und kann jederzeit zu Gewalt neigen, beispielsweise in Form eine Zornausbruchs. Kurz gesagt: Nicht zu akzeptieren, dass unsere Wut uns dazu bringen kann, den Tod des Anderen zu wünschen, führt zu Gewalt gegen uns selbst und zu Gewalt gegen den Anderen. Die Denke mischt bei diesem Nicht-Akzeptieren erneut mit, denn sie flüstert uns ein, dass das Verlangen, den Auslöser unserer Wut zu töten, »nicht gut ist«. Sicher ist es indiskutabel, diesen Anderen tatsächlich umzubringen, und ich möchte wahrlich niemanden dazu ermuntern. Aber sich zu erlauben, diesen Wunsch zu empfinden und das für sich allein auch auszudrücken, ohne dass der Andere dabei ist, ist begrüßenswert und kann nur guttun – sowohl demjenigen, der wütend ist, als auch dem Anderen. Sich zu gestatten, diese Wut auszuleben, ist ein Beweis der Liebe zu sich selbst, und gleichzeitig öffnet man sich dem Anderen gegenüber. Sobald die Wut einmal ganz ausgelebt ist, kann man sich offen mit dem Anderen austauschen. »Wir können uns nicht lieben, achten, verstehen, wenn wir die Botschaften unserer Emotionen wie etwa der Wut ignorieren. Dennoch gibt es eine ganze Reihe ›therapeutischer Regeln‹ und Techniken zur Manipulation der Emotionen.«3
Die Moral, hinter der viele Wohlmeinende sich verstecken, ist nur eine weitere Facette der Denke. »Du sollst nicht töten« bedeutet, dass wir den Anderen respektieren und ihn nicht angreifen sollen, aber auch, dass wir nicht die Absicht haben sollen, es tatsächlich zu tun. Das bedeutet nicht, wie die Zensoren gerne behaupten, dass man keine Wut empfinden darf. Nun hat sich aber gezeigt, dass uns diese Interpretation häufig aufgedrängt wurde und noch aufgedrängt wird. Eine modernere, aber genauso schädliche Version wird von anderen »Experten« vertreten: Es ist schlecht, seiner Wut auf jemanden Ausdruck zu verleihen, denn das führt zu einem für die betroffene Person gefährlichen Transfer negativer Energie. Was bereits beschrieben wurde, ist eine klare Antwort auf diese Art Argument, bei dem es sich ja wieder nur um eine Schöpfung der Denke handelt, die nicht der Wahrheit entspricht. Diese beiden Beispiele sind bezeichnend für eine Tendenz, die fest in vergangenen und gegenwärtigen Bewegungen verankert ist: Man soll alles tun, um nichts zu empfinden (vor allem keine Wut) und sich folglich das Recht auf das eigene Dasein verweigern. All das im Namen der universellen Liebe oder was auch immer. Was für Lügen und was für eine Gefahr für den Einzelnen, der diesen Illusionsverkäufern in die Falle geht! Seit vielen Jahren erlebe ich in meiner Praxis alltäglich die schädlichen Folgen dieser Theorien. Einem Menschen seine Empfindungen und deren Ausdruck und Ausleben zu verbieten, bedeutet, ihn daran zu hindern, sich das Schönste zu geben, was er sich schenken kann: Liebe.
Viele Menschen, die sich damit brüsten, die buddhistische Philosophie zu leben, weigern sich auch, »den zerstörerischen Teufelskreis der Wut zu betreten«. An dieser Stelle erlaube ich mir, folgende Zitate anzuführen: »Buddha hat uns nie angewiesen, unsere Wut zu unterdrücken«4, und: »Manche Menschen interpretieren die buddhistischen Lehren über die Nachteile des Ärgers so, als dürften wir uns nicht mehr ärgern, oder so, als wären wir schlechte Menschen oder Sünder, wenn wir es doch tun. Das hat der Buddha nie gesagt.«5 Zugegeben, der im Folgenden von mir beschriebene Umgang mit dieser Emotion unterscheidet sich von dem, was die buddhistischen Lehrer, von denen diese Zitate stammen, in ihren Schriften vorschlagen. Ihr Ziel ist es, die »negative Energie« zu beherrschen und in »positive Energie« umzuwandeln. Die Ausübung des achtsamen Bewusstseins (achtsames Atmen und Gehen) deckt sich mit dem, was im vorliegenden Buch mit dem Ausschalten der Denke gemeint ist, und die Verwandlung in positive Energie ist eine sehr theoretische Vorstellung, die aber das gleiche Ziel hat: Liebe.
Manche Menschen wenden ein, dass man die Wut »am Leben hält«, wenn man sie zum Beispiel durch Schläge auslebt, statt sie zum Verschwinden zu bringen. Diese Technik helfe dem, der sie ausübt, nicht, die Energie der Liebe zu erreichen. Wenn ein Mensch eine solche Übung praktiziert, ohne zuvor seine Denke ausgeschaltet zu haben, dann hält er seine Wut sicher am Leben, denn er steht nicht in Kontakt mit der Emotion und kann sie deshalb weder empfinden noch ausleben. Folglich kommt es zu einem Prozess des Ausharrens, der negativ ist. Wenn er aber auf seinen Körper hört, wird dieser ihm sofort zu verstehen geben, dass er falsch handelt, was sich in einer fortwährenden körperlichen Anspannung zeigt. Er muss seine Denke zum Schweigen bringen, um die Emotion wirklich empfinden und ausdrücken zu können. In diesem Moment spürt er die tiefe körperliche Entspannung und die Energie der Liebe. Jemandem zu empfehlen, die Emotion nicht auszuleben, ist in meinen Augen – und das wird durch jahrelange Erfahrung bestätigt – nur eine weitere höchst illusorische Form, dieses Problem anzugehen.